Kategorie: Feuilleton

Was macht gute Buchgestaltung aus?

Bereits vor circa fünf Jahren versuchte mich ein Freund für die Büchergilde Gutenberg zu werben. „Du kaufst sowieso mehr als ein Buch pro Quartal. Mit einer Mitgliedschaft erhälst Du dazu exklusiv Bücher in bibliophiler Ausstattung, viele Klassiker werden neu aufgelegt, illustriert etc. pp.“

Ich war zunächst skeptisch, denn viele der mir präsentierten Bücher fand ich nicht besonders ansprechend. Den Ausschlag für meine Mitgliedschaft gab dann aber die Tatsache, dass Tod im Paradies von Alberto Dines über die letzte Lebenszeit Stefan Zweigs in Brasilien quasi nur noch über die Gilde zu beziehen war. Nun aber über zwei Jahre und etliche Büchergilde-Bücher später habe ich meine Mitgliedschaft, hauptsächlich aus zwei Gründen, überdacht. Weiterlesen

Was willst Du mehr?

Bei dem Treffen der Paten der Leipziger Buchmesse erschienen, wie berichtet, u.a. die drei Preisträger und viele der weiteren Nominierten und waren zum großen Teil uns Bloggern gegenüber sehr aufgeschlossen. Ich war informiert worden, dass auch Klaus Binder, der Übersetzer von Lukrez, sein Kommen angekündigt hatte. Nicht im klassischen Sinne aufgeregt war ich, sondern vielmehr gespannt auf den Austausch und etwas sorgenvoll, ob der kritischen Nachfragen, die kommen könnten, schließlich hatte ich offen mit meinen mangelnden Lateinkenntnissen kokettiert und bin auch kein versierter Philosophiekenner. Doch Herr Binder kam nicht. Nachts erhielt ich stattdessen eine Email, die ich in Ausschnitten veröffentlichen möchte.* Weiterlesen

Bloggerpate

Ich hatte zu dieser Buchmesse in Leipzig die Freude – die war es! – Bloggerpate zu sein. Ob es eine Ehre war, weiß ich (noch) nicht. Evaluieren wir:

Ausgangssituation
Als ich vor fast drei Jahren 54books startete, war es bereits kein Problem mehr für die Buchmesse in Frankfurt oder Leipzig ein Akkreditierung zu erhalten. Der Presseausweis erlaubte den freien Eintritt an allen Messetagen, die Nutzung von speziellen Räumen, Parkplätzen etc. pp. In dieser Welt waren die Blogger nicht akzeptiert, aber zumindest geduldet.

In diesem Jahr wollte die Leipziger Buchmesse vieles anders und sollte auch vieles richtig machen. Jeder Nominierte für den Preis der Messe erhielt einen Blogger als Pate. Die Blogger hatten sich hierfür mit Hilfe eines einfachen Fragebogens zu bewerben und aus knapp 80 Bewerbungen wurden 15 ausgewählt. Die Paten erhielten das zugeteilte Werk in zweifacher Ausführung, eine Einladung zur Eröffnung im Gewandhaus mit anschließendem Empfang und eine Pressekarte für die Preisverleihung selbst. Auf der Messe selbst gab es, nicht nur für die Paten, einen eigenen Bereich, die Bloggerlounge, mit freiem W-Lan und Kaffee, günstigeren Snacks als auf dem Rest der Messe, Arbeitsplatz und Ruhe. Leipzig war hier ein Vorreiter und dies ist schon zu loben.

Trotzdem gab es bereits im Vorfeld Kritik. Bei Facebook wurde unter Paten und Außenstehenden diskutiert, warum sich Blogger für diese verhältnismäßig geringe Gegenleistung vor den Werbekarren der Messe spannen lassen. Wäre es nicht adäquat den Paten für den Zeitraum der Messe oder zumindest der Eröffnung und Preisverleihung auch eine Aufwandsentschädigung zu zahlen, wie viel Gratiskaffee muss man konsumieren, um Hotel- und Reisekosten wieder einzuspielen?

Für mich und, wie ich in persönlichen Gesprächen erfahren habe, wohl die meisten Paten stand bereits vor der Ernennung der Messebesuch fest, ein Zuschuss im Sinne von einigen wenigen Vergünstigungen nahm man gerne mit, mehr zu verlangen, ist in dieser Gratisbranche nicht üblich. Die Frage, ob man nun Geld für eine Rezension zu einem bestimmten, nicht selbstgewähltem Buch und die Eröffnung von Reichweite für Werbung hätte fordern können, sollen, müssen, kann ich hier ebensowenig beantworten, wie die Diskussionen im Facebook und vis à vis dies konnten. Stattdessen möchte ich lieber einige andere Aspekte der Messe und Patenschaft beleuchten.

Begegnung mit Verlagen
Zu Beginn dieser Seite bin ich auf Verlage zugegangen, fast immer netter Kontakt, die Aufnahme in etliche Presseverteiler und die Möglichkeit Rezensionsexemplare zu bestellen, die Folge. Inzwischen, und das fiel mir bei dieser Messe besonders positiv auf, wenden sich Verlage an Blogger. Mehrere Termine waren nicht auf meine Initiative, sondern auf die der Verlage zurückzuführen. Man sitzt beisammen und hier ist die Augenhöhe, die einem von der klassischen Presse verwehrt wird. Bei Manesse und der DVA nehmen sich Verleger, Pressechefin und Lektorat die Zeit mit knapp zehn Bloggern in Austausch zu treten. Während die eine Hälfte zum letzten Termin des Tages aufbricht, lädt Manesse Verleger Dr. Horst Lauinger zum Sekttrinken, der auch Peer Steinbrück, auf meine dreiste Einladung hin, folgt.

Foto: Jochen Kienbaum
Foto: Jochen Kienbaum

Der Suhrkamp Verlag, der ungebrochen viel Aufmerksamkeit im klassischen Radio- und Zeitungsfeuilleton erhält, lädt Blogger zum Kennenlernen einzeln an den Stand, denkt wie Kiepenheuer & Witsch, DuMont oder Hanser darüber nach mehr Aktionen speziell für Blogger zu organisieren, aktiv auf diese zuzugehen. Dies tun sie nicht nur, wie Argwöhner sofort bemängeln werden, um günstige Werbung abzugreifen – die bekommen sie in der klassischen Presse auch – sondern weil der Einfluss dieser ab- und der der Blogger zunimmt.

