Kategorie: Feuilleton

BeReal – Bitte, seid bloß nicht authentisch!

von Lennart Rettler

Eine Person zeigt ihren Laptop, eine weitere liegt im Bett. Dann folgt eine Person am Laptop auf der Arbeit, eine andere Person scheint zu spazieren. Jemand gießt Pflanzen und ein anderer sitzt ebenso vor dem Laptop. Das sind Ausschnitte dessen, was mir die App BeReal an einem Dienstagmittag anzeigt.

Seit 2020 gibt es die französische App, die erst seit diesem Sommer richtig einschlägt. Ihr Prinzip ist ziemlich schnell erklärt: User*innen posten jeden Tag einen Beitrag. Dieser besteht aus einem Foto der Front- sowie einem Foto der Rückkamera, welche gleichzeitig aufgenommen werden. So entsteht ein kurzer Ausschnitt des Alltags, der dokumentiert, was eine Person gerade erlebt und wie sie selbst dabei aussieht. Die Beiträge können nur von akzeptierten Freund*innen gesehen werden und auch erst dann, wenn die User*innen selbst einen Beitrag hochgeladen haben. Be Real versendet jeden Tag eine Benachrichtigung zu einer zufälligen Uhrzeit. Mit der Benachrichtigung haben die User dann exakt zwei Minuten Zeit, um einen Beitrag hochzuladen. Wer jetzt Angst hat, dass die App-Nutzung zu konstanter Smartphone-Aufmerksamkeit verpflichtet, sei schnell entwarnt: Es lässt sich auch noch nach diesen zwei Minuten, selbst vier Stunden später, ein Beitrag hochladen. Allerdings muss man dann mit der sozial ächtenden Konsequenz leben, ein Late gepostet zu haben. Denn dieser Begriff verziert für alle sichtbar den Beitrag des Zuspätkommers.

Schade ist, dass in der deutschen Benachrichtigung die Worte „Zeit für Be Real“ verwendet werden. Im Englischen heißt es schlichtweg „Time to Be Real“, versehen mit zwei aufdringlichen, gelben Warnzeichen. Der englischsprachige Ausruf verdeutlicht alles, was die App uns versprechen möchte. Mit Eintritt der Benachrichtigung ist es Zeit, real zu sein – zumindest über die Dauer der Beitragserstellung. Damit bedient die App ein Verlangen, dass unsere digitale Welt prägt, das Verlangen nach Authentizität, nach realness. Die App baut ihre Daseinsberechtigung auf der Prämisse auf, dass unsere Selbstpräsentation auf allen anderen sozialen Medien weniger authentisch, gar fake, sei.

Jetzt lässt sich darüber streiten, ob die Beiträge auf dieser Plattform wirklich realer sind als bei der Konkurrenz. Anbringen lässt sich, dass es diverse Wege gibt, den Authentizitätsanspruch der App zu umgehen. So posten viele User ihren Beitrag einfach später, einige denken sicherlich schon morgens über den perfekten Moment für ihren heutigen BeReal-Beitrag nach, andere sind sicher auch in der Lage sich innerhalb von zwei Minuten perfekt zu inszenieren. Diese Diskussion ist müßig. Viel interessanter ist zu sehen, was uns die App über unser gestörtes Verhältnis zum Authentizitätsbegriff und der digitalen Welt verrät.

Authentizität erlebt täglich Hochkonjunktur bei allem, was in irgendeiner Weise mediale oder digitale Sphären umfasst. Marken sollen auf Social Media unbedingt authentisch sein. Gleiches gilt für Politiker*innen und besonders für Influencer*innen. Sportmannschaften auf der ganzen Welt lassen sich dokumentarisch inszenieren, um ein scheinbar authentisches Bild von sich selbst zu präsentieren. Vergessen bleibt dabei, dass digital vermittelte Präsentation nie authentisch sein kann. Authentizität ist ein Begriff, der dieser Tage vor allem strategischer Natur ist. Authentizität wird als Teil einer Verkaufsstrategie für Beziehungen angeboten, wohlwissend, dass es sie in diesen Beziehungen eigentlich nicht geben kann. Es gibt keine authentischen Marken, es gibt keine authentischen Influencer*innen. Authentizität ist ein Zuschreibungsprozess, und ein solcher lässt sich wunderbar beeinflussen. Und genau das konterkariert den eigentlichen Anspruch an den Begriff.

Viele empfinden Selbstdarstellung als Gegenspieler von Authentizität. Selbstdarstellung wird ermöglicht durch Zeitvorsprung zwischen Planen und Handeln. Je mehr Möglichkeiten ich habe, über meine Selbstpräsentation nachzudenken, desto stärker kann ich sie verändern. Wenn auch das in der realen Welt ebenso gilt, ermöglicht digitale Interaktion einen deutlich größeren Zeitvorsprung. Wenn ich möchte, unternehme ich 2000 Selfie-Versuche, bis ich das Beste gefunden habe. Wenn ich möchte, überlege ich 30 Minuten lang, bis mir der lustigste Spruch einfällt. Durch das zeitliche Limit probiert BeReal, die Menschen genau hier in ihrer Selbstdarstellung zu begrenzen.

Nun sollte aber die Frage erlaubt sein, ob Menschen überhaupt in diesem Prozess begrenzt werden sollten. Interessant ist, dass unser heutiger Anspruch an Authentizität in digitaler Darstellung stark von den Wünschen abweicht, die wir ursprünglich an den digitalen Raum hatten. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Arbeiten Sherry Turkles, einer Soziologin des MIT. Sie setzte sich besonders in den frühen Jahren des Computers und der Digitalität mit den menschlichen Beziehungen zu diesen auseinander. In den 80er-Jahren forschte sie vor allem zu MUDs (Multi-User-Dungeons/ Multi-User-Domains), was wir heute am ehesten als MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) bezeichnen würden. Also Online-Rollenspiele, bei denen man mit anderen Menschen interagieren kann. In den von Turkle erforschten Anfängen stützte sich die Interaktion der Spieler vor allem auf Chat-Nachrichten.

In vielen Interviews stellte Turkle fest, dass die Spielenden schnell zu Meistern der eigenen Selbst-Präsentation und Selbst-Kreation wurden. Sie erklärte die Spielenden der MUDs zu Pionieren unserer digitalen Identitätsbildung. Man kann also sagen, wenn immer Influencer*innen überlegen, welcher Filter für das Foto des neu eingerichteten Wohnzimmers am meisten das Gefühl von Geborgenheit vermittelt, tun sie nichts anderes als MUD-Spielende, die sich ein neues digitales Kleidungsstück aussuchen.

Dabei ging es in diesem Abschnitt der digitalen Weltgeschichte nie wirklich um Authentizität. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeit, Identität digital zu kreieren, wurde als begrüßenswerte Alternative zum eintönigen bzw. beschränkten Alltag angesehen. Nicht umsonst wird der Computer bei Turkle auch als Second Self bezeichnet. Turkle hat viel über das Verhältnis von Online- zu Offline-Identitäten veröffentlicht, wobei sie stets betont, dass die Online-Identitäten selten eine vollständige Alternative zur Offline-Persönlichkeit darstellen. Menschen tendieren vielmehr dazu, bestimmte Aspekte des eigenen Selbst hervorzuheben. Turkle umschreibt diesen Aspekt mit dem Ausruf You are what you pretend to be und vielleicht sagt es ja wirklich viel mehr über uns aus, wenn wir uns zeigen, wie wir gesehen werden wollen, als eine möglichst reale Selbstdarstellung – egal ob als Avatar in MUDs oder mit Hilfe des perfekten Urlaubsfoto auf Instagram.

Jedoch ist die digitale Welt, bzw. die menschliche Wahrnehmung dieser, in den Hochzeiten der MUDs eine ganz andere gewesen als heutzutage. Digitale und reale Welt wurden als getrennte Räume wahrgenommen. Deshalb galt es als gesellschaftlich akzeptiert, in der digitalen Welt eine andere Identität zu verkörpern als sie in der realen Welt zu sein scheint. Das gilt für Online-Rollenspiele heute noch in ähnlicher Weise.

Unser Alltag ist mittlerweile jedoch durchgängig von Digitalität geprägt. Vor einem Bewerbungsgespräch, suchen Arbeitgeber nach Linkedin-Profilen, vor dem ersten Date die potentiellen Partner*innen nach Instagram-Auftritten. Durch soziale Medien ist eine Trennung von digitaler und realer Welt kaum mehr möglich. Auch Turkle beschrieb bereits die Verschmelzung beider Welten, die in Zukunft nur noch stärker werden wird. Genau deshalb ist Authentizität für uns so wichtig. Weil die digitale Welt kein Alternativraum, sondern primär eine Erweiterung unseres realen Lebens und Erlebens darstellt. Diese Verschmelzung nimmt viel vom utopischen Potential des Digitalen, sich selbst neu und erweitert erfinden zu können. Unser Anspruch an Authentizität gipfelt im Verlangen, auch digital als reale Person gelten zu müssen, z. B. durch eine immer wieder diskutierte Ausweispflicht im Internet. Vielleicht sollten wir dieser Verschmelzung entgegenwirken, vielleicht sollten wir uns etwas vom Identitätskreationspotential des Digitalen beibehalten.

Auch wenn BeReal gerade eine beruhigte Alternative zur übersteigerten Darstellung auf Konkurrenzmedien darbietet, bleibt die Frage, wie lange das Interesse am Gewöhnlichen wohl anhalten wird. Denn mal ganz ehrlich; Wer will wirkliche Authentizität? Wer will täglich sehen, wie alle nur ihrer Arbeit nachgehen, vor dem Laptop sitzen oder im Bett liegen? Authentizität ist oft leider langweilig. Ich plädiere also dafür: Don’t be real! And don’t be fake. Be what you pretend to be.

Foto von Christian bei Unsplash

Die Unfähigkeit zu bremsen – Über eine deutsche Obsession

von Mia Raben

Wir müssten längst ein Tempolimit auf allen Autobahnen haben, so wie der Rest der Welt. Nicht nur wegen der tausenden mehrfach traumatisierten Schwerstverletzten, nicht nur wegen des Klimas und der zusätzlichen Umwelt- und Lärmbelastung, sondern auch aus Gründen der Psychohygiene. In Deutschland regiert auf barbarisch maßlose Weise der Raser, der triebgesteuerte Autofetischist, der Anti-Rationalist – und das schon seit dem Dritten Reich. Unser Land rast auf dem Sonderweg durchs Universum.  Es gehört dringend auf die Couch.

Mein Großvater war Mineralölhändler und solang ich ihn kannte, liebte er schnelle, schicke Autos. Er rauchte Kette, seitdem er als Wehrmachtssoldat mit Anfang Zwanzig in der Nähe der ukrainischen Stadt Charkiw auf eine Miene gefahren war, wobei all seine Kameraden starben. Ich hatte schon früh ein unterbewusstes Gefühl dafür, dass diese drei Dinge – Krieg, Zigaretten, Autos – für ihn irgendwie miteinander zusammenhingen. Aber wie?

In den achtziger Jahren raste er mit 200 Sachen über die Autobahn, während seine zwei Enkelkinder, mein Bruder und ich, auf dem ledernen Rücksitz seines Jaguars saßen. Er „drückte auf die Tube“, und zog dabei genüsslich ein paar Ernte 23 durch. Ich erinnere mich noch an den Moment, bevor wir losfuhren. Der Zwölf-Zylinder-Motor lief schon, mein Vater beugte sich noch einmal durch das Fenster zu meinem Großvater. Er musste laut sprechen, damit man seine Stimme über das mächtige Motorengeräusch hinweg überhaupt hören konnte:

„Bitte, Papa“, flehte er, „ras nicht wieder so.“

Ras nicht so. Genau, mein Großvater war ein Raser.

Der Raser. Der Raser ist heute praktisch vollständig aus dem öffentlichen Straßenverkehr verbannt worden. Weltweit. Die große Mehrheit der Länder dieser Erde hat sich von den zahllosen Argumenten gegen das Rasen überzeugen lassen und ein Tempolimit auf ihren Autobahnen eingeführt. Was für eine vernünftige Welt, denkt man da, denn die Argumente für die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen sind tatsächlich klar und überzeugend. Im Grunde kann niemand, der bei gesundem Verstand ist, in Zweifel ziehen, dass ein Tempolimit auf allen Autobahnen eine sinnvolle Maßnahme für Verkehrssicherheit und gegen Klima-, Umwelt- und Lärmbelastung ist. Hier, der Vollständigkeit halber, noch einmal ein paar wichtige Argumente. Wer, wie die Mehrheit der Deutschen, längst überzeugt ist, kann die nun folgende Liste von Argumenten gern überspringen:

  • Gut dreiviertel der deutschen autobahnfahrenden Menschen fahren durchgehend langsamer als 130 Kilometer pro Stunde, auch auf den 70 Prozent der Autobahnstrecken, auf denen kein Tempolimit gilt. Nur ein bis vier Prozent der Autofahrer*innen fahren überhaupt jemals schneller als 160. Diese sehr kleine Gruppe von Rasern gefährdet also mit ihrem Verhalten die anderen 96-99 Prozent der autobahnfahrenden Bevölkerung.
  • Wer langsamer fährt, verbraucht weniger Brennstoff und die CO2 Emissionen sinken. Die Mobilitätswende ist beschlossene (!) Politik und verlangt, dass verkehrsbedingte Emissionen um 50 Prozent sinken. Bei Tempo 130 würde man zwei Millionen Tonnen CO2 einsparen, ungefähr so viel wie der gesamte innerdeutsche Flugverkehr.
  • Das Tempolimit ist eine Maßnahme, die praktisch nichts kostet, sie betrifft alle gleich und ist schnell umsetzbar. Gurtpflicht und Alkoholverbot galten anfangs auch als „Eingriff in die Freiheit“, und sind heute unumstritten.
  • 64 Prozent der Deutschen haben sich längst FÜR ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen von 130 Kilometern pro Stunde ausgesprochen.
  • Das Tempolimit bedeutet deutlich weniger Lärmbelastung für jene Hälfte der Deutschen, die innerhalb von fünf Kilometer Entfernung von einer Autobahn ohne Tempolimit leben. Bei Reduktion der Geschwindigkeit von nur 20 km/h hört es sich so an, als würde ein Drittel weniger Autos auf der Autobahn fahren, laut einer Studie des österreichischen Umweltbundesamt „Langsamer ist leiser.“
  • Es gäbe weniger Schwerverletzte, also auch weniger schwerverletzte Kinder mit Polytraumata, weniger Tote, und somit weniger tote Kinder durch schwere Verkehrsunfälle. In Deutschland „gönnen“ wir uns ein flächendeckendes 24/7-Versorgungssystem von über 600 Traumazentren mit Hubschraubern und Notfalleinsätzen für polytraumatische Schwerverletzte.
  • Der Stresspegel für Autobahnfahrer*innen, die häufig mit nörgelnden, weinenden oder gar schreienden Kleinkindern im Auto fahren, wäre ohne Raser auf der Autobahn deutlich geringer. Die Unfallgefahr würde weiter sinken.

Man könnte noch viel mehr Argumente anführen. Doch ein verstörend großer Teil der deutschen Bevölkerung wehrt sie voller Inbrunst ab. Unser Land führt kein flächendeckendes Tempolimit auf den Autobahnen ein. Stellt sich die Frage: Warum? Wie kommt es, dass ein angeblich aufgeklärtes Land wie Deutschland sich eine so krasse Irrationalität leistet? Das passt nicht zusammen, oder?

Erklärungen für irrationales Verhalten führen in Deutschland leider schnell zu Hitler. In seinem Buch „Deutschland als Autobahn“ stellt der Autor Conrad Kunze das gleiche fest: „Der Weg zur Frage, wo all die Begeisterung für das Auto herkommt, und warum es so stark in Staat, Nation und Alltag eingebunden ist, führt unweigerlich zu Hitler.“ Dort heißt es weiter: „Ein Grund für das Zurückbleiben Deutschlands hinter der Mobilitätswende in den Städten und Nationen ist der Fetisch um Auto und Autobahn.“

Meine Hoffnung ist nun: Wenn ich diesen „Fetisch um Auto und Autobahn“ etwas genauer unter die Lupe nehme, werde ich zwei Fragen besser verstehen: Warum verhält sich Deutschland so irrational? Warum raste mein Großvater, der uns lieb hatte, mit seinen Enkelkindern im halsbrecherischen Tempo über die Autobahn?

Hierzulande genießt der Raser den Schutz einer mächtigen Elite, die darin kein Problem sieht. Interessant sind auch dazu die Ausführungen von Kunze: 

„Und was sich in historischer Rückschau auch sehr deutlich zeigt, ist der temporär elitäre Charakter der Geschwindigkeit. Es war immer eine kleine Gruppe der Reichen und materiell Sorglosen, die Zugang zum jeweils nächstmöglichen Geschwindigkeitssprung hatten. Von den Superreichen öffnete sich der Kreis für die Reichen, die gehobene Mittelschicht und schließlich für die Masse der Arbeiter*innen. Der Vorsprung musste stets erneuert und überboten werden. (Die E-Autos von Tesla beschleunigen schneller als der stärkste Porsche und die Topmodelle fahren 400 km/h.)“

Von uns hoch geschätzte europäische Nachbarn fragen sich stirnrunzelnd, was da in Deutschland schon wieder los ist. Dieses fleißige, vernünftige Volk führt kein Tempolimit ein? Merkwürdig. Der Guardian schreibt, der Widerstand gegen das Tempolimit in Deutschland sei vergleichbar mit der Frage des Waffengesetzes in den USA. Auch hierzulande erscheint man ratlos. In einer Ausgabe des SPIEGEL vom August dieses Jahres, dessen Titel ein Grabgesteck mit dem Trauerspruch „Hier ruhen unsere Klimaziele“ zeigt, lese ich, das Auto werde „immer noch als heilige Kuh der Deutschen behandelt: kein Tempolimit, bloß nicht.“

Könnte es sein, dass die deutsche Weigerung, ein flächendeckendes Tempolimit auf Autobahnen einzuführen, ein Auswuchs des deutschen Sonderwegs ist? Der deutsche Sonderweg? Was war das nochmal? Ach ja, das ist die „problematische Tendenz in der deutschen Geschichte, die Macht über das Recht, das Militärische über das Zivile und die staatliche Exekutive über die parlamentarisch-demokratische Willensbildung des deutschen Volkes zu stellen“. Ich denke an die Macht der elitären Lobbymonster, an die Autoindustrie, an die Ignoranz der Regierenden gegenüber den Umfragen zur Einführung des Tempolimits, an die Vermutung, die auch Kunze in seinem Buch äußert, dass in der Figur des Rasers „Frauenfeindschaft und Maschinenliebe“ zum Ausdruck kommen. Nun, könnte man denken, die Deutschen und ihr Auto halt. Das war ja schon immer eine etwas seltsame, von besonderer Innigkeit geprägte Beziehung, oder nicht? Aber ist es nicht merkwürdig, wie zärtlich die Deutschen am Sonntag ihr Auto waschen, polieren und mit Wachs massieren? 

