Kategorie: Allgemein

History Keeps Me Awake At Night – Leben, Tod und Afterlife von David Wojnarowicz

von Isabella Caldart

Die Collage Untitled (Genet, after Brassaï) ist ein frühes Werk des Künstlers David Wojnarowicz aus dem Jahr 1979 und ist eher für die Debatte, die sie entzündete, bekannt als für ihren künstlerischen Wert. Größtenteils in Schwarzweiß gehalten mit einigen farblichen Akzenten, zeigt die Collage im Vordergrund den französischen Schriftsteller Jean Genet (fotografiert von Brassaï) mit Heiligenschein, im Hintergrund eine heruntergekommene Halle und Engel. Rechts oben im Bild ist eine klassische Darstellung von Jesus Christus am Kreuz zu sehen. Dieser Jesus aber verdreht die Augen nicht, weil er im Sterben liegt, sondern weil er sich gerade Heroin gespritzt hat, wie der Riemen, mit dem sein Arm abgebunden ist und die Spritze unmissverständlich klarmachen.

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Ein Mann einsam auf der Leinwand – Über Tom Cruise, Authentizität und das Altern

von Fabius Mayland

Tom Cruise begibt sich wieder vor unseren Augen in Lebensgefahr. Zuletzt, das war 2018 in Mission Impossible: Fallout, sprang er aus über 7.000 Metern Höhe aus einem Flugzeug, stürzte sich von Gebäuden und steuerte eigenhändig einen Helikopter — jetzt fliegt er einen Kampfjet, setzt sich g-Kräften aus, wie sie sonst nur Astronauten beim Wiedereintritt in die Atmosphäre oder Kunstflugpiloten kennen.

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Es regnet Gürtel! Die Kurzgeschichten von Sine Ergün

von Gerrit Wustmann

Wenn ein Buch den Literaturpreis der Europäischen Union erhält, sollte man annehmen, dass seine Übersetzung ins Deutsche eine Selbstverständlichkeit ist. Aber so manche Annahme erweist sich rasch als Irrtum. Ganze sechs Jahre dauerte es im Fall von Sine Ergüns Kurzgeschichtensammlung „Solche wie Sie“, die nun, übertragen von Sebile Yapıcı, im Berliner Dağyeli Verlag vorliegt – und auch das wohl nur, weil es dem kleinen, auf türkische und zentralasiatische Literaturen spezialisierten Verlag gelang, Fördermittel einzuwerben.

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Arbeit im Panoptikum – Die Serie ‚Severance‘

von Titus Blome

Wer sind wir, wenn die Arbeit unser Leben ist? Diese Frage ist das Kernstück der Dystopie »Severance« auf Apple TV+, das stille Serienhighlight des Jahres. Im Mittelpunkt der neun Folgen steht die zweifache Geschichte von Mark Scout (Adam Scott), der in der Abteilung für Macrodata Refinement (MDR) der ominösen Lumon Industries arbeitet. Zweifach deshalb, weil Mark doppelt existiert – einmal im Büro und einmal außerhalb.

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Wiederentdeckungen – Gabriele Tergits komplizierter Nachruhm

von Sandra Beck

Die kulturpolitische und literaturwissenschaftliche Daueraufgabe einer kritischen Auseinandersetzung mit dem literarischen Gedächtnis wird in den Feuilletons der Gegenwart vor allem im Begriff der ‚Wiederentdeckung‘ greifbar. Dies ist eine wohlfeile, auch auf marktökonomische Interessen abgestimmte Floskel, allerdings auch eine mächtige Handlungsvokabel. Denn einerseits trägt sie Publikum und Literaturwissenschaft ein Nachzuholendes auf und korrigiert ein kulturelles Gedächtnis, das zu lange und zu Unrecht vergessen hat. Andererseits schützt sie vor dem Vorwurf der Missachtung, der gänzlich fehlenden Rezeption, denn wiederentdecken lässt sich nur, was man einmal bereits kannte.

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Refresh – Über ‚Digitale Literatur II‘

von Nina Tolksdorf

Jeder Medienwandel steht in einem engen Zusammenhang mit neuen Formen von Literatur, die sich gegenüber den tradierten meist erst beweisen müssen. Dafür bedarf es nicht einmal eines großen Umbruchs. In Deutschland genügt etwa die Einführung des Taschenbuches, die ab den 1950er Jahren zu ausgiebigen Debatten führte. Auf dem Spiel steht mit der Einführung eines neuen Mediums regelmäßig nichts Geringeres als der Geist. So wurde noch 2006 von einem deutschen Literaturwissenschaftler befürchtet, dass das Schreiben auf Tastatur und Co. dazu führe, dass der Daumen seine oppositionelle Stellung zu den restlichen Fingern verlieren werde, dieses evolutionäre Wunder aber das Greifen und damit das Begreifen ermögliche.[1]  