Begegnung der Paten
Ganz anders und am Anfang sehr ernüchternd verläuft dagegen das Aufeinandertreffen der Nominierten und Paten in der Bloggerlounge. Obwohl eine erfreulich große Anzahl von Autoren und Übersetzern, inklusive der drei Preisträger, erscheinen und sich den Fragen der Mitorganisatorin und Moderatorin Vera Lejsek stellen, geben fast alle sehr offen zu, dass sie von der Patenaktion erst sehr spät – wenn überhaupt – von ihren Verlagen gehört haben und Literaturblogs ihnen zumeist fremd sind. Aber nicht etwa, weil sie hieran kein Interesse hätten, nein vielmehr weil sie über diese gar nicht informiert werden.

Im Gespräch nähert man sich indes immer weiter an, auch weil das Treffen, trotz Podium, ohne jeden Zwang und offen abläuft. Übersetzungs-Preisträgerin Mirjam Pressler ist völlig begeistert von der Aktion und einer Nische der Literaturkritik, die sich ihr bisher entzogen hat. Die Nominierten und Preisträger haben am Ende viel mehr Fragen an die Blogger als umgekehrt. Vor allem Fragen nach der Zeitintensität und wie diese zu bewältigen ist, nach der Motivation ohne pekuniäre Gegenleistung zu schreiben und nach Rezensionsstilen beschäftigen Autoren und Übersetzer gleichermaßen.

IMAG4221Tolle Beispiele für das Potenzial des Modells Bloggerpaten gibt es bereits im ersten Jahr. Tobias Nazemi von Buchrevier hatte im Vorfeld der Messe Kontakt mit Jan Wagner, dem sehr sympathischen Preisträger im Bereich Belletristik, ein Interview kam per Telefon zustande und Tobias hat sich so für Jan gefreut, als sei er selbst ausgezeichnet worden. Nach dem offiziellen Teil stehen sie gemeinsam in einer Ecke und plaudern. Glänzendes Beispiel für den Austausch ist ebenso der Älteste der Nominierten Moshe Kahn. Fast freundschaftlich winken Mara und er sich zu, als er kommt. Sie hatten mehrfach Kontakt, Moshe Kahn hat sogar im Blog kommentiert, ihr von den Schwierigkeiten der Übersetzung und dem Lesen des 1500 Seiten starken, arg verschachtelten Roman Horcynus Orca, erzählt. Besser geht es nicht!

Die Autoren und Übersetzer wussten also leider fast nichts von den Patenschaften und sind umso begeisterter. Was wäre möglich gewesen, wäre im Vorfeld anders kommuniziert worden? Daher muss diese Aktion wiederholt werden, nur unter anderen Vorzeichen! Die Autoren wollen – zum Großteil – sogar einbezogen werden, sind neugierig und haben Spaß daran mit uns zu arbeiten.

[Warum nun gerade die Verlage, die ich oben ausdrücklich für Transparenz und Einbeziehung gelobt habe, eine deutlich größere Aktion als normale Besprechungen nicht anders kommuniziert haben, ist mir ein Rätsel.]

“Ich werde mich nachher informieren, wie ich in die Bloggerszene komme, ich finde das toll.“ Mirjam Pressler

— 54Books (@fiftyfourbooks) 13. März 2015

Der Unterschied
Blogger begreifen ihr Tun als Spaß, als Hobby und arbeiten daher mit der intrinsischen Motivation nicht für Geld zu schreiben (schreiben zu müssen), sondern aus Freude an und Liebe zur Literatur. Bei einigen Buchbloggern führt das zu kindlichem und jugendlichem Überschwang, der sich nicht selten in völlig inhaltslosen „Klappentext + Ich habe das Buch verschlungen“-Rezensionen niederschlägt, bei den ernstzunehmenden Literaturbloggern zu Leidenschaft und fundierten Besprechungen.

Eins ist klar: allein der wirtschaftliche Unterbau und die Vermarktung trennt Blogger und klassische Presse weiterhin und bis auf weiteres. Warum unsere Besprechungen aber per se von minderer Qualität sein sollen, legt niemand schlüssig dar. Diese These, die viele Journalisten als Monstranz vor sich her tragen, wird leider viel zu selten in den klassischen Medien mit Leistung gerechtfertigt. Die Blogger – und das zeigt diese Messe eindrucksvoll – sind nicht nur auf Augenhöhe mit den Journalisten klassischer Medien, sondern ihre Arbeit ist teilweise sogar besser, man sehe sich nur diese Beiträge an.

Über die Natur der Dinge

Mein Patenkind ist sehr alt, hat aber ein anmutiges Äußeres.

Die Leipziger Buchmesse hat dieses Jahr Blogger eingeladen die Verleihung des Preises ebendieser zu begleiten. Hierzu wurden per Aufruf Paten gesucht, die jeder eines der insgesamt 15 Nominierten (je 3x fünf Bücher aus den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung) unter ihre Fittiche nehmen sollten. Die Wahl der Jury fiel auch auf mich und man band mir diesen 2000 Jahre alten Schinken ans Bein. Wehe dem, der sich Klassiker auf die Fahnen schreibt.

Weniger schrecken mich Umfang oder Sprache als die Schwierigkeit einem philosophischen Werk mit derartigem Ruf gerecht zu werden. Entgegen meines eigentlichen Vorhabens mich erst mit massig Sekundärliteratur auszurüsten und vorzuinformieren, nehme ich mir Über die Natur der Dinge in der Neuübersetzung von Klaus Binder erschienen bei Galiani Berlin ohne Einarbeitungsphase vor.

Doch man wird zum Glück nicht direkt in den Text gestoßen, sondern von Stephen Greenblatt kurz aber informativ in das Werk eingeführt, Klaus Binder erklärt vor dem Start noch warum Lukrez lesen und wie, dann kann es losgehen. Vorwort und Kommentare regen immer wieder, der Leser solle sich auf den Text einlassen. Also hinein.

In medias res

Lukrez schreibt an und für Gaius Memmius, den Spross einer alten römischen Aristokratenfamilie und legt ihm in sechs Büchern seine stark an Epikur angelehnte Philosophie dar. Er beginnt mit den Urelementen und erklärt den Aufbau der Welt: Atome und Leere, sonst nichts. Anhand von vier Lehrsätzen wird die Basis des Verständnisses des Buches und der gesamten Philosophie Lukrez‘ in nuce dargelegt.