Vielleicht lässt sich der titelgebenden Theorie “Die Unfähigkeit zu bremsen” mit dem Standardwerk “Die Unfähigkeit zu trauern” näherkommen, mit dem die renommierten Psychoanalytiker*innen Alexander und Margarete Mitscherlich in den 1960er Jahren international Aufsehen erregten. Auch heute noch ist es für alle, die die deutsche Gegenwart begreifen und einordnen wollen, außerordentlich lohnend, diese historischen „Grundlagen kollektiven Verhaltens“ zu lesen. Sie machen den „in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus“ verständlich.

Ich würde sagen, die Theorie der Mitscherlichs lässt sich mit einigen meiner Gedanken zum Tempolimit verbinden.  Ich hoffe, dass dadurch verständlich wird, inwiefern die „Unfähigkeit zu trauern“ bis heute erkennbar ist, eben etwa in der „Unfähigkeit zu bremsen“, aber mit Sicherheit auch in weiteren Bereichen, in denen wir Deutschen auf seltsame Weise nicht vorankommen. Man denke an das deutsche Schulsystem und die darin so oft erkennbaren Überbleibsel der gnadenlosen, militaristischen Hierarchien. Oder man denke an die Unfähigkeit, patriarchalische Strukturen, etwa in der Familienpolitik, wirklich aufzubrechen. Je länger man darüber nachdenkt, wo immer noch Spuren aus längst vergangenen Zeiten nicht endlich weggewischt werden, desto mehr fällt einem auf, wie viel wir uns immer noch leisten, was längst geändert oder abgeschafft werden sollte. Nun aber zurück zu den Mitscherlichs, und dem Deutschen und seiner Unfähigkeit zu bremsen und zu trauern. 

Das deutsche Volk war während des Dritten Reichs größtenteils einverstanden mit den Ideen des Rassismus sowie mit der Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus. Sie war, ich leihe mir hier einmal Worte von Thomas Mann, Teil einer „deutsche(n) Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung“. Diese Massenbewegung führte die Deutschen in eine Quasi-Symbiose mit ihrem „Führer“ Adolf Hitler. Als der Krieg 1945 endgültig verloren war und die Gräueltaten der Shoa weltweit bekannt wurden, entstand ein psychologisches Problem für alle, die die Verbrechen Hitlers in irgendeiner Form mitgetragen hatten. Ein Kollektiv, das sich eben noch als „Volk der Auserwählten“ betrachtete und sich als „prädestiniert dafür“ hielt, „über andere zu herrschen“, verlor den Krieg in der „größten materiellen und moralischen Katastrophe unserer Geschichte“. Der Sturz des geliebten Führers, so die Mitscherlichs, „bedeutet darüber hinaus eine traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals, mit dem man so weitgehend identisch geworden war.“

In “Die Unfähigkeit zu trauern” wird nun die These aufgestellt, dass eine Beschäftigung mit diesem Widerspruch zwischen dem eigenen Gefühl des Auserwähltseins und der schmachvoll empfundenen Niederlage abgewehrt wird, um nicht das Gefühl “völligen Unwertes” aufkommen zu lassen. Damit einher geht auch eine Abwehr jeder Form der Trauer. Die Vergangenheit wird also kollektiv verleugnet. Diese Abwehr der „überwältigenden Schuldlast“ hat drei Formen: 1. Gefühlsstarre beim Anblick der Leichenberge und traumartiges Versinken der kollektiven Vergangenheit, 2. Identifikation mit den Siegermächten, 3. Manisches Ungeschehenmachen durch radikalen Wiederaufbau.

Die akute Verliebtheit in den Führer, die libidinöse Energie, die eben noch dem Führer (und der eigenen Auserwähltheit) gegolten hat, muss sich neu orientieren. Das Scheitern des Führers ist durch die Über-Identifikation ein Scheitern des eigenen Ichs. Die Abwehr der Trauer hat zwar den Ausbruch der Melancholie verhindert, aber nicht die Ich-Verarmung, die uns innerlich orientierungslos macht. Diese innere Orientierungslosigkeit bekämpften wir mit jenem emsigen Fleiß, der das sogenannte „Wirtschaftswunder“ ermöglicht. Das „Wirtschaftswunder“ festigt unsere „auf Selbstwertbestätigung erpichte Art zu lieben“. Wir konzentrieren „all unsere Energie vielmehr mit einem Neid und Bewunderung erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres industriellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung“.

Die Liebe des Volkes neu entflammen lässt jetzt –  und das ist jetzt meine These – das Symbol des Wirtschaftswunders schlechthin: das Auto. Die Objektlibido ist vom Führer zum Auto gewandert. Die Befriedigung unserer narzisstischen Libido erlaubt es uns, weiter „zu funktionieren“ und nicht in einer den Selbstwert zerstörenden Melancholie zu versinken. Man hat es „satt“ sich an die Vergangenheit erinnern zu lassen. Das Gedenken an die Shoah gleicht, nicht an allen, aber doch an auffällig vielen Stellen einer Inszenierung, die der Soziologe Michal Bodemann als „deutsches Gedächtnistheater“ bezeichnet hat.

Aber wenn wir nun an der „heiligen Kuh“ (Der Spiegel) Auto rütteln, woran rütteln wir dann in Wirklichkeit? Vielleicht an der Frage, warum das Auto wichtiger für uns ist, als die Tausenden unnötig schwerstverletzten jungen Menschen auf deutschen Autobahnen? Unser gesellschaftliches ICH scheint nicht in der Lage zu sein, sich in dieser Frage angemessen zu verhalten. Das ES (Raser-Trieb) gewinnt gegen das Über-ICH (es ist gesellschaftlich rücksichtslos zu rasen, also moralisch verwerflich), weil das ICH durch die Anstrengung der Verdrängung so geschwächt ist, geradezu leer. 

Die „Wiedergutwerdung“ der deutschen Gesellschaft kann nur über ein „fortgesetztes Nachdenken“ (Mitscherlichs) stattfinden, und über die Erweiterung der „Einfühlung in uns selbst“ und in die Opfer der eigenen aggressiven Triebdurchbrüche. Nur ein solches Nachdenken und Einfühlen könnte die „Fähigkeit zu trauern“ zurückgeben. Und damit auch die Fähigkeit zu bremsen. „Wenn unter Kultureignung letztlich Triebbeherrschung durch Einsicht verstanden wird, so ist gewiss, dass es sich dabei um eine potentielle Fähigkeit, nicht um eine im Konstitutionsplan des Menschen ungestört ausreifende „Anlage“ handelt.“

Wollen wir, eine sich selbst als kultiviert begreifende Gesellschaft, das vorhandene Potenzial ausnutzen? Sind wir das unserer Gesellschaft nicht schuldig? Warum setzen wir bei der Triebbeherrschung nicht an bei der Beherrschung der deutschen Autobahn?

L., die Tochter meiner Freundin, ist 23 Jahre alt, Studentin, und sagt, sie will keine Kinder. L. ist ein warmherziger, offener Familienmensch, hat einen großen Freundeskreis und liebt Gesellschaft. Zwischen zwei Konzerten auf dem Elbjazz Festival sitzen wir mit einer Weinschorle in der Sonne neben einem stillgelegten Hafenkran, von dem eine Diskokugel baumelt, und ich frage L., warum. Warum sie keine Kinder haben will. Sie sieht mich mit ihren klaren, wachen Augen an und sagt, das sei für sie keine persönliche Frage. Das sei eine gesellschaftliche Entscheidung. Sie wolle kein Kind in ein Land setzen, das sich den aktuellen Handlungsnotwendigkeiten komplett verweigert. Was sie denn als solche bezeichnen würde, frage ich sie. Es gibt tausende Beispiele, sagt sie, zum Beispiel das Tempolimit. „I mean, zu wenig Schilder?!“ Sie schlägt sich an die Stirn. „Die Welt geht fucking unter und wir haben keine fucking Schilder, um ein Tempolimit durchzusetzen?“ 

Es ist eine Tatsache, dass in Deutschland jährlich tausende, meist jüngere Menschen durch das Rasen schwerstverletzt werden, eine Anzahl, die durch eine leicht umsetzbare politische Maßnahme deutlich reduziert werden könnte. „Es gibt keinen rationalen Grund dafür, diesen verkehrspolitischen Weg weiter fortzusetzen.“ So lautet der letzte Satz aus dem Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Verkehrsausschuss, der wegen der Stimmen von Union, FDP, AFD und SPD scheiterte.

Für mich ist der Raser, auch wenn er ein guter Freund oder ein netter Familienvater sein mag, der Inbegriff der Rücksichtslosigkeit. Und so, wie die Nazis es geschafft haben, das „absolut Böse ästhetisch gut zu inszenieren“ (Conrad Kunze), schafft es auch die Raser-Lobby, sich als gut und wertvoll zu inszenieren. “Es wird immer Menschen geben, die ihr eigenes Auto besitzen wollen, denn ein Automobil ist ein sehr emotionales Gut”, sagt zum Beispiel Audi-Chef Rupert Stadler. Und der Verband der Automobilindustrie (VDA), zu deren Mitgliedern Shell und Esso zählen, verkündet in seiner Publikation “Fakten gegen ein generelles Tempolimit” im Brustton der Überzeugung, dass man auf Autobahnen “auch ohne Sicherheitsrisiko höhere Geschwindigkeiten fahren” könne. Ohne Sicherheitsrisiko?!

Unfallchirurg Dr. Christopher Spering (Universitätskrankenhaus Göttingen) ist Mitglied im Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) sowie im Vorstand des Ausschusses für Verkehrsmedizin. Er sagt: „Es geht nicht nur um die Verkehrsunfalltoten auf der Autobahn. Unser Fokus muss sich auf die Schwerverletzten verschieben. Mittlerweile weiß man sehr genau, wie langfristig die Lebensqualität der meistens recht jungen Menschen, die solche Schwerstunfälle erleben, eingeschränkt sein wird: für den Rest ihres Lebens. Im Jahr 2018 waren das auf deutschen Autobahnen 5.900 Schwerstverletzte. Menschen werden in Spezialkliniken geflogen, dort notoperiert und danach sehr lange Zeit behandelt. Danach kommen sie in eine nochmal sehr lange Rehabilitationsphase. Studien zeigen, dass gerade einmal 50 Prozent dieser Schwerstverletzten wieder arbeiten können.“ Spering betont, dass es tatsächlich einen riesigen Unterschied macht, ob man mit Tempo 130 einen Unfall baue oder mit Tempo 170. Das liege an der Physik:  Je schneller die Masse (das Auto) sich fortbewegt, desto verheerender sind die Folgen eines Zusammenpralls. Es ist weniger wichtig, ob ein LKW oder Auto dich trifft, wichtiger ist, mit welcher Geschwindigkeit der Aufprall geschieht. Die Folgen kann man in der Göttinger Klinik sehen.

Spering lädt jeden oder jede, der/die gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist, ein, mal bei ihm auf der Arbeit vorbeizuschauen: „Laufen Sie einfach mal einen Dienst lang mit mir mit. Wenn Sie dann noch gegen ein Tempolimit sind, zweifle ich an Ihrem Verstand.“

Und dann gibt es auch noch das weiche Argument, das für das Tempolimit spricht, das mir persönlich besonders wichtig ist: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der rückständige und ewig gestrige Machos die Verkehrspolitik dominieren. Man schämt sich einfach im Vergleich zu anderen Ländern. Ich möchte auch nicht das Gefühl haben, in einem Anachronismus zu leben. Da wir uns ja angeblich mitten in der Verkehrswende befinden, ist der Raser an sich zu einem Verstoß gegen die Zeitrechnung geworden. Wann wird die Verkehrspolitik sich endlich in den Strom der Zeit einfädeln? Wenigstens passt es da gut, wenn Christian Linder auf einem Fake-FDP-Plakat zum Thema 9-Euro-Ticket mit Marie Antoinette verglichen wird: „Kein Geld für ÖPNV? Sollen sie doch Porsche fahren.“ Ich hoffe auf baldige Revolution.

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Alchemie der Authenzität. Gebrauchsanweisung für ein barrierefreies kulturelles Gedächtnis

von Barbara Peveling

Der vergangene Sommer war sicherlich das internationale Reise-Comeback nach Corona. Die europäischen Länder erlebten eine rekordverdächtige Saison, während Flüsse und Seen durch den Klimawandel austrockneten, überschwemmten Touristen die südlichen Gegenden. In Griechenland ging der Massentourismus mit 16.000 Besucher*innen an der Akropolis pro Tag sogar als Rekord in die Geschichte ein. Die Schließungen während der Pandemie waren hier genutzt worden, um das Kulturerbe barrierefrei zu machen, außer einem Aufzug wurde auch der Zugang zu den Gebäuden des Denkmals betoniert. Viele Intellektuelle sahen in diesen Umbauten und Veränderungen einen Skandal. Müssen Denkmäler, Ensembles und Stätten des kulturellen Gedächtnisses wirklich allen Menschen barrierefrei zugänglich sein und werden diese damit automatisch Opfer der Demokratisierung von Wissen?

Die Weltbevölkerung wächst stetig und parallel dazu wachsen auch die Umweltprobleme. Eine Alternative, um Kulturstätten vor der Bedrohung von Massenbesuchen und Klimawandel dauerhaft zu schützen, sind diese nachzubauen, um die Originale zu erhalten oder, wenn diese aufgrund von Klimabedingungen nicht zugänglich sind, diese überhaupt sichtbar zu machen. In Frankreich wurde 2015 mit der Grotte Chauvet zum ersten Mal der Nachbau eines Kulturerbes eröffnet. Sieben Jahre später eröffnete in diesem Sommer mit dem Museum Cosquer in Marseille eine weitere und die mittlerweile dritte Replik einer prähistorischen Grotte. Diese Unterwassergrotte liegt eigentlich weit außen am Stadtrand von Marseille und am Anfang des Naturparks der Calanques.

Eine der Besonderheiten der Grotte Cosquer ist nicht nur, dass sie sich unterhalb des Meeresspiegels befindet, sondern auch, dass viele der Malereien, die ihre Wände zieren, Tiere zeigen, die heute in ganz anderen, kälteren Regionen leben, wie Bisons, Saigaantilopen, Seehunde und Pinguine. Die prähistorischen Darstellungen von Tieren wie Pinguinen sind der kunsthistorische Beweis, dass die Strände der Grotte in der Vergangenheit mit Eis bedeckt waren. Den in der Grotte vor 33 000 bis 20 000 Jahren wirkenden Künstler*innen ist es gelungen, eine der existentiellen Tragödien irdischen Lebens festzuhalten, und zwar die Auslöschung einer existierenden Biodiversität auf lange Dauer. Der große Pinguin, wie er auf den Kunstwerken der Grotte Cosquer zu sehen ist, existiert heute nicht mehr. Damals, vor 19.000 Jahren, als die Grotte von den Jäger*innen des Jungpaläolithikums benutzt wurde, war das Klima in Südeuropa deutlich kälter als heute. Die skandinavischen Länder und Kanada waren mit einer 3000 Meter hohen Eisschicht bedeckt und unbewohnbar. In Frankreich reichten die Gletscher von den Alpen bis zu den Pyrenäen. Die sogenannte Eiszeit kippte vor gut 10.000 Jahren in ein wechselndes und schließlich immer wärmeres Klima, dieser Klimawandel hält bis heute an und wurde durch den Einfluss der Menschen in den letzten zweihundert Jahren auf eine Weise potenziert, dass bald noch viel mehr Lebewesen von unserer Erde verschwinden werden.

Der Begriff Museum kommt aus dem Altgriechischen und bezeichnet ursprünglich ein Heiligtum, heute beschreibt er die Darstellung und Sichtbarmachung von Kulturgütern, moderne Tempel des kulturellen Gedächtnisses. In seinen Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel im Museum postulierte der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff die Beunruhigung, die durch einen Wahrnehmungsschock ausgelöst wird. Der Besucher soll in eine Wahrnehmungssituation gebracht werden, die seine vorherrschenden Betrachtungsmaßstäbe und Wertvorstellungen ins Schwanken bringt und somit Zugang zu neuen, unbekannten Horizonten des Wissens und der kulturellen Wahrnehmung bedeutet.

In Bezug auf die Nachbauten von historischen Kunstwerken stellt sich vor allem die Frage nach der Authentizität. Statt zwischen jahrtausendalten Steinwänden zu wandeln, stehen die Besucher*innen vor bemalten Styroporwänden. Und die Zeichnungen an den Wänden, sind nicht mit Kohle oder Steinen gemalt, sondern wurden durch 3-D Projektionen von modernen Künstler*innen reproduziert. Das Gefühl der Authentizität,  so Soziolog*innen, setzt vor allem durch die Bewegung des Besuchers im Raum ein, durch die aktive Aneignung des Ortes und weniger durch den Originalzustand der Objekte. Bei dem Besuch der Repliken stehen Besucher und Besucherinnen zwar nicht vor dem originalen Kunstwerk, aber haben doch die Möglichkeit, eine authentische Erfahrung, im Sinne von einer virtuellen Reise in das kulturelle Gedächtnis der Menschheitsgeschichte, zu unternehmen.

Im Gegensatz zu den beiden Originalen der anderen nachgebildeten Kunstwerke der Felsmalerei in Frankreich, der Chauvet– und der Lascaux-Grotte, ist die Grotte Cosquer aus Sicherheitsgründen kaum noch zugänglich. Die Künstler*innen, Architekt*innen, Wissenschaftler*innen und Handwerker*innen, die am Nachbau beteiligt waren, konnten also nicht auf die eigene Erfahrung der Betrachtung des Originals zurückgreifen. Die Replik der Höhle wurde von dem Unternehmen Déco Diffusion in Toulouse realisiert, das Team war auch bereits am Nachbau der Grotte Chauvet beteiligt. Die Künstler und Künstlerinnen mussten dabei immer wieder improvisieren. Es ist also auch Kunst in der Kunst, die Reproduktion schreibt sich in die Geschichte menschlicher Kreativität ein, die zwischen den beiden Darstellungen vergangene Zeit dehnt sich aus und die Frage nach Original und Fälschung wird in den Hintergrund gedrängt. „Plötzlich tauchte in der Nacht vor meinen Augen im Styropor die Mähne eines Löwen auf“, erzählt ein Mitarbeiter im Interview. Diesen Moment der künstlerischen Verbindung zwischen dem Original aus der Prähistorie und seiner Nachbildung in der Gegenwart beschreibt er als atemberaubend, damit wird auch deutlich, dass das, was unsere menschliche Existenz ausmacht nicht nur ein individuelles Genie ist, mit dem wir einzelne Künstler (hier bewusst männlich gesetzt) feiern, sondern ein kollektives Gedächtnis, das die gesamte Menschheit ohne Ausnahme von Geschlecht und Herkunft im Bewusstsein trägt und über Generationen weitergibt.

Die Malereien an den Felswänden wurden lange als bloße Darstellungen von schamanischen oder totemistischen Kulthandlungen und weniger als künstlerischer Ausdruck gewertet. Die Wissenschaft hat längst eingesehen, dass die frühe Kunst wichtiger Bestandteil der menschlichen Geschichte ist und damit als weitaus komplexer zu werten als es in früheren Denkansätzen der Fall war. Die Sicht auf das Fremde und Unbekannte unserer Kultur wird nicht mehr als barbarisch bezeichnet, so auch die Kunst aus der jüngeren Altsteinzeit. Dieses Wissen ist überdeckt von herkömmlichen kulturellen Stereotypen über „Höhlenmenschen“, die von ihren Instinkten geleitet, als wilde Horden, durch die damals noch teilweise vereiste Landschaft zogen. Das, was Gottfried Korff als Wahrnehmungsschock bezeichnet, gehört zur Demokratisierung von Wissen, indem genau solche Stereotypen und Vorurteile bei dem Museumsbesuch gebrochen werden. Die Alchimie der Authentizität ist nicht abhängig von dem Original, sondern von der Qualität des Erlebnisses des Ausstellungsortes.