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Britney, Paris und Monica – das eigene Narrativ zurückerobern

von Isabella Caldart

Am 23. Juni 2021 war es endlich soweit – nach dreizehn Jahren äußerte sich Britney Spears zum ersten Mal zu der Vormundschaft, die ihr Vater zu dem Zeitpunkt noch innehatte. Bis sie die Möglichkeit bekam, vor Gericht auszusagen, mussten Aktivist*innen der #FreeBritney-Bewegung jahrelang auf ihre Situation aufmerksam machen und die „New York Times“-Doku „Framing Britney Spears“ (Februar 2021) erscheinen, die einem breiten Publikum erst die Schwere von Britneys Fall verdeutlichte. Es musste also sehr großen öffentlichen Druck geben. Am Ende ging alles ganz schnell: Am 12. November 2021 wurde die Vormundschaft beendet. Britney Spears ist frei – #FreedBritney, wie sie selbst schrieb.

Die Geschichte, wie Britney Spears ihre Autonomie verlor, ist mittlerweile bekannt. Sie lässt sich auf die misogyne Stimmung der nuller Jahre zurückführen, einer Zeit, zu der es en vogue war, auf Magazincovern über vermeintliche „Schönheitsmakel“ von Frauen zu lästern, Celebritys zu verfolgen und ihre potentiellen psychischen Probleme medial auszuschlachten. Britney ist bei weitem nicht die Einzige, die um die Jahrtausendwende durch den Dreck gezogen wurde: Paris Hilton, Monica Lewinsky, Mischa Barton, Amanda Bynes, Jessica Simpson, Nicole Richie, Lindsay Lohan… die Liste ist lang. Wie konnte es soweit kommen? Welche Rolle spielten dabei die Medien? Und wie schaffen es diese Frauen nach so vielen Jahren, gar Jahrzehnten endlich ihre eigene Geschichte zu erzählen, ihrer Version der Ereignisse Geltung zu verschaffen?

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Instapoetry und Öffentlichkeit -„Rupi Kaur Live“

von Magdalena Korecka

„Rupi Kaur Live“ heißt das im Sommer in den USA und Kanada auf Amazon Prime erschienene, Online-Special der 28-jährigen Dichterin. Die einstündige Performance, gefilmt in Los Angeles im Jahr 2020, vor Corona also, beinhaltet Lesungen von Gedichten aus den millionenfach verkauften Anthologien milk and honey (2014), the sun and her flowers (2017) und home body (2020). Berühmt wurde Kaur durch eine Menstruations-Fotoserie und ihre kurzen, mit eigenen Illustrationen versehenen Gedichte auf Instagram. Dieser Instapoetry folgen mittlerweile 4.4 Millionen Leser*innen (@rupikaur_). 

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Literarischer Stadtplan für New York City

von Isabella Caldart

Seit anderthalb Jahren gibt es ein Einreiseverbot für Europäer*innen in die USA, das noch immer nicht wieder aufgehoben wurde. Ein Glück, dass man sich mithilfe von Büchern sicher, günstig, schnell und umweltschonend an persönliche Traumziele weltweit lesen kann. Ein besonders beliebtes Traumziel ist für viele New York City; rund 65 Millionen Besucher*innen (darunter 13 Millionen aus dem Ausland) verzeichnete die Stadt in prä-pandemischen Jahren. Zugleich gehört New York auch zu den beliebtesten Schauplätzen von Romanen.

Wer an New-York-Bücher denkt, denkt zumeist an Romane wie Fegefeuer der Eitelkeiten, Manhattan Transfer oder Die New-York-Trilogie. Aber es gibt eine wesentlich größere Bandbreite an literarischen Texten, die New York als Setting haben. Auffällig dabei: Im East Village und in Harlem sind besonders viele Geschichten angesiedelt, und vor allem die siebziger Jahre, eine Zeit, in der New York dreckig und gefährlich war, werden als zeitlichen Rahmen gerne gewählt. Eine Auswahl.

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Lesen & die Liebe zu lausigem Wetter

von Gerrit Wustmann

Samstag, 22. Mai 2021. Das Pfingstwochenende. Dreizehn Grad im Kölner Umland, gefühlt eher zehn oder weniger. Der Himmel ist grau, der Tag dunkel, es ist stürmisch, der Wind rauscht durch die grüne Weide im Garten, die Tauben klammern sich an den Ästen fest und blicken grumpy. Ebenso wie die wenigen Menschen, die mir beim vormittäglichen Waldspaziergang begegnet sind. Sie hatten auf sonnige Feiertage gehofft. Sie schimpfen übers Wetter. Die Luft riecht nach Regen.

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