  • Aus Nichts entsteht nichts.
  • Alle Materie besteht aus kleinen Partikeln.
  • Gibt es Körper, muss es auch Leere geben.
  • Eigenschaften und Ereignisse, beide sind von Körpern nicht zu lösen.

Dem Du des Lesers dröselt Lukrez geduldig die Lehre Epikurs auf und legt dar: Das Universum besteht aus Atomen und Leere – das war’s. Es gibt keine mysteriösen, religiösen Urkräfte, die geschaffen haben. Obwohl Lukrez wohl an die Existenz von Göttern geglaubt hat, sprach er ihnen sämtlichen Einfluss auf die Gestaltung der Welt ab. Gott ist zwar nicht tot, aber er kann nichts. Nach Beweis der Grundlagen seiner Philosophie zerlegt er noch schnell etwaige andere Ansichten von Heraklit und Genossen, Empedokles und Anaxagoras und schreitet in großen Schritten voran die Welt bis ins Kleinste zu entschlüsseln.

Bereits auf den ersten Seiten wird klar, dass vor zweitausend Jahren ein Mensch gelebt hat, der viele Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft vorausgeahnt hat, sogar die Grundzüge des Darwinismus hat Lukrez vorweggenommen, denn seiner Ansicht nach entstand der Mensch nur als Ergebnis des sich immer wieder paarenden Zufalls, der Verbindung der Urelemente. Erschreckend und erstaunlich in wie viel der Autor “einfach” richtig lag. Und doch ist Lukrez vielmehr Denker als Prophet. In den folgenden Büchern werden Seele und Sinne, Liebe und Tod, Natur- und Menschengeschichte, das Werden der Welt und ihre Vergänglichkeit erörtert.

Weil der Autor seinen Adressaten duzt, fühlt sich der Leser immer wieder direkt angesprochen und sich so in den Text einbezogen. Die reichen Kommentare Binders zu Wirkungsgeschichte, Übersetzung, Hintergrund, Geschichte und Rezeption vermitteln das Gefühl der Übersetzer würde in Dialog mit dem Leser treten, als würde man das Werk gemeinsam erschließen.

Gott ist zwar nicht tot, aber er kann nichts

Es gibt wenig was so früh der christlichen Schöpfungsgeschichte derart zuwider gelaufen ist und damit lässt sich auch der Hass Vieler über Jahrhunderte und -tausende erklären, den Lukrez auf sich zog. Ein Gott ohne Macht kann auch keine Angst erzeugen, das Geschäft der Kirche bis in die Neuzeit hinein beruht(e) aber auf dem Schüren von Ängsten – ohne Gott, Teufel und Fegefeuer auch schlechter Absatz von Ablass.

Die zwangsläufigen Gegner des Philosophen versuchten sein Werk zu vernichten und attestierten ihm eine Geisteskrankheit. Im Mittelalter war Lukrez‘ daher nahezu vergessen, bis Poggio Bracciolini 1417 in einem deutschen Kloster die letzte erhaltene Abschrift von De rerum natura entdeckte und die Leser und Bewunderer über Jahrhunderte Namen wie Montaigne, Marx und   Diderot trugen. Einstein schrieb für die Übersetzung Diehls das Vorwort, die Übersetzung durch von Knebel wurde von Goethe angeregt. Die Gründe für die Wiederentdeckung und hymnische Verehrung nennt Greenblatt im Vorwort: die leidenschaftliche Kraft des lukrezschen Denkens, die ungeheure Sprachgewalt seiner Dichtung, ihre wunderbaren Metaphern, ihre stilistische Raffinesse, machten es schier unmöglich, diesen Text einfach zu übergehen.

Ein Lehrgedicht in Prosa.

Eigentlich wollte ich mir den Spaß gönnen, mein seit zehn Jahren nicht, außer zum Hinweis auf meine mangelnden Mathekenntnisse (iudex non calculat), genutztes Latein zu prüfen. Aber bereits der Anfang der von mir erwählten Stelle lässt mich zurückschrecken:

Tum porro quoniam est extremum quodque cacumen
corporis illius, quod nostri cernere sensus
iam nequeunt, id ni mirum sine partibus extat
et minima constat natura nec fuit umquam

Statt mich im Internet bloßzustellen, lasse ich den Google Übersetzer ran, der zumindest die Vokabeln alle kennt:

Dann ist wieder, daß das Ende jedes Gipfels
dieses Körpers, zu sehen, welche der Sinn ist unser
, die sich nicht mehr, die nicht die überraschende Teil war ragt ohne
und er zu den kleinsten der Natur war zu keinem Zeitpunkt ist offensichtlich,

Bereits die Kommasetzung ist eigen, der Text natürlich, wenig überraschend, unverständlich. (Besondere Freude bereitet es übrigens, wenn man Google den Originaltext mit italienischem Akzent vortragen lässt!) Es wird besser liest man eine richtige Übersetzung*:

Da nun ferner ein äußerster Punkt in jeglichem Körper
Da ist, den mit dem Auge wir keinesweges erfassen,
Muss unteilbar er sein, das Kleineste seiner Natur nach.
Niemals hat er besonders für sich als Körper bestanden,
Kann auch nie so bestehn, er ist ja selber des andern
Erster und letzter Teil: es reihen dann ähnliche Teilchen
Eins an das andre sich an und füllen, zusammen in einen
Dichten Haufen gedrängt, des Körpers ganze Natur aus.

Immer noch ziemlich kryptisch was Karl Ludwig von Knebel übersetzte, was Hermann Diel wie folgt verarbeitete:

Weil nun ein äußerster Punkt bei jenem Urelemente
Ist, das unseren Sinnen schon nicht mehr zu schauen vergönnt ist,
So kann dieser natürlich nicht weitere Teilchen besitzen,
Sondern ist schlechthin das Kleinste, das nie für sich hat bestanden
Als selbständiger Teil und nie als solcher bestehn wird.
Denn es ist selbst nur des anderen Teil, und zwar nur das eine
Erste, wie andere dann und andere ähnliche Teilchen
Dicht aneinander sich reihen, um so das Atom zu gestalten.

Beides natürlich viel gefälliger als Google oder ich das könnten, aber immer noch beschwerlich. Nun aber aufgepasst. Klaus Binder hat die Ehre:

Für jedes Urelement gibt es stets einen äußersten Punkt, den unsere Sinne längst nicht mehr wahrnehmen können, und dieser kann nicht mehr teilbar sein: Er ist tatsächlich das Allerkleinste. Diese Minima allerdings haben niemals als Ding selbstständig für sich bestanden, werden dies auch niemals tun, denn sie sind ja selbst uranfängliches, zugleich einheitliches Teil von etwas anderem.