Wer den Nachbau der Grotte Cosquer besuchen will, der muss zum alten Hafen von Marseille reisen. Hier steht die Villa de la Méditerranée, die 2013 eröffnet wurde, um Ausstellungen zu beherbergen, als Marseille europäische Kulturhauptstadt war. Dass sich der Nachbau der Höhle also einer vorgegebenen architektonischen Struktur anpassen musste, unterscheidet ihn von den anderen beiden Nachbauten von Höhlenkunst in Frankreich, genauso wie die Tatsache, dass diese Höhle eigentlich unter Wasser liegt. Und so begibt sich der Besucher auf die Reise unter Wasser. Tatsächlich ist das Gebäude der Villa ins Meer gebaut worden. Der Besucher betritt es über eine Brücke, neben dieser liegt auch das kleine Fischerboot vor Anker, mit dem Henri Cosquer und das von ihm zusammengestellte Team aus Hobbytauchern seines eigenen Verein 1991 hinaus zu den Felsen der Calanques fuhren, um die Höhle zu erforschen.

An dieser Stelle der Entdeckungsgeschichte der Grotte beginnt auch die Reise der Besucher*innen, denn diese befinden sich auf schwankendem Grund, ganz wie es Gottfried Korff in seinem Paradigmenwechsel formulierte. Mit einem Aufzug geht es hinunter in die Tiefe, denn die Grotte liegt etwa 37 Meter unter dem Meeresspiegel. Selbstverständlich reisen die Besucher*innen nicht tatsächlich in diese Meerestiefe, denn dann müssten noch aufwendigere Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, aber der Nachbau vermittelt die Vorstellung des Eintauchens in die Tiefe, der Besuch wurde so authentisch wie möglich konzipiert. Unten angekommen, dürfen die Besucher*innen in kleinen Wägelchen Platz nehmen.

Der Zugang ist barrierefrei, Menschen jeglichen Alters, unabhängig jeglicher körperlicher Einschränkungen ist der Besuch zugänglich. Mit einem Audioführer ausgestattet folgen die Besucher*innen den Parcours der Entdeckung von Henri Cosquer und seinem Team. Ein Höhepunkt des Besuches ist der Moment, als Henri seine Taschenlampe auf einen Stein ablegt und auf der Höhlenwand gegenüber wie durch Zufall, eine menschliche Hand auf der Steinwand entdeckt. Dieser Augenblick wird durch technische Affekte an den Wänden und auditive Untermalung im Audio-Guide beim Besuch der Höhle rekonstruiert, genauso wie die Entdeckung der drei Pinguine oder die auf alle Ewigkeit im Kalk gefangene Krabbe. Alle Darstellungen und Besonderheiten in der Originalgrotte haben nicht nur einen Platz in dem Nachbau, sondern werden hier auch in Szene gesetzt.

Bei dem Besuch werden also zwei Narrative parallel erzählt, zum einen die Entdeckung der Grotte selbst, zum anderen die Geschichte der menschlichen Existenz in der Region und Nutzung der Grotte über die Zeiten hinweg. Hinzu kommt noch der lange Weg von der Erforschung der Grotte bis zu ihrer Nachbildung. Die Historie wird zu einer unendlichen Geschichte, die sich selbst erzählt, die Kunst der Steinzeit erweitert die Kunst der Gegenwart, sie zieht sich wie der Faden der Ariadne selbst durch die Menschheitsgeschichte. Und mittendrin, in diesem kleinen Wägelchen, das jeweils sechs Menschen pro Besuch durch die Replik der Höhle kutschiert, sitzt schließlich der Besucher oder die Besucherin ganz allein für sich und hört und sieht und staunt. Der Zugang zu dem, was Gottfried Korff Wahrnehmungssituation nennt, ist nahezu vollständig barrierefrei. Weder Mobilität noch Sprache oder Schrift bilden eine Barriere beim Besuch, der Nachbau der Cosquer Grotte ist ein Beispiel für inklusiven Zugang zu kulturellem Wissen und stellt gleichzeitig seine Demokratisierung dar.

Der Zugang zu der Replik ist auch unabhängig von inkorporiertem kulturellen Kapital. Nach Pierre Bourdieu bedeutet verinnerlichtes kulturelles Kapital beispielsweise Lesekompetenz oder die Fähigkeit, sich komplexe Inhalte aufgrund von erlerntem Wissen zu erschließen. Mit Bildungsgebäuden wie die Grotte Cosquer und anderen Nachbauten, wird also kein etabliertes Bildungsbürgertum reproduziert. Es findet keine horizontale Wissensvermittlung statt, sondern eine vertikale, die, da barrierefrei, für breite Bevölkerungsmassen konstruiert ist. Große Massen an Besucher*innen stellen kein Problem dar, sondern, im Gegenteil, das Gebäude wurde für sie konstruiert. Vielleicht wäre  es für manche Menschen schöner, wenn ein Besuch mit dem Gefühl stattfindet, ein absolutes Privileg nur für sich allein zu erleben. Der Besuch wird spektakulärer, wenn sich mit der Betrachtung das Gefühl verbindet, zu dem Vertreter einer außerwählten Schicht zu gehören, Teil derer zu sein, die Zugang haben, zu diesem einen, so besonderen Erlebnis. Diesen Anspruch auf Exklusivität erfüllen Repliken bewusst nicht. Es ist stattdessen ihre Aufgabe die Demokratisierung von Wissen zu unterstützen und nicht die Reproduktion von Eliten. Denn auch das Gefühl, an einem sozial zugänglichen Ort zu sein, der niemanden ausschließt, kann als ein Privileg verstanden werden.

Auch dieses Versprechen hält die Replik der Grotte Cosquer. Das exklusive Erlebnis findet weniger in der körperlichen Anstrengung und Exklusivität der Beobachtung als in der geistigen und visuellen Wahrnehmung und damit im Kopf des Betrachters statt. Denn wenn man sich in der Dunkelheit der Ausstellungshalle, ausgestattet mit Kopfhörer, umgeben von der Stimme des Audioführer und des Lichts der Installationen befindet, ist man plötzlich allein mit der kreativen Darstellung aus Jahrtausenden und jenen Menschen aus der Vergangenheit, die für ihre Existenz nicht nur einen kreativen Ausdruck finden wollten, sondern diesen auch auf Dauer festzuhalten suchten. Und dass ihnen dies gelungen ist, davon zeugt der Besuch in der Replik. Es ist diese einmalige Verbindung zu dem kulturellen Gedächtnis menschlichen Daseins, die diesen Besuch zu einem einmaligen Erlebnis macht, selbst wenn wir uns als Menschen in einer Masse bewegen, so ist jeder Einzelne für sich doch einmalig, und um dieses Bewusstsein zu stärken, brauchen wir mehr barrierefreie Denkmäler. Im kulturellen Gedächtnis verankert bleibt die Geschichte der Menschheit in ihrer Einmaligkeit authentisch. Die Alchemie der Authentizität wird durch die Wahrnehmung, durch das Eintauchen in den Gegenstand der Betrachtung ausgelöst und dies einer möglichst breiten Bevölkerung barrierefrei zugänglich zu machen, ist auch Teil einer Demokratisierung von Wissen.

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Wahrheiten in der Schwebe – Zu Grace Paleys 100. Geburtstag

von Paul Jennerjahn

„Was für Erinnerungen könnt ihr jungen Leute von heute schon haben?“Es ist eine rhetorische Frage, die Jonathan Stubblefield Grace Paleys namenloser Ich-Erzählerin in Die schwebende Wahrheit stellt: „Ihr habt keinerlei Geschichtsbewusstsein; ihr habt keinen Sinn für Tragik. Was ist Elsass-Lothringen? Können Sie mir das sagen, meine Liebe? Vor welchen Problemen steht es bis heute? Das wisst ihr nicht. Nicht un-schuldig, sondern un-wissend.“ Die Ich-Erzählerin trifft Stubblefield eigentlich nur zu einem harmlosen Mittagessen, das ein Arbeitsvermittler arrangiert hat, möchte einen Job bei ihm. Stubblefield ist kein ungewöhnlicher Mann im Figurenensemble von Grace Paleys Werk. Männer, die es lieben, Frauen Vorträge zu halten, gehören dazu – und Menschen, in deren Lebens- und Familiengeschichten der Holocaust und zwei Weltkriege eingeschrieben sind wie in jene der Autorin, deren Eltern jüdische Einwanderer*innen waren.

Stubblefield sah einst den Angriff auf Pearl Harbor mit eigenen Augen. Er habe recht, sagt die Ich-Erzählerin, natürlich habe er das, antwortet Stubblefield und schließt an, wohl auf das Verhältnis von Moral und Wissen gemünzt: „Die Wahrheit pendelt sich irgendwo ein und bleibt in der Schwebe.“ Es gehört zu Grace Paleys Programm und zum Glutkern meiner Bewunderung für ihre Literatur, wie beiläufig und wie eingebettet in Alltäglichstes, in Banales bei dieser Autorin gewaltiger welt- und geschlechterpolitischer, philosophischer und geschichtlich-erinnerungskultureller Tiefgang erzählt wird. Auf Stubblefields schwergewichtigen Satz folgt die Frage Rodericks, des Vermittlers: „Kaffee?“

Aber es geht noch weiter. Vorbehaltlich ihrer schriftlichen Unterlagen sagt Stubblefield die Einstellung der Ich-Erzählerin zu. In ihren fingierten Lebenslauf schreibt der Jobvermittler anschließend auch eine vermeintliche Anstellung in der Redaktion des erfundenen Magazins „Heim und Herd“. „In Radio und Fernsehen ebenso wie mittels Annoncen in Männerpublikationen und auf Männerseiten in Zeitungen (Sport, Finanzen etc.) forderten wir die Männer auf, jeden Abend, wenn sie zur Tür hereinkamen, ihre Frauen zu fragen: ‚Was gibt´s zu essen?‘ Auf diese Weise hoben wir das Image von Frauen in der Küche allenthalben“, schließt die Jobbeschreibung. Die Ich-Erzählerin willigt ein und schickt den Lebenslauf an Stubblefield. Sie braucht den Job. Das Mansplaining des finanziell potenten Geschäftsmannes und misogyne Jobvermittlung in einem menschenfeindlichen Kapitalismus hier, die aufrichtigen, kompromisslos sich abgrenzenden Frauenfiguren dort: So einfach ist es bei Paley nie. Ihr Feminismus ist intersektional, denkt Klassismus und Rassismus mit, und ihre Politik ist eine literarische, uneindeutige, komplexe.

Mutter, Aktivistin, Lehrerin, nebenbei Schriftstellerin

Die schwebende Wahrheit ist eine fast schon untypische Erzählung für Paleys ersten Kurzprosa-Band The Little Disturbances of Man, der 1959 bei Doubleday erschien, als die New Yorker Autorin 37 Jahre alt war. Bis dahin hatte sie, während sie Studentin war, ihre Kinder großzog und als Lehrerin in sozialen Brennpunkten arbeitete, ausschließlich Gedichte geschrieben, aber kaum veröffentlicht. Kein Geringerer als W.H. Auden hatte an der New School for Social Research ihre Gedichte gelesen, sie zu ihrer eigenen Stimme ermutigt, und später war sie in Kontakt mit Norman Mailer. Nach ihrem Debüt begann Paley in den 1960er Jahren ihre akademische Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College, an dem sie über 20 Jahre lang Creative Writing unterrichtete.

Parallel engagierte sie sich immer ernsthafter politisch. Mit Nachbar*innen aus der West 11th Street, wo Paley über Jahre wohnte, gründete sie das Greenwich Village Peace Center, demonstrierte für das Recht auf Abtreibung und gegen den Vietnam-Krieg und atomare Aufrüstung. Mehrmals wurde die Schriftstellerin und Aktivistin verhaftet. Nachdem sie und andere 1978 ein Anti-Atomwaffen-Banner auf dem Rasen des Weißen Hauses angebracht hatten, wurde gegen Paley eine sechsmonatige Bewährungsstrafe verhängt. Das FBI führte 30 Jahre lang eine Akte über sie, listete Grace Paley als Kommunistin.

Immer war das Terrain politisch, auf das Reisen die Autorin führten: Nicaragua und El Salvador, gezeichnet von der US-Südamerikapolitik, China und Russland, die sozialistischen Vorzeigestaaten, Frankreich und Schweden, wo Paley mit anderen Vietnamkriegsgegner*innen auf einer Informationsreise Kriegsdienstverweigerer traf, Israel. Zuhause in den USA lebte die Schriftstellerin bald gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Bob Nichols in Thetford, Vermont. 1974, nach zahlreichen Veröffentlichungen in Literatur-Zeitschriften, erschien Paleys zweiter Erzählband Enormous Changes at the Last Minute, 1985 der dritte, Later the Same Day, erstmals bei Farrar, Straus & Giroux. Der kleine Verlag Granite Press veröffentlichte im selben Jahr endlich Grace Paleys ersten Gedichtband Leaning Forward, später erschienen Bände mit Vermischtem und Essays.

Ihr Debüt, The Little Disturbances of Man, versammelt Stories über junge Frauen und Mütter, über das Verhältnis von Kindern und Eltern. „Mütter ziehen Söhne groß, was oft ein politischer Akt ist“, sagte Paley über ihre Figuren in einem Gespräch mit der Autorin Cora Kaplan. Ihre Frauenfiguren sind Liebhaberinnen, Hausfrauen, Schülerinnen, Enkelinnen, Geschiedene und Patchwork-Mütter, die nach Strategien der Selbstermächtigung gegenüber problematischen Männern suchen. Schon in den Little Disturbances of Man geht es um jüdische Identitätspolitik wie in Die lauteste Stimme, wenn eingewanderte jüdische Eltern darüber streiten, ob ihre Kinder eine Rolle im Krippenspiel übernehmen sollten, oder in Zwei kurze, traurige Geschichten aus einem langen und glücklichen Leben, der ersten Story über Paleys Alter Ego Faith Darwin. Aber die Geschichten spielen weitestgehend in den privaten Kosmen, den eigenen vier Wänden, im Alltagsleben ganz gewöhnlicher Menschen, stärker als in Paleys späteren Büchern. Dennoch, oder gerade deshalb, antwortete die Autorin Mary Elsie Robertson und Peter Marchant 1982 in einem Interview: „Ich würde sagen, dass mein Interesse am Alltagsleben gewöhnlicher Menschen immens politisch ist.“

Plastische fragile Männer

Die erzählerisch stärksten Geschichten sind schon in diesem Band die personal in der dritten Person erzählten wie Der zartrosa Braten. Anna und Peter treffen einander im Park. Sie sind die geschiedenen Eltern von Judy, auf die Peter aufpassen soll, damit Anna Zeit zum Einrichten ihrer neuen Wohnung hat. Kurzerhand will Peter helfen, engagiert eine Freundin als Sitterin von Judy, und gemeinsam steigen die beiden in Annas Apartment hinauf. Peter staunt über die Wohnung, schwankt zwischen Komplimenten und Mansplaning, dann landen die beiden im Bett. Es ist diese Art von Sex: Peter „nahm sie ohne ein Wort direkt in Judys Zimmer auf Judys Bett. Nachdem er so die Besitzverhältnisse klargestellt hatte, belohnte er sie mit Küssen.“

Die Erzählinstanz kommentiert kaum, zeigt die Figuren schlagfertig und entlarvend in Dialogen, lässt die Dinge für sich sprechen und Leerstellen und Uneindeutigkeiten stehen. Es ist eine Geschichte über Male Fragility, über weibliches Verlangen und weibliche Selbstermächtigung. Peter, als er erfährt, dass er gerade Sex hatte mit Anna, die längst wieder mit einem Mann liiert ist, auf dessen Konto große Teile der bewunderten neuen Wohnung seiner Ex gehen: „Mein Gott, Anna! Dann war das ja ganz schrecklich!“ Parkett, Flügeltüren, Glaspaneele, Harteichenholz-Türen und Kronleuchter gehören zum Inventar des Apartments.

Aus solcher Gegenständlichkeit, solchen Details ihrer Wohnungen sind das Fleisch und Blut von Paleys Figuren. Sie werden dreidimensional, weil sie nicht einfach nur behauptet sind und nie Schablonen bleiben. Peter inszeniert sich als der joviale Gönner, nimmt sich scheinheilig, was er will, aber er zahlt Unterhalt und leistet Care-Arbeit, ist kein Arschloch, wie kaum eine Männerfigur in Paleys Geschichten. Man sieht ihn plastisch vor sich, wenn die Autorin ihn sagen lässt, sein Lebensstil sei „nicht mehr so egozentrisch und selbstsüchtig wie früher. Jetzt hat es eine richtig philosophische Grundlage.“ Seine proteinreiche Ernährung, viel Gemüse und Grapefruits, neuerdings viel Zeit an der frischen Luft, in der Sonne, und Nahrungsergänzung mit einer Vitaminmischung, die ihn „zwölf achtzig pro hundert Stück kostet“.

Auf der richtigen Seite stehen mit Fallstricken

Die Frauen in den Erzählungen aus Enormous Changes at the Last Minute, Paleys zweitem Buch, das wie das erste Sigrid Ruschmeier ins Deutsche übersetzte, sind älter geworden, manche ihrer Söhne und Töchter in der Pubertät, Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe. Man engagiert sich politisch, lebt ökologisch bewusst, streitet wie Dennis und Alexandra in der titelgebenden Erzählung Enormous Changes at the Last Minute in kompetitiven Affären darum, wer nachhaltiger lebt und wohnt. Man geht demonstrieren gegen den Vietnam-Krieg oder organisiert Mieter*innen-Streiks, und nach wie vor hockt man mit den jüngeren Kindern und der Nachbarschaft auf dem Spielplatz. Faith im Baum. In dieser längsten Erzählung des Bandes beobachtet Faith Darwin von einem Ahornast aus den Spielplatz, hört die Gespräche mit, mischt sich ein. Nicht nur Faith diskutiert mit, auch ihre Söhne Tonto und Richard, Anna und Judy, Mrs. Raftery und Dotty Wasserman aus Das Preisausschreiben, der ersten Erzählung, die Grace Paley nach Jahren der Gedichte schrieb, tauchen wieder auf in Faith im Baum, einer Art Figurenverzeichnis von Grace Paleys Werk, aber auch in anderen Texten dieses und des dritten Bandes.

Wie schon in The Little Disturbances of Man ist Faith die liberale, progressive alleinerziehende Mutter, die ihren Söhnen auf dem Spielplatz erklärt, dass sie trotz ihres Niedriglohnjobs längst aufs Land hätten ziehen können, dass sie aber „hier in dem grässlichen Slum“ geblieben sei, um nicht in einer Weißen Wohlstands-Parallelgesellschaft abzutauchen. Es folgen freche bis schlagfertige Kinder und heimlich Marihuana rauchende Elternratsvertreter, an die sich Faith und Kitty erinnern. Mrs. Junius Finn mahnt in den Gesprächen, vor allem an Faiths Adresse gerichtet: „Gebt den Reichen nicht für alles die Schuld“. Anschließend tönt ein kleiner Demonstrationszug durch den Park, in dem der Spielplatz liegt, Plakate mit napalmverbrannten Babys in die Höhe gereckt. Doug, der Quartierspolizist, den alle kennen, hat nichts Besseres zu tun, als die Demonstration für illegal zu erklären und aufzulösen, und niemand unter den Zuschauenden auf dem Spielplatz, die sich als politische Menschen begreifen, sich auf der richtigen Seite wähnen, echauffiert sich darüber ernsthaft.