Binder selbst spricht von einer Übertragung nicht von einer Übersetzung. Dies ist allein schon daher notwendig, da er die Lyrik in Prosa auflöst und zu dieser Entscheidung kann man nur gratulieren. Den Sprachfluss des Lateinischen Originals wird man zweitausend Jahre später nicht ins Deutsche übertragen können und die Transposition in eine verständliche, aber angemessene Prosasprache tut Werk und Inhalt spürbar gut. Schlussendlich verliert die Sprache Lukrez‘ nichts, sondern scheint vielmehr durch die poetisch, bildhafte Sprache Binders zu gewinnen.

Sieh nur genau hin, wenn die Sonne in einen dunklen Raum zu dringen vermag und ihr Licht in einzelnen Strahlen durch diesen sendet: Viele winzige Stäubchen wirst du sehen, wie sie sich im leeren, vom Licht hellen Raum mischen auf vielerlei Weise: Als lägen sie in endlosem Streit, kämpften pausenlos miteinander in immer neuen Verbänden, angetrieben zu immer neuer Verknüpfung und wieder Trennung. Dies mag dir eine Vorstellung davon geben, wie es sich verhält mit den Urelementen, die im leeren Raum in unaufhörlicher Bewegung begriffen sind.

In der Übersetzung Diels dagegen erkennt man zwar die Schönheit der Sprache, die Aussagekraft des Bildes, aber sie bleibt meiner Meinung nach hinter der Übertragung Binders zurück, der es schafft die Lesbarkeit zu steigern und trotzdem Fluss und Sprache zu erhalten.

Folgendes Gleichnis und Abbild der eben erwähnten Erscheinung
Schwebt uns immer vor Augen und drängt sich täglich dem Blick auf.
Laß in ein dunkeles Zimmer einmal die Strahlen der Sonne
Fallen durch irgendein Loch und betrachte dann näher den Lichtstrahl:
Du wirst dann in dem Strahl unzählige, winzige Stäubchen
Wimmeln sehn, die im Leeren sich mannigfach kreuzend vermischen,
Die wie in ewigem Kriege sich Schlachten und Kämpfe zu liefern
Rottenweise bemühen und keinen Moment sich verschnaufen.
Immer erregt sie der Drang zur Trennung wie zur Verbindung.
Daraus kannst du erschließen, wie jene Erscheinung sich abspielt,
Wenn sich der Urstoff stets im unendlichen Leeren beweget,
Insofern auch das Kleine von größeren Dingen ein Abbild
Geben und führen uns kann zu den Spuren der wahren Erkenntnis.

Und Binder selbst erklärt den Zauber in den wunderbaren Worten Lukrez lesen heißt, (wieder) lernen, sich solchem Taumel und Tanz [der Sprache] zu überlassen. Gibt aber zugleich zu bedenken, dass es sich nicht um Lektüre für Minuten handelt, denn dazu ist uns dieser Text wirklich zu fern, manches wissen wir trotz unserer historisch kaschierten Sinnlichkeit tatsächlich besser, vieles ist nicht für unsere Zeit geschrieben. […] Es geht einzig und allein um den Bewegungs-, den Vorstellungsraum, der sich öffnet, wenn man sich mit Lukrez auf die Reise begibt. Es geht um die Bilder, die uns beim Lesen auftauchen; es geht um lebenspraktische Schlüsse, die wir ziehen, mal von Leselust und ästhetischem Vergnügen angestoßen, dann auch erschreckt; es geht zuletzt darum, dass wir unseren Sinnen, ihren Affekten und Defekten, nicht mehr in jedem Augenblick allein mit Misstrauen oder, von unseren Fetischen geblendet, mit blinder Hingabe begegnen. Besser und treffender ist es nicht auszudrücken, wie beeindruckend sich die Lektüre dieses Wunderwerks auf den Leser auswirkt.

Schmier mir Honig auf den Becher

Ein Lob zuletzt auch dem Galiani Verlag, nicht nur für den verlegerischen Mut und das Vertrauen in Klaus Binder dieses Buch zu wagen, sondern auch für die hervorragende Ausstattung. Nur fehlt ein zweites Lesebändchen, Faulheit im Blättern verleitet doch sonst allzu häufig den umfangreichen Kommentar gar nicht gebührend zu nutzen.

Lasst euch auf Lukrez und Über die Natur der Dinge ein, Binder nimmt euch an die Hand: Ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern durcharbeitet, ein Projekt, ein wunderschönes, immer wieder.

Liegt Ärzten am Herzen, Kindern bitteren Wermut zu geben, streichen sie um den Rand des Bechers süßen, gelb fließenden Honig, und die Arglosen, dazu gebracht, den Becher mit ihren Lippen zu berühren, trinken den herben Wermutsaft – getäuscht werden sie, doch nicht betrogen, denn so, durch dieses Mittel, finden sie erneut zu Kraft und Gesundheit. Das habe auch ich im Sinn. Herb erscheint auch unsere Lehre allen, denen sie nicht im Ganzen entfaltet wurde, zurückschrecken lässt sie das Volk. Darum mein Wunsch, dir meine Gedanken in wohlklingendem Gesang nahezubringen, gleichsam versüßt mit dem Honig der Musen. Möge es mir durch meine Verse gelingen, dich, deinen wachen Geist zu fesseln, bis du die Natur der Dinge im Ganzen erfasst hast und du sie vor die siehst in Form und Gestalt.

*Achtung: Die gewählten Stellen stimmen nicht haargenau überein. Ich habe die Zitate so gewählt, dass sich innerhalb desselben ein Sinn ergibt, so dass man die Sprache des Übersetzers erkennt. Das Zitat sollte in sich schlüssig sein und nicht (nur) zum 1:1 Vergleich dienen.

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Eine andere Form – ein neues Medium

Im Herbst letzten Jahres schrieb mich Nikola Richter, die Verlegerin vom mikrotext Verlag, an, ob ich denn auch eBooks besprechen würde und sie mich auf ihren Verlag und eine Publikation aufmerksam machen würde. Pflichtbewusst teile ich also freundlich mit, dass ich ja eigentlich und so weiter, aber dann doch interessiert sei. Denn wer die Augen auf der Branche hat, dem ist Nikolas Arbeit nicht entgangen. Zuletzt mit dem ersten Young Excellence Award des Börsenblatts als herausragende Macherin der Buchbranche ausgezeichnet, verlegt die Autorin eBooks, die nicht als Konkurrenz zum Gedruckten, sondern als selbstständiges Medium wahrgenommen werden wollen.

„Es sind bestimmte Formate, etwa im Netz geschriebene Texte, aktuelle oder wegen ihrer Kürze nicht druckfähige Schubladen-Texte digital viel besser zu veröffentlichen.“ Ihr geht es um die ästhetische Erfahrung, wenn ein Text gut geschrieben ist. „Da brauche ich kein Papier.“

So erklärte Nikola ihr Credo der Morgenpost nach Verlagsgründung. Und fährt fort.

„Ich muss so gute Bücher machen, dass die Leute, die noch nie ein E-Book gelesen haben, das lesen wollen und diese Hürde, die sie innerlich aufgebaut haben: ‚E-Lesen ist schrecklich‘, dass sie diese überwinden.“

Und genau das gelingt ihr. Heike Geißlers Text über ihre Arbeit in der Weihnachtszeit bei Amazon in Leipzig oder Stefan Adrians Drinklyrik Gin des Lebens sind nur zwei Beispiele für Textformen, die womöglich auch bei klassischen Verlagen in gedruckter Form erscheinen könnten und es doch nicht tuen. Lyrik hat es bei Verlagen und Publikum traditionell schwer, kleine und Kleinstauflagen rechnen sich selten, bei eBooks aber, sind sie erstmal erstellt, sind in der Welt, egal in welcher Zahl. Dagegen könnte ein Text über ein saisonales Thema, wie der Heike Geißlers, der im „Bedarf“ ein Stück weit von der Jahreszeit abhängig ist, auf dem herkömmlichen Wege erst so spät erscheinen, dass er  gerade keine Leser fände oder im nächsten Jahr vielleicht schon wieder überholt wäre. Genau für solche Projekte sind eBooks perfekt. [Korrektur: Heike Geißlers Text Saisonarbeit – Volte #2 ist tatsächlich zuerst beim Leipziger Verlag Spector Books erschienen, was zwar mein Argument schwächt, aber nicht ganz unsinnig macht.]

Welches Potenzial in dieser Form schlummert zeigt immer wieder auch Christiane Frohmann vom gleichnamigen Verlag. 1000 Tode schreiben heißt die Anthologie, die Christiane in vier Versionen herausbringt. Allein das nahezu aberwitzige Unterfangen tausend Autoren in einem Buch unterzubringen, die ihr Texte nicht nur recyclen können (aber dürfen), sondern zum Teil erst schreiben müssen, ist mit einem einzigen Abgabetermin nicht zu bewältigen. Also wurde dieser eher kurzfristiger gewählt, welche Texte bereits vorlagen wurden veröffentlich, die späteren folgen in Etappen. Eer die erste Version des eBooks mit 135 Texten erwarb, erhält immer bei Erscheinen des Updates dieses kostenfrei – bei einem gedruckten Buch undenkbar! Dazu bietet diese Veröffentlichungsform dem Leser immer wieder Anreiz in diese sagenhafte Sammlung zu blicken, neue und alte Texte zu entdecken – 1000 Texte auf einen Schlag hätte wohl sowieso die meisten überfordert oder abgeschreckt. In der ersten Version tummeln sich bereits bekannte Namen wie Rafael Horzon oder Pia Ziefle, Clemenz Setz oder Daniela Seel, David Wagner, Isabel Bogdan oder Stefan Mesch, weitere werden folgen. Der Gewinn der Produktion geht dazu an ein Kinder Hospiz in Berlin, vorbildlich!
(Eine Besprechung des Buchs findet ihr auch bei Sophie.)

Ähnliche Verlage, wie die von Christiane und Nikola, gibt es inzwischen immer mehr: CulturBooks von Jan Karsten und Zoë Beck verlegen ebenfalls eBook-only, Das Beben bringt die Novelle zurück, es gibt Projekte wie A Story A Day oder Fiktion. Alle diese Unternehmen werden von Menschen betrieben, denen die Literatur am Herzen liegt, alle Produktionen sind sorgfältig verlegte Bücher und Geschichten. Eine goldene Nase hat dort niemand und wird sie sich auch so schnell nicht verdienen, es handelt  sich um die Arbeit von Idealisten.

Ich würde nie auf die Idee kommen meine Lektüre gedruckter Bücher einzustellen und auf das eBook umsteigen, ich würde, vor die Wahl gestellt, nie das eBook wählen, gäbe es auch Papier – aber es gibt Texte, die anders nicht veröffentlicht werden würden, obwohl sie es verdient haben. Um zu sehen was das eBook kann, sollte man die Publikumsverlage ausblenden und zu den eBook-only Verlagen surfen, hier gibt es die neue Art zu lesen, alles andere ist nur die schlechte Kopie eines Buches.

(Ausnahmen bestätigen die Regel, auch Publikumsverlage verwerten nicht ausschließlich ihre bereits gedruckten Werke: die Hanser Box enthält jeden Mittwoch einen Text eines Hanser Autoren, der exklusiv digital erscheint; derweil schraubt Karla Paul bei Hoffmann und Campe an dem digitalen Baby 1781.)

Nikolas Verlagsprogramm kann man inzwischen als Abo erwerben:

1000 Tode schreiben könnte ihr unter anderem hier erwerben:

Kein CoverChristiane Frohmann: 1000 Tode schreiben
eBook Version 1/4
EPUB, ohne DRM
Frohmann Verlag, Berlin 2014 Buch bestellen

Memo zweier Leben in Berlin

Foto: Norman Weiß
Foto: Norman Weiß

Eigentlich ist es müßig nun auch noch in eines dieser Hörner zu stoßen, von denen gestern bereits der Speichel von Biller, Weidermann, Mangold, Dath, Ungerer, Stahl, Bartels und Konsorten troff. Erster Stein des Anstoßes war wohl Florian Kesslers Kommentar in der ZEIT, in dem er monierte, dass nur Kinder der oberen Mittelschicht heutzutage die deutsche Gegenwartsliteratur bevölkern. Biller schließt sich, ohne sich direkt auf Kessler zu beziehen, an, „seit der Vertreibung der Juden“ sei nur noch diese Mittelschicht der Literatur am Ruder, die nur Mittelschicht in der Literatur hervorbringe. Biller wiederum hat damit in den letzten 10 Tagen unzählige, oben verlinkte, Repliken provoziert. Erfreulicherweise nicht nur von älteren Damen und Herren des „Hoch-Feuilletons“, sondern z.B. auch von Sophie bei Literaturen.