Richard, Faiths Sohn, ist außer sich: „Warum haben sie sich nicht gegen den doofen Bullen gewehrt und Leck mich gesagt?“ Das Ende von Faith im Baum offenbart dann aber auch eine der seltenen Schwächen von Paleys Erzählen. Aus Protest malt Richard „mit flamingorosa Kreide auf das nächste Asphaltstück: Würden Sie ein Kind verbrennen? und darunter, ein wenig größer die Antwort in rot: Wenn´s sein muss.“ Ein Zitat der Plakate, die die Demonstrierenden in die Höhe hielten, anspielend auf Vietnam. Hier hätte die Erzählung enden müssen, mit der Anklage Richards, eines Kindes, die Reaktionen unter den Erwachsenen provozieren will, aber offen gelassen hätte. Faith, ihre Ich-Erzählerin, lässt Paley jedoch noch in einem kurzen behauptenden, nicht szenischen Absatz berichten, wie Richards Protest eine Kehrtwende in ihrem Leben markierte. So gerät das Ende zu stark auserzählt, zu geschlossen.

Teilnehmende Beobachterin

Nie war Grace Paley nur Schriftstellerin, immer begriff sie sich als teilnehmende Beobachterin, ging als Aktivistin oder Nachbarin ins Feld, und ihre Literatur wäre sicherlich eine andere, selbstreferenziellere geworden, wäre sie eine Schreibtischautorin gewesen. Man merkt es den Idiomen der Figuren an, aber auch dem Inhalt von Alexandras Gefrierfach oder den Möbeln in Annas Wohnung. Man merkt diesen Erzählungen eine Schriftstellerin an, die im engsten sozialen Radius mit größter Sehschärfe beobachtet, genau hinhört, die aber auch hinausgeht, demonstriert und reist, die eigenen Blasen, das eigene Milieu verlässt, und die sich so ein enormes Weltwissen aufschichtet, mit dem sie ihren Figuren Leben einhaucht.

Über die zweite Erzählung, die Paley schrieb, verriet sie Blanche Wiesen Cook, der Moderatorin von Jewish Women in America, der Anfang ihrer Arbeit an Goodbye and Good Luck sei deren erster Satz gewesen, den die Tante ihres Mannes fallen gelassen habe, als Paley einmal für sie kochte. Mit kinnlangem grauem Haar, im königsblauen Überzieher, darüber eine schwarze, mit Blumen bestickte Weste, tritt Paley in der Sendung nahbar und freundlich, aber bestimmt auf. Sie erzählt von ihrer Kindheit in der Bronx. Schon mit neun oder zehn Jahren sei ihr in der Straße, in der sie mit ihren aus der Ukraine emigrierten Eltern, der Großmutter und der Tante lebte, aufgefallen: „That people were out of work and hanging around, that men just didn´t know what to do with themselves.“ Bis in ihre späten Arbeiten hinein bleibt von Paley diese psychologisch-habituelle Beobachtungsgabe, die mich so inspiriert.

Die Gedichte

Die alltägliche Szenerie ist auch der Kern ihrer Lyrik, die Mirko Bonné ins Deutsche übertragen hat. Es sind dynamische, prozesshafte Gedichte über Bewegungen und das Werden. Lyrische Ichs, die spazieren gehen in Lower Manhattan, an der Battery, der Jane Street oder der Ninth Avenue. Kinder, die in der Subway-Station Clark Street in Brooklyn zu ihren Vätern sprechen. Redende Vögel, Spaziergänge durch die Natur, Busfahrten. Männer und Frauen, die ihre alternden Körper bemerken und die sich an die jüdischen Verwandten erinnern, die einst in die USA auswanderten.

Der Tonfall ist von einer schwebenden Leichtigkeit, spielt manchmal ins Mündlich-Kolloquiale der Prosa. Weil sich Paley einschreibt in die gegenständliche, visuelle Tradition US-amerikanischer Poesie ihres Jahrhunderts, ist ihre Lyrik zugänglich, aber mitnichten simpel. „wir sind wie jede / grün wachsende Maschinerie // fahren auf der tageslichtstrecke / ins dunkel“, so die beiden abschließenden Zweizeiler von Das leben ist so riskant. Ein Gedicht, dessen erster Vers auch sein Titel ist, beginnt so: „Da stieg die Zeit   die Meisterin im Fließen / selbst an“. Im Handumdrehen projizieren Metaphern von berückender Schönheit existenzielle Fragen in Sonntagsspaziergänge in und um New York oder Busfahrten über Land. Im Bus ist vielleicht Paleys größtes Gedicht. „Irgendwo zwischen Greenfield und Holyoke / wurde aus Schnee Regen / und ein Kind ging durch mich hindurch / wie einer sich durch Nebel schiebt“, heißt es zu Beginn dieser Verse, in denen ein lyrisches Ich im Bus sitzend das eigene Sein im Konjunktiv befragt. Könnte ich nicht auch ein anderes Leben leben? Könnte ich noch einmal von vorn beginnen? Fragen, eindringlich gestellt, in eine knappe, aber doch plastische Szene hineinkomponiert, die ich mir bei jedem Lesen dieses Gedichts wieder selbst stelle.

Paleys Lyrik ist unprätentiös, benötigt kein Zitat, keine Hermetik, und ihre Abgründe tun sich zwischen den Zeilen auf, im wahrsten Sinne des Wortes, wie Mirko Bonné im Nachwort zu seinen im Schöffling Verlag erschienenen Übertragungen schreibt: Den Gedankenstrichen Emily Dickinsons ähnlich strukturieren zu lang geratene Leerzeichen Paleys Gedichte. Als ich durch die Wälder ging endet so: „Ein heilloses Sich-Dehnen ins Licht / bloß um am Leben zu bleiben   doch wenn du / gern gelebt hast   dann machst du das so“. Die Rede ist von einem harmlosen Ahornwipfel, der sich zum Himmel emporstreckt, aber diese Leerstellen innerhalb des Verses, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, lassen mich in Paleys Gedichten immer wieder stocken. Augenblicke, in denen man innehält. Resonanzräume auf dem Papier, in denen die Schönheit der Bilder nachklingt, ihre Vieldeutigkeiten sich schwebend ausbreiten, das Nachdenken über das eigene Leben in Schwingung versetzen.

Kritische Repräsentation in Later the Same Day

Mit ihrem dritten und letzten rein erzählenden Band, Later the Same Day, den Mirko Bonné ebenfalls übersetzte, gelingt Paley 1985 noch einmal eine Neujustierung des Politischen ihrer Literatur, eine literarische Entwicklung. Die Kinder der Mütter in diesen Stories sind ausgezogen, die Eltern der Mütter schon lange im Altenheim, und die ersten Freundinnen sterben. Man unternimmt wie die Autorin Reisen nach China, in der Erzählung Woanders. Mit den Annehmlichkeiten ist es für die Reisegruppe um Faith schnell vorbei, denn Mister Wong, der Reiseleiter vor Ort, bezichtigt Freddy, ohne zu fragen einen chinesischen Bauern fotografiert zu haben. Drei Monate nach der Rückkehr ist ein Dia-Abend geplant, an dem man gemeinsam die Fotos der Reise studieren will, und Joe kommt zu spät. „Muss euch erzählen, was passiert ist, sagte er.“

Er sei durch die South Bronx spaziert, wo er sonst mit den Kids seines Film-Workshops unterwegs sei, und dann habe er plötzlich die perfekte Szenerie vor sich gehabt, von der noch Aufnahmen gefehlt hätten. Bei seinem Kameraschwenk seien aber nicht nur die oberen Stockwerke des Häuserblocks in die Aufnahme geraten, sondern auch eine „Gruppe von Typen auf einer der Vortreppen“, Latinos, wie sich dann herausgestellt habe. Einer von ihnen habe Joe gejagt, ihm die Kamera entrissen, sie später jedoch auf Geheiß von Paco, dem Anführer der Gruppe, zurückgegeben. Den Film habe Joe behalten, aber die Kamera den Jungs überlassen wollen. Mehrfach habe Paco abgelehnt. „Will ich nicht – bist du taub? No. No.“ Joe habe ihnen die Kamera dann in die Hand gedrückt. „Dann machte ich, dass ich wegkam.“ Als er den Freund*innen zu Ende erzählt hat, bittet Joe darum, aus seiner Geste der verschenkten Kamera „bloß nicht so ein großes marxistisches Ding“ zu machen.

Auch in Zagrowsky erzählt spielt Faith eine Hauptrolle, diesmal von außen skizziert vom pensionierten Apotheker und Ich-Erzähler Zagrowsky. Mit seinem Schwarzen Enkel Emanuel trifft der Weiße Zagrowsky auf dem Spielplatz auf Faith, die früher einmal Kundin seiner Apotheke war. Im Gespräch mit ihr erinnert er sich. Einmal brachte er Richard, Faiths Sohn, spät nachts Antibiotika, als der Säugling 40 Grad Fieber hatte. Einmal harrten Faith und ihre Freundinnen vor Zagrowskys Apotheke aus. „Sie stehen draußen und haben Schilder. Zagrowsky ist ein Rassist. Jahre nach Rosa Parks weigert sich Zagrowsky Schwarze zu bedienen. Es ist eingraviert, genau hier. Ich zeige ihr, wo mein Herz ist.“

Dann lässt der verletzte Zagrowsky durchblicken, dass Faiths Clique wohl nicht ganz unrecht hatte. Als ihr Gespräch auf Netti, seine zunehmend immobile Frau, kommt, erinnert Zagrowsky, wie sie neulich in der U-Bahn einen Schwarzen bat, ihr beim Aufstehen zu helfen. „Sagt er zu ihr: Dreihundert Jahre habt ihr mich unten gehalten, da bleiben Sie mal schön zehn Minuten unten sitzen. Netti, fragte ich sie, hast du ihm denn nicht gesagt, dass wir einen kleinen Jungen großziehen, der braun ist wie eine Kaffeebohne? Er hat aber doch recht, sagt Nettie, haben wir gemacht: Wir haben sie unten gehalten.

Wir? Wir? Meine beiden Schwestern und mein Vater, die wurden Hitler 1944 zum Abendessen gebraten, und du sagst wir?“

Beinahe fetischisierend wirkt dann, wie die woke Faith auf ihrer Frage insistiert, was es denn nun auf sich habe mit diesem Schwarzen Kind bei Zagrowsky. Am Schluss tauchen auf dem Spielplatz junge Eltern auf, ihre Babys auf die Rücken der Vorzeige-Väter geschnallt, und einer von ihnen geht auf Zagrowsky und Emanuel zu. „Als ob das eine ganz normale freundliche Frage wäre, fragt er, indem er auf Emanuel zeigt: Gottchen, was ein niedlicher Bengel – wem seiner ist der?“

Es ist eine beiläufige Dialektik, ein ständiges Aber gegenüber dem erwartbaren Urteil, es sind vorläufige Wahrheiten und Fragen, die Paley die Wahrheit feststellenden Hauptsätzen vorzieht, ohne je didaktisch zu werden. Wie kompliziert es in Wahrheit ist, gut zu sein, sich aus den eigenen Verstrickungen mit einer Gesellschaft zu lösen, deren Maßstäbe man ablehnt. Wie schnell sich Progressivsein, das Politische im Alltag in Widersprüche verwickelt.

Politik der Literatur

„Für mich“, bekannte Grace Paley Joann Gardner gegenüber, „besteht die eigentliche Funktion der Literatur darin, dass sie beleuchtet, was bis dahin nicht zu sehen war. Man hebt einen Stein auf, guckt darunter und entdeckt dort eine Welt für sich.“ Spätestens mit ihrem dritten Erzählband steht fest, wie unerschütterlich Paleys Glaube an eine Politik der Literatur ist. Zum einen lässt sie Faith, lässt sie selbst den mürrischen, uneinsichtigen Zagrowsky spüren: Wie gesprochen und dargestellt wird, prägt die Wahrnehmung der Welt fundamental, und die Welt ist immer eine wahrgenommene. Die Beschaffenheit der Repräsentationen, der Sprache und der Erzählungen, kann Wirklichkeit transformieren – das ist das literarisch Neue der späten, stärker poetologisch selbstreflexiven Grace Paley. „Geschichtlicher Fortschritt wird zum großen Teil durch Sprache bewirkt“, sagte sie zu Cora Kaplan. Zum anderen demonstriert auch Later the Same Day eindrucksvoll, wie differenziert diese Autorin im Kleinen, im Alltäglichen von der großen materiellen Politik erzählen kann.

Wahrscheinlich war es lange nicht so schwierig, politische Literatur zu schreiben wie heute. Die Aufmerksamkeitsökonomie des gesellschaftlichen Gesprächs begünstigt Eindeutigkeit, die man liken und skandalisieren kann. Die Diskurse sind polarisiert. Das Politische braucht mehr denn je Entschiedenheit, solange der spätmoderne Mensch unter Hochdruck an der Vernichtung seiner biophysikalischen und sozialen Lebensgrundlagen arbeitet.

Doch Entschiedenheit des Aufbegehrens allein, „das ist Stoff für ein Pamphlet, reicht aber nicht für einen Roman“, schrieb Baldwin in Everybody´s Protest Novel, dem ersten Essay aus seinen Notes of a Native Son. Das Literarische, das mehr sein will als Pamphlet, als Binaritäten und Zuspitzung, benötigt Uneindeutigkeit, Ambiguität, muss subtil sein, sonst bleibt es eindimensional. Dass sie Politik in einer so verstandenen Literatur erzählt hat, ist das Faszinosum Grace Paleys. Ihr Werk ist auch die literarisch aufspannbare und jedenfalls gegenwärtig völlig utopische Verheißung einer solidarischen politischen Linken, die sich nicht spalten lässt und die sich selbst nicht spaltet in identitätspolitische Kämpfe gegen die Gewalt der Repräsentationen und Zuschreibungen einerseits, den Widerstand gegen die materiellen Verhältnisse im spätmodernen Hyperkapitalismus andererseits.

Grace Paley ist eine große Autorin, weil sie das gewöhnliche Leben des Alltags befragt: Könnte die Welt in einem erkenntnistheoretischen Sinne wie im Sinne eines politisch-utopischen Möglichkeitsraums nicht ein wenig anders, komplexer, aber damit auch reicher sein als die, für die man sie – nicht zu unrecht – immer gehalten hat?

Am 11. Dezember 2022 wäre Grace Paley 100 Jahre alt geworden.

Prompt: New york in wintera certain sadnessthe shadow of a woman in a coat.

Ein Blick ins Nichts: Verschwörungsglaube in der Literatur

von Sebastian Galyga

Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.

Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun? 

Die Welt als Komplott

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1]  die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.

Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.

Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.

Die Welt als Roman

Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.

Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.

Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.

Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.

Die Leerstelle aushalten

Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.

In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.

Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.

Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.

Der Lohn der Freiheit

Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.

Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)

[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz

[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.

[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein. 

Beitragsbild von Manh LE

Ein bequemer Selbstbetrug – Über Marie Luise Knotts „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“

von Timothy John Brown, Eva Tanita Kraaz, Rita Maricocchi

Der Alltagsdiskurs und die mediale Öffentlichkeit der Bundesrepublik haben ein anhaltendes Problem: Sie übersehen die Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland und delegitimieren ihre Stimmen. Trotz der langen Geschichte des antikolonialen und antirassistischen Aktivismus von Schwarzen Menschen in Deutschland, wie May Ayim oder Katharina Oguntoye in den 1990ern und Natasha A. Kelly, Sharon Dodua Otoo oder Jasmina Kuhnke heutzutage, ändert sich dieser Missstand nur unter deren großer Anstrengung und schleppend. Statt ins eigene Land geht der weiße Blick nämlich meist in die USA. Jeanette Oholi will diesem Ungleichgewicht mit ihrer Forschung entgegenwirken, sie bringt das Problem auf den Punkt: „Allzu oft wandert der Blick in die Vereinigten Staaten, wenn es um Schwarze Identitäten, Rassismus, Polizeigewalt und Befreiungskämpfe geht.“ 

Die Gründe dafür, dass Schwarzsein in Deutschland weiterhin automatisch als vermeintlich fremd gelesen wird, sind vielfältig. Schon Oholis Formulierung suggeriert, dass es der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft willkommen ist, sich mit dem Rassismus der anderen zu beschäftigen, statt mit dem eigenen. Dieser bequeme Selbstbetrug ist kaum zu leugnen, hilft er doch auch, die koloniale Vergangenheit Deutschlands zu vertuschen. Der Zusammenhang steht darüber hinaus in einer verzwickten transatlantischen Tradition – die wenig beachtet wird. Es ist eine Geschichte, die um Schwarze US-amerikanische Intellektuelle wie W. E. B. Du Bois oder James Baldwin nicht herumkommt. Sie hatten das prä- bzw. post-nationalsozialistische deutschsprachige Europa im Kontrast zu den USA der Post-Slavery-Era als positiv in ihrem Umgang mit Schwarzen dargestellt: Eine Darstellung, die statt in ihrer strategischen Natur erkannt zu werden, gern als deutscher Ausweis für Antirassismus missverstanden wird – dazu schrieben zuletzt essayistisch Ellwood Wiggins und Gianna Zocco. Zu dieser historischen Verwicklung gehört auch die kulturelle Aneignung Schwarzer US-amerikanischer Kultur von Jazz über Soul bis Hip Hop, deren subversive Ursprungskontexte für weiße Deutsche wahlweise ganz profane Neuerungen der Unterhaltungskultur mit sich brachten, die Fetischisierung Schwarzer Körper bedeuteten und/oder klein- bis großbürgerlichen Jugendlichen zu Abgrenzungsstrategien gegenüber ihrem Elternhaus oder dessen Geschichte verhalfen – längere Studien haben dazu Priscilla Layne mit „White Rebels in Black” und Moritz Ege mit „Schwarz werden” publiziert. 

Zu dieser transatlantischen Geschichte gehören auch die Geflüchteten vor dem nationalsozialistischen Regime, jüdische Emigrant*innen in die USA, die sich, durch ihre eigenen Erfahrungen sensibilisiert, selbst mit Interventionen in das neue Land einbrachten. Eine dieser Exilant*innen ist Hannah Arendt: die transatlantische Denkerin gegen den Totalitarismus, die intellektuelle Ikone der Linken, die leider nicht als Poster Child für Antirassismus taugt. Der Grund dafür ist unter anderem ihr Essay „Reflections on Little Rock“ (1958), in dem sie sich zwar in einem nachträglich hinzugefügten Vorwort als Jüdin mit Schwarzen Interessen solidarisiert, im eigentlichen Text aber gegen die Desegregierung von US-amerikanischen Schulen ausspricht – und das sehr öffentlichkeitswirksam. Angesichts des Einsatzes der Nationalgarde zum Schutz der Schwarzen Schüler*innen hatten die Ereignisse um Little Rock nationale Aufmerksamkeit erlangt und tragen für die USA bis heute historisches Gewicht. Der Text ist beileibe kein Ausrutscher: Auch ihr imperialismuskritisch intendiertes Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951, dt. 1955) reproduziert passagenweise den kolonisatorischen Blick. Im zwanzig Jahre später erschienenen Essay „Macht und Gewalt“ polemisiert sie im Rahmen der Forderung für eine grundlegende Reform der Universität gegen Affirmative Actions zugunsten Schwarzer Studienanwärter*innen („Aufnahme unqualifizierter Studenten“) und gegen die Einrichtung von Seminaren aus dem Rahmen der Black Studies („blödsinnige[] Kurse“).

Diese Rassismen in Hannah Arendts Werk sollten eigentlich nicht unbekannt sein: Seit Kathryn T. Gines 2014 ihre Monografie zu dem Thema publizierte, gab es wiederholt Veröffentlichungen dazu. Mitunter wird die Debatte aufbereitet für eine breitere Öffentlichkeit geführt, etwa in einem langen Gespräch von René Aguigah mit Iris Därmann im Deutschlandfunk Kultur. Zu Gines’ Buch liegt allerdings bis heute keine deutsche Übersetzung vor. Es scheint, als sei Hannah Arendts Status als Säulenheilige kaum angetastet. Wie sähe aber eine zugleich wirksame und faire Annäherung aus?

Marie Luise Knott, die selbst vielfach und prominent zu Hannah Arendt publiziert hat, gibt ihren Leser*innen ein knappes Buch mit „17 Hinweisen“ zu diesem Komplex an die Hand (370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison). Ausgangspunkt ist die kritische Reaktion des Schwarzen Schriftstellers Ralph Waldo Ellison auf Arendts Little-Rock-Essay. Er äußerte sich dazu einige Jahre nach dessen Veröffentlichung 1965 in einem Interview. Hannah Arendt zeigte sich nach der Lektüre dieses Interviews einsichtig und schrieb einen Brief – und es folgte nichts. Es gibt keine Antwort bei Arendt, keinen Entwurf dazu in Ellisons Nachlass, nicht mal Lesespuren lassen sich in Arendts Exemplaren seiner Bücher ausmachen. Was auf den ersten Blick nach einer archivarischen Sackgasse aussieht, ist für Knott der Ort, um weitere Wege zu ertasten, die eigene Position zu justieren und Hannah Arendt geschichtlich versiert sowie unter Einbezug der problematischen Äußerungen neu zu platzieren – in einem angemessenen Ton.

Trotz der Ausgangslage ist Knott nämlich nie verbissen: Das lose Strukturprinzip der in sich runden Hinweise ermöglicht eine sensible Betrachtung einzelner Ereignisse, Figuren, Texte und ihrer Beziehungen zueinander. So wird ein Vergleich der Assimilationsversuche in die Mehrheitsgesellschaft als Thema in Ralph Ellisons Roman Der Unsichtbare und in Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen diskontinuierlich, teils elliptisch über mehrere Abschnitte hinweg erzählt. Mit derselben Leichtigkeit flicht Knott thesenhafte Sentenzen über die verschiedenen Materialien, Vorgänge und Institutionen ein: „Jedes Lesen ist ein Gespräch“, „Essays sind Exkursionen“, „Briefe wie Träume sind aufgeschobene Begegnungen“. Sie helfen dabei, entsprechende Rezeptionsmodi anzudeuten und sind zugleich ein charakteristisches Element für Knotts genuin essayistischen und zugleich erkenntnisfördernden Stil.

Knott rollt Wesentliches auf, indem sie nebensächlichen Details eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das passiert schon im Titel: 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. So lauteten die Adressen von Hannah Arendt und Ralph Ellison. Sie lebten „einen Zahlendreher entfernt“ und doch wohnte sie „im jüdischen Einwandererviertel der Upper Westside, er in der Gegend um Sugar Hill, dem ehemaligen Zentrum der Harlem-Renaissance“. Die Hervorhebung der Adressen deutet an, dass sich diese Gruppen scheinbar ähneln, nämlich durch den Fakt ihrer Marginalisierung, um zugleich klarzustellen, dass sie sehr unterschiedlichen Diskriminierungsformen ausgesetzt waren, nämlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus und dem Rassismus gegen Schwarze in den USA.

Knott skizziert somit das Grunddilemma, das Michael Rothberg mit dem Begriff multidirektionales Erinnern benannt hat und in das sie später auch Hannah Arendts zweifelhafte Intervention über Little Rock einbettet:

„Da Schwarze wie Juden jeweils verfolgte Minderheiten waren, trug die Parallele bis zu einem gewissen Grad; doch die Ausgangslage war eben doch grundverschieden. Hannah Arendt ließ außer Acht, dass man, das lehrt uns auch die derzeitige Auseinandersetzung über multidirektionales Erinnern, letztlich den Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA parallel, geschweige denn gleichsetzen konnte. Es gab Parallelen, doch die Juden in Europa hatten keine Sklavengeschichte. Und bei aller Diskriminierung, ja Verfolgung hatte schon die Generation von Arendts Großvater die Möglichkeit gehabt, zum Stadtverordneten gewählt zu werden. Und Arendt selbst hat nie um ihr Abitur bangen müssen, weil sie eine Jüdin war.“

Explizit rekurriert Knott zwar lediglich auf die angeheizte Debatte um das multidirektionale Erinnern in Deutschland, eigentlich steht aber ihr ganzes Buch Exempel dafür, wie produktiv und angemessen das Konzept sein kann, wenn es gewissenhaft zum Tragen kommt. Immerhin erzählt sie im Sinne des multidirektionalen Erinnerns unterschiedliche Unterdrückungsgeschichten in ihren Berührungspunkten. Sie komponiert an ihnen entlang eine ambivalente Erzählung, die vor allem der impliziten Zielgruppe, einem weißen, deutschsprachigen Publikum, wahrscheinlich kaum bekannt ist: Die der jüdisch-Schwarzen Solidaritäten und Fallstricke in den USA – und im selben Zuge die eben nur halbvertraute Geschichte von US-amerikanischem anti-Schwarzem Rassismus und Schwarzem Widerstand. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Chronologie, die Knott behauptet, wenn sie von Rassismus als einem „Produkt der Sklaverei” schreibt, das ein „gewalttätiges Konstrukt zur Aufrechterhaltung von white supremacy” sei, die Tatsachen stark verzerrt – auch zugunsten von Nationen, die nicht in die US-amerikanische Sklavereigeschichte verwickelt waren. Zudem wurde Martin Luther King Jr. natürlich nicht in Chicago, wie im vorliegenden Buch angegeben, sondern in Memphis erschossen. Diese Irrtümer tangieren kaum den Eindruck der ansonsten sorgsamen Auswahl von Schauplätzen, der sensiblen Darstellungen der Zusammenhänge und der kenntnisreichen Einbettung von Hannah Arendts eigener Gedanken sowie deren Entwicklung.

Da war zum Beispiel Barney Josephson, ein Sohn lettischer jüdischer Emigranten, der 1938 den ersten desegregierten Jazzclub in New York gründete. „Erschrocken“ habe er zuvor miterlebt, „wie den Schwarzen selbst im eigenen Viertel nur die hinteren Stehplätze des Zuschauerraumes zur Verfügung standen, obwohl ihre Leute auf der Bühne sangen.“ Knott erwähnt auch die Autorschaft von „Strange Fruit“, einem eindringlichen lyrischen Text über ein Lynching in den US-amerikanischen Südstaaten. Bekannt wurde er durch die Interpretation Billie Hollidays 1939, geschrieben hatte ihn Abel Meeropol, dessen Eltern aus Osteuropa in die USA emigriert waren. Diese Geschichten der Solidarisierung reichen weit bis in das Civil Rights Movement hinein. Sie scheinen im US-amerikanischen Kontext logisch, so erwähnt Knott: „Auch damals waren Juden, das vergisst man heute oft, in den USA immer wieder Hass und Diskriminierung ausgesetzt, wurden als orientals beschimpft.“

Zugleich wird ersichtlich, dass die vielzähligen Allianzen doch eine langwierige und nachhaltige Institutionalisierung vermissen ließen – zumal der prekäre Status von Jüd*innen in den USA insbesondere bis in die 1950er Jahre vergleichsweise schnell abnahm und ihnen viele weiße Privilegien zugestanden wurden. Der gemeinsame Kampf gegen Marginalisierung vereinzelte sich damit. Jüd*innen wurden Teil der Mehrheitsgesellschaft, aus der „niemand von höchster Stelle aus die Schwarzen und die Indigenen um Verzeihung bat“. „Niemand initiierte so etwas wie eine Aufarbeitungskommission“, weder der antirassistische gesellschaftliche Wandel, noch die gleichen Rechte für Schwarze seien effektiv durchgesetzt worden. So blieb die Distanz zwischen (jüdischen) Weißen und Schwarzen bestehen. Man „ahnt die Ferne zwischen den Kulturen und auch die Bemühungen vieler Weißer, diese Ferne zu erhalten. Auch Arendt war in dieser Hinsicht eine ‚Weiße‘, die sich schwarzen Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht zuwandte.“

Historische Texte und Texte aus anderen Kulturen stellen für Knott auch die Möglichkeit dar, „die Enge unserer eigenen Sprache, Metaphern, Begriffe zu transzendieren“. Der Little-Rock-Essay ermöglichte und ermöglicht Knott die Rolle der Privatsphäre für Hannah Arendt zu erkunden: „Folgt man für einen Moment der Argumentation aus ‚Little Rock‘, so fällt auf, in welch uns ungewohntem Maße Hannah Arendt dort die Privatsphäre verteidigt.“ Was hier greift, ist Hannah Arendts Aufteilung in die politische, gesellschaftliche und private Sphäre, wie sie sie ausführlich in Vita Activa (1958, dt. 1960) vornimmt. Diese bemerkenswert konsequente Trennung habe Knott schon in den 80er Jahren, als sie sich das erste Mal mit dem Essay beschäftigte, fasziniert – so sehr, dass sie sich gegen ihre damaligen Verlagskolleg*innen durchsetzte und eine Aufnahme des Texts in einen Essayband bewirkte – gegen die Einwürfe, dass Arendt das N*-Wort benutze[1] und gegen eigene Bedenken der politischen Implikationen: „Doch ich verteidigte die Publikation des Textes hartnäckig, da er mir Aspekte lieferte, die in unserem Weltbild nicht vorgesehen waren. Arendt verwirrte. Auch und gerade in ihrem Beharren auf dem Vorrang von Rechtsgarantien.“

Die neue Auseinandersetzung mit dem Essay steht in Zusammenhang mit dem aktuellen politischen Diskurs, der, wie eingangs angedeutet, eine ausgeprägte Sensibilisierung für Rassismus zunehmend einfordert, und er ist im Kontext zu betrachten mit einem umfangreichen Zugang zu historischen Erkenntnissen und Quellen. Marie Luise Knott nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen, um eine einflussreiche Denkerin behutsam zu hinterfragen. Zum Teil stolpert sie dabei über den eigenen Unwillen: „Man spürt hier, was man vielleicht nicht hören will.“ Wenn Hannah Arendt über Affirmative Actions als „Rassismus mit anderen Vorzeichen“ schreibt, kommentiert Knott verblüfft: „Diese Stelle hat es in sich.“ Und sie fragt sich zögerlich, aber unnachgiebig bis an die unangenehmsten Aussagen Arendts vor: „Was ist hier gemeint? Steht da wirklich, verkürzt gesagt, dass die Weißen die riots provozieren, indem sie sich kollektivschuldig bekennen?“

Was Marie Luise Knott vorlegt, ist eine umsichtige wie strenge, mit anderen Worten, eine faire Auseinandersetzung mit einer ganz offenbar von ihr bewunderten Denkerin. Gerade die unverhohlene Wertschätzung für Arendt verspricht zudem, wirksam zu sein: Die Erzählinstanz mit ihrer Bereitschaft, zu einer Rassismuskritik anzusetzen und sich den mitunter unbequemen Folgen zu stellen, bietet auch eingefleischten Arendt-Fans Identifikationspotenzial. Dieser Blick in die USA tut der eingangs beschriebenen Dynamik der selbstgerechten Ablenkungsmanöver sicher keinen unmittelbaren Abbruch. Die Form der Aufarbeitung ist jedoch hilfreich, um die transatlantisch verstrickte Geschichte von Rassismen sichtbar zu machen, die Knott zudem im Wissen um die Fallstricke und Möglichkeiten des multidirektionalen Erinnerns erzählt. Die Veröffentlichung sensibilisiert dafür, dass Querbezüge zwischen marginalisierten Gruppen und in verschiedenen historischen Kontexten heikel sind, sodass selbst gut gemeinte Solidaritätsbekundungen oft – auch bei großen Denkerinnen – ziemlich ungelenk ausfallen. Zurecht wurden Autorin und Buch zuletzt mit dem Tractatus-Preis geehrt.


[1] Als interessanten Nebenschauplatz wollen wir darauf verweisen, dass das englische Original tatsächlich das Wort “Negro” benutzt. Die Verlagsdiskussion hat sich also offenbar auch aufgrund der deutschsprachigen Übersetzung von Eike Geisel verschärft. Zur Übersetzbarkeit der N-Wörter empfehlen wir dieses Gespräch zwischen der Juristin, Kabarettistin und Kolumnistin Michaela Dudley und der Übersetzerin Mirjam Nuenning.

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Rückkehr der Rom-Com – Ein Genre wird erneuert

von Isabella Caldart

Denkt man an die große Zeit der Rom-Coms, fallen einem vor allem zwei Namen ein: Julia Roberts und Meg Ryan, die in den neunziger Jahren Garantinnen für Filmhits waren. „Harry und Sally“ (gut, der ist von 1989), „Schlaflos in Seattle“ und „E-Mail für dich“, „Pretty Woman“, „Die Hochzeit meines besten Freundes“ und „Notting Hill“ sind Klassiker. Die frühen Nullerjahre sahen noch einige Rom-Coms vor allem mit Katherine Heigl, Reese Witherspoon und Kate Hudson in den Hauptrollen – und dann waren Rom-Coms tot. Zwanzig Jahre lang tat sich in diesem Bereich so gut wie gar nichts, bis das Genre dieses Jahr wiederbelebt wurde. Und siehe da: Man versucht, mit der Zeit zu gehen. Viele neue Rom-Coms sind erstaunlich divers und queer.

Rückgang und Weichenstellung

Dass es dieses Loch von zwanzig Jahren gab, hat primär zwei Ursachen. Zum einen gab es eine grundlegende strukturelle Änderung im Filmbusiness: Vor allem bedingt durch den Boom von Superhelden-Franchises, Prequels/Sequels und Blogbustern werden Filmen mit mittlerem Budget von etwa 10 bis 70 Millionen US-Dollar kaum noch produziert. Die Krux ist, dass sie viel teurer sind als Arthouse-Filme, aber anders als Franchises wie „Star Wars“ oder das MCU nicht automatisch Erfolg bedeuten. 1997 kostete laut der New York Times ein durchschnittlicher Hollywoodfilm 60 Millionen, während allein „Avengers: Endgame“ ein geschätztes Budget von rund 400 Millionen US-Dollar hatte. Der zweite wichtige Faktor ist die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Filme, in denen weiße, heterosexuelle Menschen eine klassische, monogame Beziehung eingehen, wirken aus der Zeit gefallen. Nicht selten sind zudem die Machtdynamiken und die Art, wie der Mann um die Frau „wirbt“, äußerst problematisch (man denke nur an „Pretty Woman“).

Trotzdem war die Sehnsucht nach Rom-Coms beim Publikum erstaunlich groß; immer wieder gingen Tweets viral, in denen danach gerufen wurde. Und sie wurden erhört: Rom-Coms sind nicht nur zurück, politische Diskurse wurden auch mitgedacht und aufgegriffen – mit unterschiedlichem Können und Erfolg allerdings. Im Folgenden soll es um Filme gehen, die im Jahr 2022 veröffentlicht wurden. Aber zunächst ein paar honorable mentions: Die Highschool-Komödie „Love, Simon“ (2018) hatte einen schwulen Protagonisten und spielte bei einem Budget von 17 Millionen US-Dollar weltweit gut 66 Millionen ein. Ein noch viel größerer Erfolg war die charmante Rom-Com „Crazy Rich Asians“ (2018), der erste Hollywoodfilm seit 25 Jahren, dessen Cast nur aus Asian-Americans beziehungsweise Asiat*innen bestand. Er wurde von einem Großteil der Kritiker*innen hochgelobt und war mit einem weltweiten Einspielergebnis von knapp 239 Millionen US-Dollar auch ein Kassenschlager. Die Weichen für moderne, diversere Rom-Coms waren also gestellt.

„Crush“, „Fire Island“, „Anything’s Possible” und „Ticket ins Paradies”

„Crush“, eine romantische Coming-of-Age-Komödie erzählt von Paige (Rowan Blanchard), die seit sie denken kann in Gabby Campos (Isabella Ferreira) verliebt ist, eins der beliebtesten Mädchen an ihrer Schule. Dann freundet sie sich mit Gabbys Zwillingsschwester AJ (Auliʻi Cravalho) an, die sich wiederum in Paige verknallt. Und Paige steht plötzlich zwischen zwei Schwestern. Das ist ein dramaturgisch sehr klassisches Szenario, das sich vor allem in Highschool-Serien und -Filmen finden lässt: Die Hauptfigur, die sich zwischen zwei Geschwistern oder besten Freund*innen entscheiden muss. Lesbischsein und Coming-Out stellen in dem Film keine Hürde dar, sondern werden als gegeben hingenommen. Die Dramatik rührt allein daher, dass Paige sich in zwei Schwestern verliebt. Das Schöne an „Crush“ ist, dass die Schwestern deswegen nicht zu erbitterten Feindinnen werden. Der Film ist zwar nicht in jeder Hinsicht perfekt, aber er ist trotzdem eine gelungene Highschool-Rom-Com mit überzeugenden Schauspielerinnen, die gute Laune macht.

Ebenfalls an einer Highschool spielt der Film „Anything’s Possible“, das Regiedebüt von Billy Porter. Mit Eva Reign hat der Film eine Schwarze trans Protagonistin. Reign spielt YouTuberin Kelsa, die sich in ihren Mitschüler Khal (Abubakr Ali) verliebt. Der Film hat einige herzerwärmenden Szenen, ist insgesamt aber eher holprig. Das liegt unter anderem daran, dass Reign und Ali ihre Figuren zwar überzeugend spielen, im Zusammenspiel aber leider keine Chemie entwickeln. Dass die beiden sehr schnell ein Paar werden, ist einerseits zwar eine schöne Geste – damit wird insinuiert, dass es für Khal kein Problem darstellt, dass Kelsa trans ist. Andererseits ist das für eine Rom-Com natürlich schwierig, weil den Zuschauer*innen keine Zeit gelassen wird, mitzufiebern. Außerdem verhalten sich sowohl Khals als auch Kelsas Freund*innen aus unterschiedlichen Gründen mehr als fragwürdig, was bis zum Ende des Films nicht wirklich gelöst wird. Positiv zu vermerken ist, dass obwohl Kelsas Gender für Khal kein Thema ist, der Film trotzdem nicht so tut, als sei das gesellschaftlich irrelevant. Insgesamt ist „Anything’s Possible“ ein mittelprächtiger Film, der einige sehr gute Ansätze hat, in der Umsetzung aber unausgereift wirkt.