Die Gegenwartsliteratur, könnte man die meisten kritischen Stimmen runterbrechen, beziehe sich immer nur auf die Aufarbeitung von Nazideutschland und der DDR. Die wirklich aktuellen, also gegenwärtigen Themen, würden gar nicht behandelt.

Zwangsläufiger Nebeneffekt dieser Diskussion ist das Ausrufen neuer Helden. Gerrit Bartels sieht im Tagesspiegel Endlich Kokain und seinen Autoren Joachim Lottmann als „mögliche Rettung der Gegenwartsliteratur“, Ijoma Mangold lobt Per Leo für die gekonnte Bearbeitung der „Standardsituation“ Nazi-Opa und in der FAS von letzter Woche wurde u.a. der neue Roman Feridun Zaimoglus Isabel von Volker Weidermann derart empor gehoben, dass Norman und ich ihn, unabhängig von einander, erwarben.

Unter den Beispielen, die Weidermann nannte, war auch “Isabel” von Feridun Zaimoglu. Ein Buch, das “einem echt den Hut vom Kopf” fege, mit stakkatohafter, schneller und genauer Sprache. Weidermann nennt ihn den “repräsentativste[n] deutsche[n] Autor unserer Zeit. Unser[en] Thomas Mann.”

Norman Weiß zitiert Volker Weidermann

9783462046076Derartig angefixt suche ich also sofort meinen Bücherdealer auf. Hundert Seiten später kann ich sagen: deutsche Gegenwartsliteratur spielt – natürlich – in Berlin, aber nicht dort wo die Hippen aus der Werbebranche Smoothies schlürfen, sondern am Rand der Gesellschaft, die Ausgestoßenen der Generation Praktikum. Isabel titelgebende Protagonistin hat sich gerade von ihrem wohlhabenden Freund getrennt, ist ein etwas in die Jahre gekommenes Model und hält sich mit Gelegenheitsjobs und dem Essen der Wohlfahrt über Wasser. Sie streift durch die Stadt und trifft andere Versprengte, „Verrückte, aber nicht Verkommene“. Nach dem Selbstmord einer ihrer Freundinnen lernt sie deren Ex-Freund, einen Ex-Soldaten kennen und die Welt des desillusionierten Models trifft auf die des desillusionierten Legionärs.

Es tut mir leid Gegenwartsliteratur aber so wirst du nicht gerettet! Bereits die Geschichte, erscheint in ihrem die Hauptstadt-abseits-der-Hippster, abgedroschen und beliebig, als hätte es das nicht schon halb so oft wie den Nazi-Opa gegeben? Ein abgehalfteres Model und ein Soldat sind nicht der Stoff aus dem Helden gemacht werden, aber gerade auch nicht das Gegenteil genug um spannungsgeladene Reibung zu erzeugen. Model und Soldat sind uninspiriert und abgedroschen.

Die stakkatohafte, schnelle und genaue Sprache ist, gerade ohne packenden Inhalt, derart ermüdend, dass man bei Dialogen wie „Das ist ja schön. – Keine große Sache. – Aber eine Chance, sagte Isabel.“ schnell an das Ende der Lektüre denkt. Kurze Sätze, in denen kein Wort zu viel ist, mögen zu Beginn der Beschreibung („Staub des Kosovo. Ödland. Schwelender Himmel.“) der Schilderung Zug verleihen, über Absätze schlägt der Effekt ins Gegenteil und am Ende der seitenlangen Ausführungen wird der Leser schlicht gelangweilt.

Man entschuldige dazu mein Brett vorm Kopf, aber die Anführungszeichen, der Volksmund nennt sie Gänsefüßchen, wurden erfunden, damit der Leser der wörtlichen Rede folgen kann, ein Service des Autors an den Leser. Aber auch egal, steht ja immer „sagte xyz“ dahinter, selbst Fragen werden gesagt. Das erscheint zwar vordergründig, als kleinlich von mir, nur geben die folgenden drei Zeilen ein sehr deutliches Abbild der Monotonie derartig zerhackter Lektüre.

Wo wollen Sie hin?, sagte die Chefin.
Das hat hier keinen Sinn mehr, sagte Isabel.
Ich habe alles mitbekommen, sagte die Chefin zur Blinden, fast alles.

Prinzipiell kann ich der Vermittlung von Inhalten in klarer Sprache viel abgewinnen, nur möge der Autor bitte die Waage halten zwischen Protokoll und Erzähltext. Mitnichten muss man in überbordendem, blumigen Stil schreiben, um mich, wenn nicht zu begeistern, doch wenigstens zu überzeugen; aber das Memo zweier Leben in Berlin, langweilt mich; in Stil und Inhalt.

Kein Beckett und kein Thomas Mann – aber ein Autor dieser Zeit

Als ich das begann, war’s nicht unter dem Aspekt einer möglichen Publikation. Das mendelte sich erst allmählich heraus, nachdem ich selber mehr und mehr das Gefühl hatte, damit ein Stück zeitgenössischer Kulturgeschichte zu fixieren.

13. Februar 1998

Vor allem durch die Lektüre von Michael Maars Heute bedeckt und kühl – Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf bin ich auf die Tagebücher von Fritz J. Raddatz aufmerksam geworden.

Raddatz war bereits mit 22 Leiter der Auslandsabteilung und stellvertretender Cheflektor des Verlags Volk und Welt in der DDR, nach seiner „Flucht“ in die BRD wird er, noch keine 30, Stellvertreter und engster Mitarbeiter von Heinrich Maria Ledig-Rowohlt im Rowohlt Verlag. Von 1976 bis 1985 leitete Raddatz das Feuilleton der ZEIT, bis er über ein falsches Goethe-Zitat stolperte und abgesägt wurde. Zu jeder Zeit war FJR ein Beobachter und Kritiker, vor allem der Kultur. Befreundet u.a. mit Günter Grass, Rolf Hochhuth und Paul Wunderlich, in Kontakt mit Helmut Schmidt, Susan Sontag, Thomas Brasch, Rudolf Augstein, Kempowski und Frank Schirrmacher und bereits früher Beobachter der Gruppe 47 und der gesamten Literaturszene der BRD.

raddatz_tagebücher_covHört man aus zweiter oder dritter Hand was Fritz J. in seinen Tagebüchern von sich gibt, kann oder muss er einem unsympathisch sein. Niemand, auch nicht seine Freunde, sowieso bei ihm ein sehr vager Begriff, kommt durchweg gut weg. Einzig Frank Schirrmacher wird zu keinem Zeitpunkt „zerstört“, nur mal leise gescholten. Am Schlimmsten aber trifft es Siegfried Unseld, Helmut Schmidt, Gerd Bucerius, Marion Gräfin Dönhoff und Rudolf Augstein.