„Fire Island“ ist eine sehenswerte Rom-Com um eine Gruppe schwuler Männer in ihren Dreißigern. Der Film, eine lose Adaption von Jane Austens „Stolz und Vorurteil“, erzählt von Noah (Joel Kim Booster) und seinen Freunden, die jedes Jahr Sommerurlaub auf Fire Island in der Nähe von New York City machen, seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel für Schwule. Es ist ihre letzte gemeinsame Woche, da das Haus verkauft wird. Nach einigen Verwirrungen, Herzschmerzen und Partys endet der Film damit, dass nicht nur Noah mit Neubekanntschaft Will (Conrad Ricamora) zusammenkommt, sondern auch die guten Freunde Howie (Bowen Yang) und Charlie (James Scully). Während das Ende etwas klischeehaft ist, macht der Film doch sehr viel sehr richtig. Nicht nur ist der Plot gut ausgearbeitet und nuanciert, der Cast ist auch „racially“ divers, und es werden genuine Freundschaften zwischen (schwulen) Männern gezeigt. Sex in Dark Rooms wird ebenso wie  Fragen um Polyamorie thematisiert. „Fire Island“ ist ein Film voller Herz und Humor, und auch das typische Rom-Com-Ende kann man ihm positiv auslegen: Zu oft sterben queere Figuren in Filmen und Serien (siehe die „Bury Your Gays“-Trope) oder haben mindestens traumatische Erlebnisse, und deswegen ist es schön, die Rom-Com so harmonisch enden zu lassen.

Der Erfolg von „Ticket ins Paradies“, der weltweit rund 160 Millionen US-Dollar einspielte, zeigt zwei Dinge: Zum einen gibt es definitiv ein Publikum für Rom-Coms, und zum anderen sind Julia Roberts und George Clooney nach wie vor Hitgaranten. Im Film geht es um ein seit vielen Jahren geschiedenes Ehepaar, das sich jetzt zusammenraufen muss, um die Tochter davon abzuhalten, ihren Urlaubsflirt zu heiraten und auf Bali zu bleiben. Abgesehen von den erwartbar cringey US-Amerikaner*innen-benehmen-sich-im-Ausland-daneben-Szenen (wobei man nach dem „Sex And The City 2“-Fiasko in Hollywood dazugelernt hat), ist „Ticket ins Paradies“ eine solide witzige romantische Komödie, die man durchaus anschauen kann. Der Grund, weswegen „Ticket ins Paradies“ in diesem Text auftaucht, ist das Alter der beiden Protagonist*innen. Roberts und Clooney sind in ihren Fünfzigern, was für Rom-Coms unüblich ist. Zugleich zeigt die Wahl, mit Roberts und Clooney zwei Stars zu casten, die in den neunziger Jahren vor allem für ihre Herz-Rollen bekannt waren, dass es dem Rom-Com-Genre offensichtlich so sehr an Nachwuchs mangelt, dass auf „alte“ Stars zurückgegriffen werden muss.

„Bros“: Hoffnung und Flop

Die große Hoffnung und zugleich große Enttäuschung dieses Jahr war „Bros“. „Bros“ ist die erste queere Rom-Com mit Kino-Release, und entsprechend waren die Erwartungen im Vorfeld hoch. Der Film ist allerdings komplett gefloppt: Weltweit hat er bei einem Budget von 22 Millionen keine 15 Millionen US-Dollar eingespielt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber erst einmal zum Plot. In der Hauptrolle spielt Comedian Billy Eichner (der auch Co-Autor des Films ist) Bobby Lieber, einen Podcast-Host, der einen Job im Kuratorenteam für das erste National LGBTQ+ History Museum annimmt. In einem Club lernt der neurotische Bobby den attraktiven Aaron (Luke Macfarlane) kennen, der – wie Bobby auch – nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung ist. Aber wie es die Rom-Com-Gesetze wollen: Am Ende, nach sehr vielen Ups und Downs, kommen Bobby und Aaron doch zusammen.

„Bros“ hat größtenteils positive Kritiken bekommen, Rotten Tomatoes verzeichnet einen Beliebtheitswert von 88 %. Die wenigen Zuschauer*innen, die den Film kennen, bewerten ihn durchwachsener: Die „Verified Audience“ bei Rotten Tomatoes gibt dem Film zwar eine Zustimmung von 90 %, schaut man sich aber „All Audience“ an, fällt diese auf nur 60 %, ein Wert, der dem von IMDb mit 6,4 von 10 Punkten sehr viel näherkommt. Das Problem ist dennoch nicht die Rezeption des Films – sondern dass ihn kaum jemand gesehen hat. Ein Grund dafür ist die eben erwähnte Erwartungshaltung, die es im Vorfeld gab.

Der Fokus des Marketings lag weniger auf dem Inhalt des Films als auf dessen kultureller Bedeutung, nach dem Motto: Wenn der Film floppt, wird es nie wieder eine queere Rom-Com im Kino geben. Nachdem der Film direkt bei seinem Eröffnungswochenende enttäuschte, schimpfte Billy Eichner auf Twitter über die vermeintliche Homofeindlichkeit, wegen der die Leute fernblieben – und übersah dabei, dass auch queere Zuschauer*innen nicht ins Kino rannten. „Straight people, especially in certain parts of the country, just didn’t show up for Bros”, schrieb er in inzwischen gelöschten Tweets. „Everyone who ISN’T a homophobic weirdo should go see BROS tonight!” Bereits vor der Filmpremiere hatte er Ende September getweetet: „IF YOU’RE NOT A HOMOPHOBIC PIECE OF SHIT, GO SEE BROS!!!” Auch wenn es sich dabei um einen Scherz im Sinne von Eichners intensiver Persona handeln mag – „Bros“ zu schauen wurde damit politisch stark aufgeladen, statt den Kinobesuch als angenehme, lustige Freizeitaktivität zu verbuchen, wie es sein sollte.

Ein weiterer Grund für den Flop wird sein, dass „Bros“ am 30. September in die Kinos kam, und in den USA gilt der Oktober, der Halloween-Monat, als „Spooky Season“, in der vor allem Horrorfilme geschaut werden. Dass „Bros“ außerdem ein R-Rating bekam, also für Zuschauer*innen unter 17 Jahren als ungeeignet gilt, und keine bekannten Schauspieler*innen hat, half ebenfalls nicht. Auch wenn Billy Eichner vor allem denjenigen, die viel online sind, inzwischen ein Begriff ist, hat er nicht annähernd eine vergleichbare Starpower wie andere Schauspieler*innen, die sonst Kinofilme headlinen. „The Lost City“ unterdessen, ein Film, der etwas großzügig betrachtet eine Rom-Com ist, spielte im Frühjahr dieses Jahres mehr als 190 Millionen US-Dollar ein. In den Hauptrollen: Sandra Bullock und Channing Tatum.

Auch inhaltlich ist „Bros“ ist sehr viel holpriger im Vergleich zu etwa „Fire Island“. Der Versuch, via des queeren Museums im Film nicht-queere Zuschauer*innen über queere Geschichte aufzuklären, ist teils platt geraten. Und während Themen wie Polyamorie eine relevante Rolle spielen, wandelt sich gerade Anti-Beziehungs-Mensch Aaron im Laufe des Filmes so sehr, dass er in der letzten Szene Bobby sogar (im Spaß) hinterherrennt, um über potentielle Kinder zu reden. Das größte Problem ist aber, dass Billy Eichner zu sehr im Fokus des Films steht. Seine latent laute Art funktioniert in den Kurzclips von „Billy on the Streets“, in denen er Passant*innen anhält und ihnen schnelle Fragen stellt, wird auf knapp zwei Stunden aber zunehmend anstrengend. Man muss dem Artikel in der Los Angeles Times recht geben, dessen Überschrift lautet: „It’s OK to let gay art bomb“.

Was erwarten wir von Rom-Coms?

Das Ende von „Bros“ wirft eine größere Frage auf: Was erwarten wir eigentlich von Rom-Coms? Das Muster, nach dem diese Filme aufgebaut sind, ist immer sehr ähnlich – so schematisch, dass es sogar einen Eintrag in Merriam-Webster gibt: „a light, comic movie or other work whose plot focuses on the development of a romantic relationship.“ Das Narrativ einer Rom-Com ist per definitionem also um das Konzept Monogamie herum erzählt, die Hürden stellen zumeist Eifersucht beziehungsweise Liebes-Missverständnisse dar und führen zum Ziel, am Ende eine (Zweier-)Beziehung einzugehen. Natürlich gibt es viele queere monogame Beziehungen, das soll hier gar nicht infrage gestellt werden; einer sehr traditionellen Beziehungsvorstellung bleibt man in diesen Filmen trotzdem treu. Auch wenn „Bros“ und „Fire Island“ dadurch, dass polyamoröse Verhältnisse diskutiert werden, zumindest versuchen, diese Konventionen aufzubrechen, bleiben sie ihnen mit ihren finalen Szenen trotzdem treu. (Im Fall von Noah und Will steht zumindest die Möglichkeit einer polyamorösen/offenen Beziehung im Raum.) Die Filme sind nicht heterosexuell, aber oft noch in heteronormativen Strukturen. Wobei „Bros“ dem mit der Erwähnung der Kinderfrage natürlich noch das Weiße-Gartenzaun-i-Tüpfelchen aufsetzt.

Die romantischen Komödien, die dieses Jahr veröffentlicht wurden, zeigen, dass es durchaus die Bereitschaft gibt, die starren Strukturen dieses Genres aufzubrechen und ihm neue Geschichten, Nuancen, Hürden und Perspektiven zu verleihen. Es bleibt aber eine Zwickmühle ohne Ausweg. Denn gerade für das unvermeidliche Happy End gibt es keine gute Lösung. Eine wäre vielleicht, dass die Hauptfigur mit den Freund*innen und der Wahlfamilie glücklich ist, nicht mit einer Partner*in. Doch ist eine Rom-Com, die nicht darauf abzielt, dass die beiden Protagonist*innen am Ende zusammenkommen, überhaupt noch eine Rom-Com? „Bros“ ist zwar gefloppt, aber queere und diverse Rom-Coms sind trotzdem gekommen, um zu bleiben. Wir dürfen gespannt sein, was sich Drehbuchautor*innen in Zukunft noch ausdenken werden.

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Aufmarsch der Faschisten – Die rechtsradikale Tradition in den USA

von Annika Brockschmidt und Thomas Lecaque

Im September 2022 starteten Mitglieder der Patriot Front, einer amerikanischen Neonazi-Organisation, einen Flashmob in Indianapolis. Die etwa fünfundsiebzig Mitglieder, die ihre traditionellen Khakihosen, blauen Hemden, weißen Hüte und Gesichtsmasken trugen, organisierten sich schnell, kamen von allen Seiten und verschmolzen zu einem zusammenhängenden Rechteck mitten auf der Straße, das ihre Flaggen trug: ein Fasces (Rutenbündel) in einem Kreis mit dreizehn Sternen um ihn herum, der ein faschistisches Amerika symbolisiert. Diese Flagge der Patriot Front ist angelehnt an die sogenannte “Betsy Ross”Flagge, die ein Amerika darstellt, das von Weißen Männern beherrscht wurde. Sie trugen ein Banner mit ihrem Hauptmotto „Reclaim America“. Der Marsch führte vom Gelände des Indiana Statehouse zum Monument Circle, hinunter zum War Memorial bei der American Legion Mall und endete an der Hauptniederlassung der Indianapolis Public Library.

Dieser Aufmarsch war nicht der erste Flashmob der Patriot Front. Die Gruppe kam auch am Wochenende des 4. Juli nach Boston und marschierte dort mit denselben Uniformen, zusätzlich mit Schilden und „Reclaim America“-Bannern entlang des Freedom Trails. Eine ähnliche Versammlung an der Back Bay MBTA-Station, die Teil der Bostoner Eisenbahnlinie ist, führte zu Gewalt, als Mitglieder der Patriot Front einen Schwarzen angriffen, der sie zur Rede gestellt hatte. Davor hatten sie bereits Märsche in Chicago veranstaltet – und sich im Januar auf der National Mall in Washington D.C. einemPro-Life“-Marsch angeschlossen. Weitere Märsche fanden in Philadelphia im vergangenen Juli (wo Einwohner sie aus der Stadt vertrieben) und sowie in Nashville, Washington D.C. und davor Pittsburgh statt.

Die Videos dieser faschistischen Märsche sind jedoch nicht die einzigen medialen Ereignisse der Patriot Front. Videos von „Trainingslagern“ tauchen immer wieder im Internet auf einer Vielzahl von Plattformen auf. Solche Lager finden an unterschiedlichen Orten im ganzen Land  – von Pennsylvania, bis Colorado und Florida – statt. Einige von diesen Videos stammen aus der umfangreichen Datensammlung von Unicorn Riot, andere werden jedoch eindeutig von der Patriot Front über Mittelsleute veröffentlicht. Marschieren in Formation, Nahkampfübungen, Schildmauern bauen, Scheinangriffe von Gegendemonstranten – all das sieht nicht besonders geschickt aus, aber es zeigt das Bild einer Organisation, die nicht nur auf Flashmobs setzt, sondern auch bereit ist, sie mit Gewalt zu untermauern.

Die Märsche der Patriot Front und ihre Trainingsvideos haben in den sozialen Medien für viel Spott gesorgt. Und doch sollte die Tatsache, dass sich Faschisten sicher genug fühlen, um durch die Straßen amerikanischer Städte zu marschieren – wenn auch mit maskierten Gesichtern – Anlass zur Sorge geben, so plump und lächerlich dieses Faschisten-Cosplay auch wirken mag. Denn: Sie meinen es ernst. Die Straßenmärsche fungieren nicht nur als Zelebrierung faschistischer Ästhetik und Einschüchterung von Minderheiten, die sie hassen, sondern auch als Rekrutierungsinstrument. 

Uniformierte Faschisten, die durch die Straßen marschieren, sind ein schlechtes Zeichen für den Zustand der Demokratie, so wenige es auch sein mögen. Vor allem, weil die extreme Rechte mit ihren Rekrutierungstaktiken am Puls der Zeit ist. Prozessionen und Paraden sind politische Akte mit einer langen Geschichte. Sie sind ein Mittel, um Legitimität und Raum in der Öffentlichkeit zu beanspruchen – ein Mittel, das seit dem 19. Jahrhundert von sozialen Organisationen, Politikern und ganzen Kleinstädten bei lokalen und nationalen Feiertagen praktiziert wird, wie die Historikerin Susan Davis gezeigt hat („Parades and Power“).

White Nationalists marschieren heute jedoch nicht nur auf der Straße, sondern nutzen längst  soziale Medien, um junge, wütende weiße Männer in ihre Reihen zu rekrutieren, wobei TikTok ihr vielleicht wichtigstes Werkzeug ist. Aber es ist nur ein Teil einer viel größeren Multimedia-Kampagne, die darauf abzielt, neonazistische Rhetorik und Ideologie zu verbreiten und salonfähig zu machen. Im Jahr 2020 gab es in den Vereinigten Staaten einen signifikanten Anstieg bei der Verbreitung von Propaganda der weißen Rassisten, für die die Patriot Front zu 80 Prozent verantwortlich ist. 2020 war auch das Jahr, in dem die Patriot Front damit begann, ihre Rhetorik von offener antisemitischer und neonazistischer Sprache zu Dog Whistles (Hundepfeifen) wie „America First“ und „Reclaim America“ zu verharmlosen. Zu dieser Zeit begannen sie auch vermehrt, Flashmobs abzuhalten.

Eines fällt bei allen Arten der öffentlichen Rekrutierung auf: Faschistische Symbole stehen im Mittelpunkt ihrer öffentlichen Inszenierung, die so stark auf eine angepasste Ästhetik setzt. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Brandings– und Rekrutierungsbemühungen – die schon Jahrzehnte vor TikTok begannen. Denn der amerikanische Faschismus ist kein neues Phänomen. Der Gründer der Patriot Front, Thomas Rousseau, ist ein ein ehemaliges Mitglied von Vanguard America – der Ruf dieser Gruppe, „Blood and Soil“ (“Blut und Boden), war 2017 auch bei der “Unite the Right”-Rally in Charlottesville zu hören. 

Rousseau marschierte in den Reihen der Neonazis mit. Auch damals waren die charakteristischen Uniformen und die Neonazi-Ideologie deutlich erkennbar, die Menge brüllte “Juden werden uns nicht ersetzen” – eine Referenz auf die Weiß-nationalistische Great Replacement”-Verschwörungserzählung, der die Demonstranten anhingen. Rousseau löste sich von Vanguard America und gründete nach der Rally, bei der ein Neonazi die 32-jährige Heather Hayer tötete, die Patriot Front. Doch selbst Vanguard America war kein neues Phänomen, sondern nur eine Organisation in einer langen Reihe von Neonazi-Gruppen in der amerikanischen Geschichte. Von George Lincoln Rockwells American Nazi Party der 1960er und 1970er über die Aryan Nation der 1980er und 1990er im Norden Idahos bis hin zu Gruppen wie Vanguard America oder der Traditionalist Worker Party, die 2017 in Charlottesville zusammenkam: Vom Zweiten Klan der 1920er Jahre über Pater Coughlin bis hin zur ursprünglichen America-First-Bewegung und Charles Lindberghs Des Moines-Rede vom 11. September 1941, in der er den Juden die Schuld am Zweiten Weltkrieg gab: Die USA haben eine ganz eigene White Supremacist– und faschistische Tradition.

Diese Gruppierungen der 1930er und 1940er Jahre bilden das Herz der faschistischen Tradition Amerikas. Während heute die Patriot Front für ihre Märsche Verkleiden spielt, tat der KKK dasselbe, während er in Schwarze Viertel eindrang und dort seinen mörderischen Terror verbreitete. Heute verbindet man ein brennendes Kreuz sofort mit dem KKK. Doch der Klan hat seine Bildsprache damals dem extrem rassistischen Film „Birth of a Nation“ entlehnt. Dass sie für ihren hasserfüllten Kreuzzug das christliche Kreuz wählten, ist deshalb kein Zufall: Oft wird vergessen, erklärt die Historikerin Kelly J. Baker („The Gospel of the Klan“), dass der KKK eine ausgesprochen christliche, insbesondere Weiße, protestantische Organisation war. Dieses Branding ermöglichte es dem Zweiten Klan, in den 1920er Jahren an Popularität zu gewinnen und White Supremacy für Mitglieder der gutbürgerlichen Gesellschaft zu etablieren: Ärzte, Pastoren, Lehrer und Buchhalter. Und während Baker darauf hinweist, dass White Supremacy oft gewöhnlich und langweilig ist (es gab zum Beispiel KKK-Strickkreise), dienten KKK-Märsche schon damals als Machtdemonstration, aber auch als Rekrutierungsinstrument. Die Märsche der Patriot Front ahmen diese Taktiken nach, auch wenn sie bei weitem nicht an die Kraft und öffentliche Unterstützung des Zweiten Klans auf seinem Höhepunkt herankommen: 1925 marschierten 30.000 Klan-Mitglieder die Pennsylvania Avenue in Washington D.C. entlang, und über ihren Marsch im darauffolgenden Jahr wurde in den Zeitungen des ganzen Landes berichtet.

Die heutigen uniformierten White Supremacists und Neonazis, die mit den Knieschützern und Schilden der Patriot Front marschieren, haben auch Verbindungen zu christlichen Extremisten. Tatsächlich besteht die Bandbreite der extremen Rechten in den Vereinigten Staaten heute aus einer Reihe konkurrierender, miteinander vernetzter Gruppen, die sich auf die Zerstörung der amerikanischen Demokratie und auf nicht viel mehr einigen können. Doch die Überschneidungen zwischen den einzelnen Gruppierungen sind sehr wichtig. Unter den Mitgliedern der Patriot Front, die im Sommer in Coeur d’Alene festgenommen wurden – die sich auf einen Angriff auf eine LGBTQIA+-Veranstaltung in der Stadt vorbereitet hatten – befanden sich zwei Brüder, die mit On Fire Ministries verbunden waren, wo ihr Vater Pastor des Men’s Ministries war. 

On Fire Ministries ist die Kirche des ehemaligen Abgeordneten des US-Bundesstaates Washington, Matt Shea. Shea hat einen unangenehm ähnlichen Lebenslauf wie der christliche Nationalist – und aktuelle Gouverneurskandidat der Republikaner in Pennsylvania – Doug Mastriano, ein ehemaliger Offizier, dessen christlich-nationalistische Rhetorik immer gewalttätiger geworden ist und der Verbindungen zu einer Vielzahl von rechtsextremen Gruppen hat. 

Shea machte bereits mit seinem Manifest für einen „Heiligen Krieg“ Schlagzeilen, aber das war nur die Spitze des Eisbergs. Er wurde des inländischen Terrorismus beschuldigt, hat Verbindungen zur Familie Bundy, den Oathkeepers und der „Patriot Bewegung“. Und seine Kirche folgt diesem Trend – Shea war Pastor der Cornerstone Church, die ursprünglich von Ken Peters gegründet wurde. Shea wurde Pastor der Kirche, als Peters nach Knoxville, Tennessee, zog, um dort sein „Patriot Church“-Netzwerk zu gründen. 

Shea verließ die Gemeinde schließlich, um selbst On Fire Ministries zu gründen. Dort setzte er den theologischen Fokus auf Apokalyptik. Das ist relevant, weil die amerikanische christliche Apokalyptik tendenziell tiefe politische Wurzeln hat – seit den Kreuzzügen haben apokalyptische Überzeugungen zu dem Wunsch geführt, die Gesellschaft in einer spezifisch christlichen Vision neu zu gestalten. Shea fällt in dieselbe Kategorie: Er hatte seine Anhänger dazu aufgefordert, eine “alternative christliche Regierung” zu bilden und sich auf einen “totalen Krieg” einzulassen. Diese Art von Rhetorik – christlicher Nationalismus, Rassismus, Vorwürfe der Tyrannei gegenüber der amtierenden Regierung und der Aufruf zum “totalen Krieg” gegen die Feinde – findet sich überall im Manifest der “Patriot Front”.

Mitglieder der Patriot Front und tauchten bei der Coeur D’Arlene Pride-Parade auf und planten einen Angriff auf die Veranstaltung, was zur Verhaftung von 31 Mitgliedern der Gruppe führte – nur einer von zahlreichen Fällen, in denen rechtsextreme Gruppen wie die Patriot Front oder die Proud Boys die LGBTQ-Community belästigten und bedrohten.

Die “Patriot Front” mag eine randständige Splittergruppe der extremen Rechten sein, doch derzeit macht die Republikanische Partei ihre Arbeit für sie: Die Verunglimpfung von LGBTQ-Personen als Pädophile und Groomer hat sich im konservativen Mainstream etabliert, diejenigen, die sie verbreiten tragen Anzug und Kostüm anstatt Schild und Schlagstock.

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Ziemlich beste Freundinnen. Selene Marianis Debütroman „Ellis“

von Hanna Sellheim

Der Klappentext von Selene Marianis Debütroman Ellis, erschienen 2022 im Wallstein Verlag, mutet vage bekannt an. Er verspricht: „Deutschland und Italien. Zwei Freundinnen zwischen Nähe und Distanz.“ Auf seiner Instagram-Seite verlost der Verlag den Roman mit einer Packung Abbracci-Kekse, die darin eine Rolle spielen. Italien, Freundinnen, Dolce Vita und zuckersüße Vermarktungsstrategien – das klingt verdächtig nach #ferrantefever, dem Hype um die „Neapolitanische Saga“ von Elena Ferrante, die weniger mit literarischer Innovation und mehr mit der Geheimniskrämerei um die wahre Identität der Autorin hinter dem Pseudonym Aufsehen erregte. Aber diese Vermarktung verwundert, wirft man einen Blick ins Buch: Denn was hier erzählt wird, ist keineswegs eine Freundschaftsgeschichte, sondern die Erzählung einer unglücklichen lesbischen Liebe. Doch das wird nie explizit und man fragt sich: Warum eigentlich?

Die Handlung des Romans ist knapp bemessen: Ellis, in Deutschland und Italien aufgewachsen, wird in der Schule gemobbt und ist kreuzunglücklich – bis sie Grace kennenlernt. Die beiden streiten und vertragen sich, verlieren den Kontakt, treffen sich schließlich nach zehn Jahren wieder und reisen gemeinsam zu Ellis‘ Großeltern nach Italien. Der Roman ist durch Ellis‘ Ich-Perspektive fokalisiert und in sehr kurzen, szenenhaften Kapiteln erzählt, wobei wiederholt zwischen den Zeitebenen von Kindheit und Gegenwart hin- und hergesprungen wird.

Kitsch und Atmosphäre

Andere Themen, die sich aus den Eckpunkten der Handlung logisch ergeben, finden vor allem am Rande Erwähnung; etwa Kindheitstraumata oder die Frage nach kultureller Zugehörigkeit. Mariani verwendet durchaus einfallsreiche Vergleiche („Mein Verhalten der letzten Tage steigt in mir auf wie Sodbrennen“) und wohlüberlegte Formulierungen („würge Themen heraus, kläglich klein sehen sie aus, wir schieben sie hin und her, unschlüssig“). Manches davon ist geprägt von einer recht aufdringlichen Wortwörtlichkeit, manches von schamlosem Kitsch:

„Ich habe mich verliebt, oft und jedes Mal unsterblich…“ Ich muss lächeln. „Manche Dinge ändern sich nie.“

Doch die eingebauten Referenzen schaffen ein überzeugendes Panorama der frühen Nullerjahre, die schlaglichtartigen Szenen bauen atmosphärische Bilder von italienischem Sommer und der gräulichen Langeweile deutscher Mittelstädte.

Und dann ist da eben die Beziehung von Ellis und Grace, die sich als nur halbherzig erwiderte Verliebtheit entfaltet. An Grace fällt Ellis zuerst und wiederholt der Vanilleduft und ihre blauen Augen auf, es entspinnt sich ein Spiel von Beobachten und Näherkommen. Insbesondere die Berührungen mit Grace sind es, die Ellis detailreich beschreibt. Da kleben schwitzige Arme aneinander, Hände liegen zu nah beieinander, Wangen berühren Hälse und Ellis ist der Anblick von Grace‘ nacktem Körper unangenehm.

Suggestive Bildsprache

Dies entwickelt sich zu einer durchaus überzeugenden Schilderung von gay panic:

Es ist unmöglich, sich nicht zu berühren, wenn ich nicht herunterfallen will. Der Film geht los, nach fünf Minuten die erste Liebesszene. Ich merke, wie mein Nacken sich versteift. Ich spüre Grace‘ warmen Körper an mir, habe das Gefühl, das [sic] sie mich ansieht. Ich versuche, normal zu atmen. Als endlich die Szene wechselt, lege ich mich erleichtert etwas entspannter hin. Vergeblich versuche ich mich auf den Film zu konzentrieren, schaffe es nicht.

So liest sich der Roman, als sei er in Codes geschrieben, die ganz bewusst einen Subtext des queeren Begehrens erzeugen. Es geht nie um Sex und doch gleichzeitig irgendwie immer, suggestive Anspielungen sind omnipräsent. Ellis sitzt „auf einer nackten Matratze“ , die Ballettlehrerin „schiebt ihre Beine scherenförmig auseinander“, ein Kater sieht aus, „als hätte jemand auf seinem Gesicht gesessen“, und bei Grace sind „die Innenseiten der Lippen noch weinrot“. Auch gar nicht subtile Beschreibungen körperlicher Vereinigung passen sich in das Bild:

Chiara und ich schaukeln, wie andere Freundinnen laufen – aus zwei Körpern wird einer. Mit der gleichen Biegung im Rücken drücken wir uns nach oben. Dort, der Pause zwischen Ein- und Ausatmen gleich, bleiben wir ganz kurz stehen, mit geschlossenen Augen.

Ellis zeigt derweil in der gesamten Erzählung kein Interesse an Männern, auf Grace‘ männliche Schwärme und Partner ist sie zugleich unverhohlen eifersüchtig.

Die queeren Andeutungen reichen bis zu Referenzen: Ellis‘ „Mund voll ungesagter Worte“ ist verdächtig nah an Anne Freytags „Mund voll ungesagter Dinge“ – einem erfolgreichen Jugendbuch, das eine Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen erzählt. Und von „Blau ist seine Lieblingsfarbe“ ist es nur ein Katzensprung zu „Blau ist eine warme Farbe“, dem wohl bekanntesten und umstrittensten lesbischen Liebesfilm.

Dabei nähert sich die Erzählung immer wieder asymptotisch der Ausbuchstabierung, insbesondere als Ellis‘ Vater auftaucht und ihr nahelegt: „Du schaust sie an wie sonst niemanden“ und „Du musst es ihr sagen.“ Dieses Es, das unausgesprochen zwischen den Zeilen schwebt, findet aber nie seinen Weg in die Ausformulierung, sondern bleibt stets Implikation. Coming-Out-Andeutungen häufen sich, bleiben aber unausgesprochen.

Als es schließlich doch zum Kuss zwischen Ellis und Grace kommt, folgt daraus jedoch weder für die Handlung noch für die Reflektion etwas; wenige Seiten später ist das Buch beendet. Das Ende verbreitet noch ein bisschen vage Self-Love-Share-Pic-Aufbruchsstimmung und fasert dann aus.

Best Friends Forever?

Wieso wird der Roman also trotz des offensichtlichen Inhalts so verschämt vermarktet als Freundschaftsgeschichte? Der Umschlagtext spricht von der „problematische[n] Dynamik ihrer Freundschaft“ und fragt recht naiv: „Was hält Ellis und Grace zusammen?“ Spielte sich dieselbe Geschichte schließlich zwischen einem Mann und einer Frau ab, sie würde wohl kaum so angeteasert. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen, die aber alle keine wirklich zufriedenstellende Antwort liefern: 

1. Der Roman (und mit ihm die Akteure drumherum) ist sich selbst seines queeren Subtextes nicht bewusst. Angesichts des oben gezeigten Umfangs der Anspielungen scheint das allerdings eher abwegig. 

2. Der Roman ist sich dessen bewusst, versucht aber, einem queeren Themen eher abgeneigten Publikum diese unterzujubeln, auch indem ganz bewusst der Ferrante-Hype angezapft wird. Hierbei stellt sich aber die Frage nach der Motivation: Dass solche Codierungsstrategien früher notwendig waren, um Bücher überhaupt auf dem Markt zu platzieren, liegt auf der Hand[1], aber warum sollte es heute noch im Interesse eines Verlags sein, die eigenen Produkte auf diese Weise zu maskieren? Gerade im Kontext des Pride Month erstaunt es, dass Wallstein den queeren Gehalt nicht mehr ausschlachtet. 

3. Man könnte den Roman lesen als fokalisierte Erzählung einer Figur, die keine Sprache für ihr eigenes Begehren hat, die ihr Gefühl des Andersseins verschiebt von der sexuellen auf die kulturelle Andersartigkeit, die in einer heteronormativen Welt gezwungen wird, sich selbst zu zensieren, um nicht weiter aufzufallen: „Ich lerne vorauszusehen, wann die Lauteste lacht, lache vor ihr, spüre ihren wohlwollenden Blick wie warmes Wasser, das mir den Nacken hinunterläuft. Früher war jeder Blick entlarvend, jetzt nicht mehr, jetzt bleiben sie auf der Oberfläche kleben. Ich weiß jetzt, was meine Stärke ist: mich anpassen.“ Doch das beantwortet nicht, warum das in den Paratexten dann nicht besser aufgefangen wird.

So scheint es am plausibelsten zu vermuten, der Text kapituliere vor der historischen Übermacht überkommener, heteronormativer und latent homophober Klischees und Stereotype von ‚natürlicher Nähe‘ zwischen ‚befreundeten‘ Frauen. Denn diese Muster haben eine Geschichte: Ellis ist keineswegs das einzige Beispiel für die Vermarktung lesbischer Geschichten unter dem Etikett der ‚engen Frauenfreundschaft‘. Der Film Grüne Tomaten (Fried Green Tomatoes) von 1991 erzählt eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen in Alabama Anfang des 20. Jahrhunderts – gibt das aber nie offen zu. Der Trailer betont „friendship“ und „best friends“. Die Zusammenfassung auf Filmstarts.de verspricht etwas von „tiefe[r]“ und „innige[r] Freundschaft“. Dabei legt die 1987 veröffentlichte Buchvorlage Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café von Fannie Flagg, einer offen lesbischen Autorin, das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe recht eindeutig nahe. Kino-Zeit.de immerhin bemerkt: „Bedauerlich ist, dass die romantischen Gefühle zwischen den beiden jungen Frauen, die in Flaggs Roman angelegt sind, im Film auf ein rein platonisches Verhältnis reduziert werden.“

“Grüne Tomaten”: Queercoding par excellence

Doch auch das ist nicht wahr: Denn der Film ist voller Codes, die eine romantische Beziehung zwischen den Protagonistinnen Idgie und Ruth suggerieren, auch wenn dies eher im Subtext geschieht. Idgie wird als Tomboy eingeführt, weigert sich, für eine Hochzeit ein Kleid anzuziehen und läuft lieber in Hosen rum. Das allein ist selbstverständlich kein Indikator für lesbische Orientierung, die zärtliche Darstellung von Ruths und Idgies Beziehung, die im Grunde als Ehepaar zusammenleben und gemeinsam ein Kind großziehen, jedoch ist es definitiv. Berührungen und Küsse auf die Wange werden in Close-Ups gezeigt. Eine besonders eindrückliche Szene zeigt die beiden bei einem Food Fight, der mit Beeren-Geschmiere und erschöpfendem Rangeln auf dem Fußboden unschwer als Sex-Chiffre zu erkennen ist, und vom Sheriff unterbrochen wird, der die beiden darauf hinweist, gerade etwas Unerhörtes getan zu haben. Auch eine der Schlüsselszenen, in der Idgie für Ruth Honig erntet und auf die das Paar bei späteren Liebeserklärungen immer wieder Bezug nimmt („I‘ll always love you, the bee charmer“) arbeitet mit einer Bedeutungsverschiebung, die den queeren Gehalt hervorhebt: „I heard there are people who could charm bees. I have just never seen it done before today. You’re a bee charmer, Idgie Threadgoode. That’s what you are. A bee charmer.“ Im Anschluss an diese Aussage greift Ruth mit zwei Fingern in das Honigglas, das Idgie ihr hinhält, und leckt den Honig ab. Sexuell suggestive Bildlichkeit funktioniert also auch in anderen Fällen als Code für queeres Begehren – auch wenn dieser nicht von allen Rezipient*innen entziffert wird. So ist der Film durch die Vermarktung im Einklang mit Mainstream-Diskursen im kollektiven Bewusstsein eingegangen als Freundschaftserzählung – und der queere Hintergrund somit vergessen.

Lesbische Unsichtbarkeit

Es ist inzwischen zum Meme geworden, dass Historiker:innen (oder, vielleicht treffender, Historiker) zusammen lebende, einander Liebesbriefe schreibende Frauen als gute Freundinnen oder Mitbewohnerinnen vermuten. Zuweilen führt diese Verleugnung von Offensichtlichkeiten zu Absurditäten wie dem folgenden Satz auf der Wikipedia-Seite zu Vita Sackville-West, der Geliebten von Virginia Woolf: „Die Freundschaft war von großer Zuneigung und gegenseitiger Bewunderung geprägt, und zumindest zeitweise auch sexueller Natur.“ Auch in eindeutigeren Fällen kommt das Freundschaftslabel zum Einsatz: Netflix fasst Call Me by Your Name als Film über eine „lebensverändernde Freundschaft“ zusammen. In gravierenden Fällen führt ein solcher Bias zur Verfälschung von Forschungsergebnissen, nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch etwa in der Archäologie.

Die Grenzen und Grenzüberschreitungen von Liebe und Freundschaft zu diskutieren und Zwischenbereiche aufzuzeigen, ist ja keineswegs falsch – doch scheint es in diesen Fällen um etwas anderes zu gehen, nämlich die Leugnung romantischer queerer, und vor allem lesbischer, Liebe und Sexualität, die Diskriminierungen perpetuiert. Denn die Gleichsetzung von lesbischen Liebesbeziehungen mit engen Frauenfreundschaften macht queere Lebensrealitäten unsichtbar.[2] Während männliche Homosexualität jahrzehntelang kriminalisiert wurde, ist weibliche vor allem ignoriert worden.

Doch auch diese spezifisch lesbische kulturelle Unsichtbarkeit[3] ist problematisch und hat gesellschaftliche Auswirkungen – durcheinander geratene Definitionen von Liebe und Freundschaft, von Begehren und Bewundern sind deshalb keineswegs trivial. Warum? Die Antwort ist so einfach wie pathetisch: Weil Repräsentation Bedeutung hat und schafft. Weil Entstigmatisierung wichtig ist. Formate wie The L Word oder kürzlich erst Princess Charming haben gezeigt, wie wichtig es auch heute noch ist, immer wieder zu betonen, dass lesbische Liebe real und etwas anderes als enge Freundschaft ist, dass nicht alle Lesben aussehen, wie Onkel Ralf sich Lesben vorstellt, dass Frauen romantische Gefühle und sexuelles Begehren empfinden, auch zueinander, und dass es okay ist, das auch ganz explizit so zu benennen. Jetzt muss das wohl nur noch im deutschen Literaturbetrieb ankommen.


[1] Byrne Fone argumentiert weiterführend, dass die „friendship tradition“ den Ausdruck leidenschaftlicher, gleichgeschlechtlicher Gefühle überhaupt erst ermöglicht. (Vgl. Homophobia. A History. Metropolitan Books, 2000. 333.)

[2] Vgl. Kirsten Plötz: „Weitgehend ignoriert. Lesbisches Leben in der frühen Bundesrepublik“. In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben. Hg. von Gabriele Dennert et al. Querverlag, 2007. 29.

[3] Vgl. Ulrike Hänsch: Individuelle Freiheiten – heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen. Leske + Budrich, 2003. 59.