Der – wegen Feuilleton – im Rollkragen auftauchende Schmidt, der vorgibt über alles Bescheid zu wissen, aber von Kultur, so FJR, keine Ahnung hat, die geschönte Widerstandsvergangenheit der Gräfin Dönhoff, der ewig betrunkene „busengrapschende Millionär […] Herr Wurm“ Augstein, der spießige Millionär Bucerius in seinen Strickhemdchen, der sich anmaßt zu urteilen, weil er besitzt usw. usf.

Dass seine Tagebücher nicht „ein einziges Sammelsurium von Gemeinheiten, Lügen oder auch bösartigst-voyeuristisch notierten wahren Begebenheiten“, wie FJR über die Tagebücher von Hubert Fichte notiert, werden, liegt daran, dass man mit voranschreitender Lektüre den Menschen hinter den Zeilen kennenlernt und lieb gewinnt. Raddatz mag ein spitzzüngiger Spötter sein, aber er ist eben auch ein sensibler Mensch, dessen menschliche Enttäuschungen sich in seinen, wohl zu Beginn nicht zur Veröffentlichung gedachten, Tagebüchern notiert. Ständig kämpft er damit nicht als Autor, obwohl er Romane schreibt, sondern nur als Journalist, als Schreiberling über die Werke der anderen wahrgenommen wird. Fehlende Anerkennung, ein dünnes Fell und eine gehörige Portion Wehleidigkeit dies macht auch einem gefeierten Journalisten mit Zweitwohnsitz auf Sylt, Champagner und erlesenen Kunstwerken zu schaffen.

Warum aber verspürt man keine „wachsende Enttäuschung, [weil] doch fast nur dünn aufgegossener Literatur-Klatsch (mit sehr/zu vielen Einschüben von Attacken auf ihn, zumal über Leute und Phänomene, die heute meist vollkommen verblaßt – was allerdings dem Herrn FJR mit seinen Tagebüchern ebenso passieren wird!)“ wie Raddatz über die Lektüre der Tagebücher von André Gide notiert? Weil FJR immer wieder auch auf frappierende Weise ehrlich ist, nicht nur mit seinen Mitmenschen, sondern eben auch mit sich selbst. Er spricht über die eigene Arroganz und seinen Stolz bis zum Dünkel, über die Enttäuschungen und den Tod. Er weiß, dass wohl wenige so hohe Ansprüche an ihre Mitmenschen haben wie er und Helmut Schmidt im Gegensatz zum Großteil der Deutschen sicher ein ausgemachter Kulturfachmann ist. (Wahrscheinlich ist Raddatz in Hamburg, Nizza oder auf Sylt explodiert, als Schmidt in der ZEIT seine Kunstsammlung vorstellen durfte.) Mit dieser Ehrlichkeit durchleutet er den Kulturbetrieb, die Sehnsucht aller Künstler nach Anerkennung, die Ränkespiele untereinander, Intrigen und Fallen, er selbst meist nur Beobachter und Erzähler, er demaskiert die Welt um sich herum, zu der wir alle keinen Zugang haben.

 Die Gruppe 47 in Berlin im November 1965 (v. l. n. r.): Walter Höllerer (dahinter Fritz J. Raddatz), Erich Fried, Marcel Reich-Ranicki, Walter Mannzen, Andrej Wirth © von Mangold
Die Gruppe 47 in Berlin im November 1965
(v. l. n. r.): Walter Höllerer (dahinter Fritz J.
Raddatz), Erich Fried, Marcel Reich-Ranicki,
Walter Mannzen, Andrej Wirth
© von Mangold

Fritz J. Raddatz mag ein Zyniker sein, er ist aber auch ein der bedeutensten Literaturkritiker unseres Landes und auch in dieser Funktion scheut er nicht vor der Demontage großer Namen. Proust? „Stefan Zweig ist ja Kafka dagegen.“ Dürrenmatt? „Mir schien nämlich schon bei der Vorbereitungslektüre, daß Dürrenmatt etwas dumm ist.“ Döblin? „Niemand, der so und derlei heute schriebe, käme damit durch. Und es ist nicht Zeitgebundenheit, sondern pure Sorglosigkeit, wenn nicht schriftstellerisches Unvermögen.“ Wie Raddatz Literatur auf den Punkt bringen kann, er vermag den Stil eines Autoren in einem Satz einzuschmelzen – verblüffend.

[Über Adolf Muschg]

Das [Gespräch] verlief nett, routiniert, flach: wie seine Literatur. Sie ist ohne Fehl und Tadel, ordentlich gebaute Sätze schmoren auf der Flamme einer kleinen Phantasie; nie und nirgendwo wird die Sphäre des „ganz brav“ durchstoßen: mit einem Wort: gefällig. Gehobene Unterhaltungsliteratur für das gebildete Publikum.

28. August 1993

Dazu kommen herrliche Anekdoten aus dem deutschen Literatur- und Kulturbetrieb: Grass kann in hohem Alten noch einen Kopfstand machen, wer bei wem mit wem Essen war und dabei zu tief in Glas schaute, wie Horst Jansen Ernst Bloch beleidigt, später ins Bett bringt und dann die Füße küsst.

Dass ein Fritz J. Raddatz nicht ohne Kritiker bleibt, und seine Äußerungen wiederum Kritik nach sich ziehen, zeigt nicht nur der oben verlinkte ZEIT Artikel von Theo Sommer, seinem damaligen Chefredakteur, auch aus den Tagebuchnotaten geht hervor, dass FJR zumeist aufgrund seiner streitbaren Persönlichkeit heftiger Wind entgegenweht. Die Tagebücher waren ein absehbarer Skandal.