Beitragsbild von kyo azuma

Autoritäre Authentizität – Reality-TV in der Gegenwart

von Alex Struwe

Im Jahr 1999 stand das Konzept der Realität im Mittelpunkt des popkulturellen Interesses. Kurz vor dem Millenium, an dem angeblich alle Computer und ihre virtuelle Doppelwelt abstürzen sollten, verunsicherte der Film Matrix eine ganze Generation über den ontologischen Status ihrer Welt und zugleich läutete der Start des TV-Formats Big Brother die Ära des Reality-TV ein. Die vulgär antikapitalistische Kulturkritik von Fight Club, Matrix oder Truman Show, dass unsere Wirklichkeit nur bunte Fassade einer „Wüste des Realen“ sei, ging mit dem neuen Jahrtausend in eine Kulturproduktion über, die zwischen Realität und Ideologie gar nicht mehr unterscheiden wollte. Statt weiter an fantastischen Illusionen zu arbeiten, war das Reality-TV Wirklichkeit und Inszenierung zugleich.

Wie Mark Fisher damals schrieb, war Reality-TV gewissermaßen das perfekte kulturindustrielle Produkt jener Zeit: eine kostengünstige Produktion von hochgradig wirksamer Ideologie und zwar auf der Höhe jenes post-ideologischen Zeitgeists, der hinter dem Pathos epischer und „großer“ Erzählungen die eigentliche Ideologie witterte. Statt großer Helden gab es nun echte Menschen, wie man sie aus Talk Shows kannte – einem Genre, das in Deutschland mittlerweile gänzlich ausgestorben ist. Ob im großen „Sozialexperiment“ Big Brother, im sogenannten Trash-TV wie Frauentausch oder den unzähligen Berichtsformaten aus dem Berufsalltag von Polizei, Gericht und Anwaltschaft: Das Fernsehen war jetzt real geworden.

Die Realität des Reality-TV darf dabei nicht zu wörtlich genommen werden. Es geht nicht um die Dokumentation der Lebenswirklichkeit von Menschen. Real sind einzig die Figuren, die man in eine durch und durch künstliche Situation verfrachtet hat: eine „gescriptete Realität“, die aus der Zuspitzung realer gesellschaftlicher Zwänge besteht. Von Anfang an gehörte diese Mogelpackung zum Reality-TV dazu. Denn es ging nicht um eine Alternative zu den ideologischen Erzählungen – um vermeintlich echte Erfahrungen und Einblicke –, sondern um deren Fortführung mit anderen Mitteln. 

Das 90er-Unbehagen gegen die unechte Welt, eine allumfassende Werbeindustrie und die Kommerzialisierung alles Populären übersetzte sich konsequenterweise in die Überzeugung, dass nur die Menschen noch echt seien. Die Wut auf die falsche Gesellschaft hatte sich in die Innerlichkeit verflüchtigt: Das „Fuck the System“ des Punk war in den 1990er Jahren zum „I hate myself and I want to die“ des Grunge und später zum kühlen Hedonismus des Techno geworden. Den Betrug der Welt zu durchschauen, ohne etwas daran ändern zu können, bestärkte auf eine wohlige Art die Vorstellung, immerhin noch ein intaktes Subjekt zu sein. Zu wissen, dass alles aus Plastik besteht, ist die Probe auf das fühlende, authentische Individuum. Und das war die Grundlage, auf der das Reality-TV das Millenium einläutete, das Zeitalter der Sozialen Medien, des Influencermarketings, der beispiellosen Traurigkeit bloß formaler Individualität. Was ist seitdem aus uns geworden?

Im Gegensatz zu manch anderen Formaten des kulturellen Zeitgeists existiert Reality-TV auch in diesen angeblich schnelllebigen Zeiten noch. Es gibt heute unzählige Reality-Shows, die meisten davon die Wiederholung und Abwandlung bewährter Formate. Gerade das erlaubt es, daran eine Entwicklung zu beobachten, die einer gesellschaftlichen Tendenz entspricht: Die Beschwörung des Individuums hat einen ambivalenten Charakter bekommen, den Zug einer zunehmenden Faschisierung. In diesem Widerspruch steckt die passende Subjektivität einer liberalen Gesellschaft, die durch den Fortschritt hindurch immer weiter in die Katastrophe schlittert. 

Reale Demütigung

Am Beginn des großen Erfolgs von Reality-TV steht das Format Big Brother. Unter ständiger Videoüberwachung wurden dabei Menschen in einem „Container“ zusammengepfercht und standen in einem Wettbewerb um möglichst langes Durchhalten. Gegenseitig nominierten sich die Teilnehmenden zum Rauswurf, bis am Ende eine Person übrigblieb, die ein Preisgeld erhielt. In annähernd 70 Ländern wurde die Show ausgestrahlt und nicht selten als gesellschaftliche Grenzüberschreitung diskutiert. Voyeurismus, Mobbing, Druck – die Zuschauenden sahen regelmäßige Zusammenschnitte eskalierender Konflikte und zerbrechender Persönlichkeiten. 

Verkauft wurde dieses Setting als wagemutiges „Sozialexperiment“, was zynisch ist, aber auch einen Punkt trifft. Es zeichnete ganz deutlich die Struktur des Reality-TV vor: Was machen die vermeintlich echten Menschen in dieser simulierten Zuspitzung und künstlichen Verdichtung sozialer Zwänge. Der psychosoziale Stress ist bis heute eine der zentralen Komponenten von Reality-Shows, wenn Kandidat:innen unter Entzug von Privatheit und Schlafmangel ständig „Party machen“ und Wettbewerbe absolvieren müssen. Regelmäßig wird in aktuellen Formaten betont: „Wie krass das alles ist“ und „Ich hab das unterschätzt“.

Das Ursprungsformat Big Brother deutet eine der zwei grundlegenden Varianten an, in die das Genre Reality-TV grob zerfällt, und zwar jene Formate, die hauptsächlich Demütigung zum Gegenstand haben. Im sogenannten Dschungelcamp bis hin zu Das Sommerhaus der Stars geht es vor allem darum, Menschen an der Belastungsgrenze von Ekel, Scham oder sozialen Konflikten beim Kollabieren zu beobachten, ihr Selbstwertgefühl brechen zu sehen. Zur Dschungelprüfung essen die Teilnehmenden Insekten, Känguruanus oder Krokodilpenis, im Sommerhaus müssen sie mit ihren Lebenspartner:innen in Extremsituationen den unmöglichen Zusammenhalt ihrer Beziehung beweisen.

Dass es sich hierbei traditionell um Prominente handelt – allerdings C-Promis, die auf den Wirkungsradius dieser untersten Stufen der Unterhaltungsindustrie beschränkt bleiben –, legte oft die Deutung nahe, hier würde sich das kleinbürgerliche Strafbedürfnis zeigen, diejenigen zu erniedrigen, die sich wohl für etwas Besseres hielten. Eine solche These ließe sich auch am sogenannten Trash-TV plausibilisieren. 

Diese Bezeichnung kommt ja nicht etwa von der minderwertigen Produktion der Formate, sondern daher, dass hier Menschen vorgeführt werden, die offen oder uneingestanden für Abfall gehalten werden: faule Arbeitslose, durchtrainierte Dumpfbacken, Tussies, selbsternannte Prominente, die den Status gar nicht verdient hätten, weil sie ja doch gar nichts geleistet hätten, aber auch Nerds, Dicke oder sonstwas für Leute, die sich gesellschaftlich notwendigen Durchschnitten nicht genügend unterordneten.

Die Lust an Schadenfreude und Bestrafung ist sicherlich ein wichtiger Aspekt vieler Formate. Aber die Gesamtheit des Reality-TV legt einen anderen Schluss nahe. Es geht weniger um diese vermeintlich kathartischen Effekte, den Aggressionsabbau oder sonstige Projektionsleistungen. Genau genommen besteht die Anziehungskraft der Formate vor allem darin, Menschen beim Scheitern am klassischen Ambivalenzkonflikt moderner Gesellschaften zuzusehen, nämlich als freies Individuum abhängig von der Gesellschaft zu sein. 

Die Individuen werden in zugespitzte gesellschaftliche Konflikte gescriptet, die ihnen ihre eigene Grenze aufzeigen sollen. Wie weit werden sie sich an die widrigen Umstände und die irren Regeln anpassen? 

Reales Empowerment

Diese Struktur verbindet die Demütigungsformate mit der zweiten Variante des Reality-TV, die das Gegenteil von Erniedrigung anzuvisieren scheint: In den „Kuppelshows“ wie Der Bachelor und Die Bachelorette, ergänzt um queere Formate wie Prince Charming und Princess Charming geht es um Empowerment. Während sich die erste Sparte der Reality-Shows dem Großthema Individuum und Gesellschaft widmet, sind die Kuppelformate mit der romantischen Liebe befasst. Liebe ist deshalb so wichtig und Anker bürgerlicher Individuen, weil sie traditionell das Trostpflaster für das gesellschaftliche Elend darstellt: Statt einer versöhnten Welt der Freien und Gleichen, soll jeder Topf einen Deckel bekommen, der ihn „ganz“ macht. Im Mittelpunkt der Formate steht daher immer die Frage: „Die große Liebe im Fernsehen finden, geht das?“

Ja, beteuern die Kandidat:innen unentwegt, denn sonst wären sie ja nicht dabei. Sie sind auf der Suche, auf einem „Abenteuer“ und entschlossen, den oder die „Richtige“ zu finden. Gerade an der letzten Staffel der Bachelorette wurde das Empowerment-Potenzial dieser Formate sehr deutlich. Der Cast war divers, die Männer mal Bad Boy, mal Softie, manche konnten sogar über echte Konflikte mit sich selbst sprechen. Die Bachelorette ist eine selbstbewusste und facettenreiche junge Frau, die „weiß, was sie will“ und entgegen aller Widerstände und trotz Haarausfalls „ihren Weg geht“. 

Überhaupt ist der Charakter sehr wichtig, wichtiger noch als Tattoos oder durchtrainiert zu sein. Oft meint das aber nur, dass man ein bestimmtes Set an trivialsten Verhaltensnormen für sich zusammengestellt hat: Man sei „Beziehungsmensch“, humorvoll, ehrlich, kein „Fuckboy“, immer positiv etc. Unzählige Male beobachtet man Unterhaltungen, in denen jemand sagt: „Ich bin ein Familienmensch“. Und die andere Person antwortet: „Du bist vom Charakter echt genau wie ich.“ Die Oberflächlichkeit der Charaktere kann man belächeln, aber es sind ja trotzdem Individuen mit starkem Selbstwertgefühl – auch wenn das nur ihren Marktwert spiegelt.

In der queeren Adaption Princess Charming wirkt das schon emanzipatorisch. Die Frauen nehmen sich gegenseitig in ihren Eigenheiten ernst, es herrscht respektvolle und trotzdem lockere Stimmung, ein fast solidarisches Miteinander in der Konkurrenzsituation der Partnerinnenwahl. In den Gesprächen erfahren die Zuschauenden von den Kämpfen um Anerkennung, Diskriminierungserfahrungen und den abstrakten Idealen liberaler Freiheit und Toleranz. Notwendigerweise bekommen die unzähligen Ich-Botschaften des Diversity aber etwas Gebetsmühlenartiges: Die Betonung, dass man wirklich man selbst ist, geht direkt dazu über, dass es doch egal ist, wer man ist. Diese Leere der freien Individuen rührt natürlich daher, dass ihnen immer noch die Grundlage einer befreiten Gesellschaft fehlt.

Die Tragik einer nur der Idee nach verwirklichten Individualität schwingt bei der Suche nach den Traumpartner:innen, den perfekten Dreamdates, den Reisen nach Mexiko oder Thailand immer mit. Spätestens wenn die Kamerateams die sich jetzt Schatzi nennenden Couples in Düsseldorf oder Köln in der 3-Zimmer-Neubauwohnung mit Dekoartikeln und Live-Love-Laugh-Wandtattoos besuchen, wissen alle wieder, wovon sie das ganze Abenteuer lang eigentlich geträumt haben: dass es zu Ende ist. Der nächste Schritt, zu dem sich alle ständig bereit bekunden – Heiraten und eine Familie gründen –, soll bitte auch der letzte sein. Die Mühen der Individualität laufen auf deren Negation hinaus.

Reale Widersprüche

Darin sind sich beide Varianten des Reality-TV auffallend ähnlich: auf der einen Seite die übermächtigen Zwänge, die zur Selbstaufgabe in der Anpassung treiben, auf der anderen Seite die Sehnsüchte der Individuen, endlich kein Individuum mehr sein zu müssen. Was sie verbindet, ist eben eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der die Kränkungen real sind. Tief drinnen spüren wir, dass die marktförmige Individualität wirklich ein so wenig erstrebenswertes Produkt ist, wie es das Reality-TV bewirbt.

Der Lustgewinn am Reality-TV besteht aber nicht darin, uns diese Einsicht zu ermöglichen. Ein solch kritisches Fernsehen müsste erst noch erfunden werden. Die eigentliche Anziehungskraft des Reality-TV ist, dass die Shows noch einen Schritt weiter gehen: Sie enthalten schon etwas, das man die Rache an der individuellen Freiheit nennen kann. Und dieses Moment wird am deutlichsten in jenen hybriden Weiterentwicklungen, die beide Aspekte des Reality-TV miteinander verschmolzen haben: Temptation Island, Love Island oder Are You the One? verbinden die Partnersuche mit der Gefängnissituation von Dutzenden Kandidat:innen, die in einer Villa zusammengepfercht werden, ab und zu zum Bootfahren oder Stranddate raus dürfen und ansonsten fast jeden Abend feiern und trinken müssen. Hier trifft die emotionale und psychische Zermürbung des Big Brother-Containers auf die zum fast animalischen Akt reduzierten Paarungsrituale besoffener Islander:innen.

Die Sendung Temptation Island bildet in dieser Reihe einen bemerkenswerten Fall. Das Format ist eine Art Beziehungs- oder Treuetest, bei dem sich mehrere Paare für zwei Wochen getrennt in eine Villa mit „heißen Singles“ des jeweiligen Geschlechts begeben. Im US-Amerikanischen Original hat die Serie dabei einen fast psychotherapeutischen Anspruch: Die Kandidat:innen begreifen sich in einer Selbstfindungsphase, sie wollen „wachsen“ (I want to grow as a person) und für sich herausfinden, ob ihre kriselnde Beziehung wirklich das persönliche Investment wert ist. 

Ihre Erlebnisse werden vom Moderator in Einzelgesprächen ausgewertet, der sie immer wieder daran erinnert, dass es dabei um sie und ihren Reifeprozess ginge. In der deutschen Adaption ist von dieser liberalen Sorge um das Individuum kaum etwas übrig geblieben. Es geht hier mehr um Empörung über die Tabubrüche des Fremdgehens, moralische Verurteilung und Skandalisierung der heraufbeschworenen Sex-Eskapaden. Hier gibt es Treue oder Abweichung und jede individuelle Regung läuft Gefahr, als Verrat an den gesellschaftlichen Normen sanktioniert zu werden. Die Ordnung bekommt wieder Vorrang.

Bei genauerem Hinsehen kann man durch die Bank weg etwas Autoritäres in den Sendungen finden: den Körperkult feindefinierter Muskeln, Tattoos und Schönheitseingriffe, die HJ-Männerfrisuren, problematische Vorstellungen vom ‘Südländer’ und die regressiven Familien-, Frauen- und Weltbilder. Klaus Theweleits Männerphantasien waren hier offenkundig Vorlage des Scripts. 

Selbst die Sprache ist dabei von selbstverständlicher Härte und Brutalität durchsetzt, wenn die Männer sich als „Jäger“ vorstellen, die bei Frauen „auf Angriff gehen“, oder regelmäßig Leute ihre Überforderung damit kommentieren, es würde „ihren Kopf ficken“. Die Inszenierung spielt damit, dass sie sich gerade noch so an die Mindeststandards von Triebunterdrückung hält und die Stammesgemeinschaft der soldatischen „Bros“ schon in Aussicht stellt.

Aber es ist eben nicht einfach nur autoritär, was im Reality-TV passiert, sondern hochgradig ambivalent. Dafür ist es absolut bezeichnend, dass die schlimmste Beleidigung in diesen Formaten darin besteht, dass jemand nicht echt sein würde, ein falsches Spiel spiele und „fake“ sei. In diesem hochgradig professionalisierten Business, auf dem sich ganze Karrieren wiederkehrender Reality-Stars aufbauen, wirkt das fast wie Ironie. Aber es liegt eine traurige Wahrheit darin. 

Die Echtheit der Kandidat:innen besteht ja zu einem gewissen Grad darin, schon so beschädigt zu sein, dass ihnen die Stereotypie ihrer Individualität gar nicht mehr vorgegeben werden muss: die Grenzen zwischen professioneller Inszenierung und Personality sind ja ganz real gefallen. Die Authentizität, auf die sich die ganze Zeit berufen wird, hat den bedrohlichen Unterton von Unfreiheit.

Das zeigt sich im Konzept der Authentizität selbst. Während es den Protagonist:innen heilig ist, „sich selbst treu“ und echt zu bleiben, dient diese Vorstellung zugleich zur Abwehr von individueller Verantwortung. Denn es bedeutet nicht, dass man offen über Bedürfnisse und Gefühle spricht, sich als Individuum greifbar macht und damit auch dem Gegenüber die Chance geben würde, dasselbe zu tun. Offen und ehrlich ausgesprochen wird nur, ob „der Vibe stimmt“, „es passt“, es einen „Wow-Effekt“ gegeben hat und ob man „es fühlt“. 

Die Kandidat:innen müssen eben auf ihr Herz hören und ermahnen sich gegenseitig: „Du bist zu verkopft“. Wo eine mystische Kraft des Vibe und der Gefühle waltet, da gibt es tatsächlich nichts mehr zu reflektieren. Denn für seine Gefühle könne man bekanntlich nichts. Unzählige Male wird dies zur Rechtfertigung angeführt: wenn ein Typ einer Frau emotionale Bindung vorspielt, um mit ihr zu schlafen, und dann ganz ehrlich sagt, dass die Gefühle danach weg seien.

Authentisch ist daran, dass man zwar noch ein Individuum, aber streng genommen kein Subjekt mehr ist. Für die Handlungen übernimmt man keine Verantwortung, diese liegt bei höheren Mächten. Ist man aber erst einmal in diesem Zustand, so ist nichts an Individualität erhaltenswert, dann kann sie genauso gut auch einfach in stereotypen Charaktermodellen oder der autoritären Gemeinschaft entsorgt werden. Individualität wird dann zum Argument gegen sich selbst. Das seltsame Nebeneinander von liberalem Empowerment des Individuums und solchen Formen der Regression ist tatsächlich Ausdruck eines Zeitgeistes. Es entspricht der Tendenz eines liberalen Fortschritts, blind in die Katastrophe zu laufen.

Im Reality-TV findet man diese Ambivalenz in Form authentischer Individuen, die ihren Autonomiekonflikt mit gesellschaftlichen Zwängen tendenziell durch Unfreiheit lösen. Das wiederum ist eine Tendenz, in der Ohnmacht schon die überhand genommen hat. Weil sich die Gesellschaft nicht ändern lässt, die einem Freiheit verspricht, aber nicht einlöst, richtet sich die Aggression gegen die Freiheit selbst. Die ambivalenten Individuen des Reality-TV tragen die Spuren dieser Entwicklung und daraus lässt sich vor allem eines über die Realität lernen: der Übergang einer liberalen Gesellschaft in Formen autoritärer oder faschistischer Herrschaft vollzieht sich nicht als Bruch. Es geht schleichend und in verwirrender Gleichzeitigkeit von formaler Freiheit und Regression.

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