Sie sind die Geschichte eines Intellektuellen und Menschenfeindes, eines Genießers und eines Zweifelers, eines Spötteres und Kritikers, Raddatz war Verleger, Journalist, Essayist und Autor oder wie Theo Sommer schreibt: „Genie, Geck, Galan – Paradiesvogel, Polemiker, Provokateur“. Die Tagebücher sind aber auch die Geschichte des Nachkriegsjournalismus, der deutschen Literatur nach 1945 und einer interessanten Persönlichkeit.

Wie er selbst (allerdings in Bezug auf seine Romane) sagt, ist FJR zwar kein Beckett und kein Thomas Mann – aber eben ein Autor seiner Zeit.

Am 7. März erscheinen bei Rowohlt die Tagebücher 2002-2012, ein weiterer Skandal ist vorprogrammiert.

Die schönste Buchhandlung Deutschlands

Die Negativschlagzeilen über Amazon, aber auch die Notwendigkeit seinen Wohnort als Wirtschaftsstandort zu unterstützen habe ich bereits ansatzweise in meinem Artikel Global denken, lokal kaufen verarbeitet, trotzdem bin ich weiterhin sprunghaft in meinem Kaufverhalten. Bin ich zwar standhaft geblieben keine Bücher mehr über Amazon zu bestellen, fehlt mir für das konsequente lokale Kaufen der Buchhändler, bei dem ich mich richtig wohl und aufgehoben fühle. In Münster gibt es zwar mit Poertgen-Herder einen sehr gut sortierten Buchhandel, der allerdings von Thalia geschluckt wurde und daher ein gewisses “Geschmäckle” hat, in den kleineren Buchhandlungen war mir z.T. der Service zu unfreundlich, die Auswahl nicht nach meinem Geschmack. In Dortmund, wo ich arbeite, kenne ich nur die Mayersche, die zwar die Fahne der Tradition sehr hochhängt, aber auch viel Nippes feilbietet und starke Großbuchhandlungsanwandlungen hat. In Bad Hersfeld ist die Stadt wohl leider zu klein und Amazon zu übermächtig, als dass sich eine Buchhandlungskultur abseits des Mainstreams halten könnte (die Hoehlsche schlägt sich zumindest tapfer).

Nun, im Osterurlaub im Schwarzwald, habe ich die Buchhandlung gefunden. Die Buchhandlung zum Wetzstein in Freiburg zeigt wie es gemacht wird! Eine Buchhandlung in der grundsätzlich (!) alle (!) Bände der Bibliothek Suhrkamp, Insel Bücherei, Manesse Bibliothek, auch in Leder, die Bibliothek Deutscher Klassiker, ebenso auch in Leder, und die Bände der Reihe Winkler Weltliteratur in Dünndruckausgaben vorgehalten werden und mir beim Betreten schon die gesamte Reihe der Hanser Klassiker-Neuübersetzungen anbietet, kann (bei mir) nur gewinnen. Dazu kommen einige wenige ausgewählte Weine und wunderschöne Skulpturen, die aber nicht, wie bei Thalia, ihren eigenen Wühltisch mit Handytaschen und Knetgummi teilen, sondern sich in den Regalen fast verstecken – das Buch bleibt immer im Vordergrund. Zu der erlesenen Auswahl aus dem Klassikerbestand kommen im vorderen Teil des Ladens ausgesuchte Neuerscheinungen; ausgewählte antiquarische Bücher muss man nicht erst aus einem Wust von Reiseführern der Ukraine von 1964, Salatkochbüchern der 50er und vergilbten Krimis suchen, sondern auch hier haben Herr Bader und sein Team bereits sortiert – jeder Griff ein Treffer.

Gerade diese Auswahl ist es, die eine solche Buchhandlung abhebt, denn man braucht eben nicht ein Angebot von allem, sondern man hat seinen Buchhändler der aus den Neuerscheinungen, Klassikern und antiquarischen Büchern bereits ausgewählt hat.

Weitere Vorzüge im Schnelldurchlauf: es gibt eigene Sondereditionen der Buchhandlung zum Wetzstein im Rahmen der 5plus Buchhandlungen, einer Empfehlungsgemeinschaft einer kleinen Gruppe von Buchhandlungen, viele aktuelle signierte Bücher (z.B. von Coetzee, Enzensberger, Nooteboom, Rushdie u.v.a.m.), einen regelmäßig erscheinenden Wetzsteinbrief mit Empfehlungen und Lesungen von Hochkarätern wie Bruno Ganz oder Cees Nooteboom.

Aber, und hier gebe ich zu, ohne zu übertreiben, hatte ich fast Tränen in den Augen, was in so mancher Vitrine in dieser “Buchhandlung” (ein Begriff, der spätestens jetzt nicht mehr passt) steht, liegt und hängt, lässt einem nicht nur das Herz höher schlagen, sondern jagt einem eine Gänsehaut über den Rücken: Briefe von Erika, Heinrich und Thomas Mann, eine Postkarte von Thomas Bernhard, ein Brief von Ingeborg Bachmann, Briefe von Heidegger und ein Brief von Friedrich dem Großen, um nur einige Highlights zu nennen; in weiteren Vitrinen eine Reihe von Erstausgaben Thomas Manns und Werkausgaben vieler weiterer großer deutschsprachiger Schriftsteller, bewacht von dem berühmten Goethebild von Joseph Karl Stieler und auch hier die Liste nicht annähernd abschließend.

Weiteres Highlight handgeschriebene Gedichte und Zitate großer deutscher Lyriker, die es käuflich als einzelne Bögen, aber auch in Mappen zu erwerben gibt; dieselbe wunderschöne Handschrift ziert auch die Preisschilder, die kleinen Informationen, die manchen Bücherstapel schmücken und die Kategoriewegweiser der Regale.

Zu guter Letzt ist das Team der Buchhandlung zum Wetzstein nicht nur freundlich und zuvorkommenden, sondern, wie man bereits an deren Vorauswahl sieht, äußerst kompetent und hilfsbereit. Bei meinen zwei Besuchen habe ich mich in einer Atmosphäre der Gleichgesinnten sehr wohl gefühlt und lägen nicht 543 km zwischen meinem Wohnort und meinem Bestimmungsort – ich käme täglich und sei es nur zum musealen Schauen und Verweilen.

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Ich danke Herrn Bader und seinem Team für die beiden freundlichen Gespräche und vor allem dafür, dass es einen solchen Laden in Deutschland noch gibt – möge er uns erhalten bleiben. Falls Nachwuchs gesucht wird, bin ich gerne zu einem Umzug nach Freiburg bereit!

Zum Nachruf auf Thomas Bader