Autor: Peter Hintz

Im Osten nichts Neues – Über den Bestseller von Dirk Oschmann

von Peter Hintz

Der relative Mangel an ostdeutschen Führungsfiguren im hiesigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wird in Deutschland medial auf verschiedene Weise aufgenommen: Mit Optimismus, dass es nach und nach mehr wird, mit Realismus, dass es für die aktuelle Situation historische, politische und soziale Gründe gibt, oder mit eingeschränktem Fatalismus, dass für andere Ostdeutsche alles schief läuft, sich aber zumindest die eigene Ossi-Brand pushen lässt.

Dirk Oschmanns Langessay Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung (Ullstein 2023) hat bereits Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste erreicht. Es handelt sich um ein Debattenbuch aus dem postfaktischen Zeitalter. Nicht nur wartet das Sachbuch mit populistischen Thesen zur anhaltenden Marginalisierung Ostdeutscher durch Westdeutsche auf, zur Immunisierung vor naheliegender Kritik betont der Autor gleich selbst in der Einleitung, dass es ihm gar nicht auf Genauigkeit ankomme: “Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise”. Oschmann, der ursprünglich aus Gotha stammt und in Leipzig als Professor für Germanistik tätig ist, befürchtet, dass ansonsten sein politisches Anliegen “bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt”.

Unsichtbar bleibt für Oschmann sonst die Geschichte einer BRD-Hegemonie über den Osten, die nichts weniger als den Imperialismus des Kaiserreichs in Afrika sowie die nationalsozialistische “Ostpolitik” fortsetze: “‘Buschzulage’ und ‘Aufbau Ost’ – ein rassistischer Begriff aus der Zeit des deutschen Kolonialismus einerseits und eine menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis andererseits: Darin verdichten sich die zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten”. Als ob das Problem dieser Neunzigerjahre-Sprache nicht vor allem darin bestand, dass privilegierte Westdeutsche und privilegierte Ostdeutsche sich wechselseitig zu Opfern von white man’s burden und rassistischer Diskriminierung erklärten, während in der Nachbarschaft die Asylheime brannten.

Je drastischer Oschmann die ostdeutsche Unfreiheit und die westdeutsche Fremdherrschaft herbeiredet und das interne politische Geschehen im Osten – nicht zuletzt den Rechtsradikalismus – dabei ausblendet, desto weniger überzeugend ist seine Argumentation. Pauschale Thesen von einer ‘antiautoritären Prägung’ des Ostens durch den Umsturz ‘89, die durch AfD und PEGIDA popularisiert worden sind, sind historisch nicht haltbar. Wenn Oschmann schreibt, dass man Ostdeutschen, die “teils mit hohem persönlichen Risiko eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären [muss], was Demokratie ist”, so sollte dabei zwischen DDR-Regimegegnern und Regimeprofiteuren unterschieden werden. Letztere spielen bei Oschmann kaum eine Rolle, ‘die Ostdeutschen’ waren in der Opposition oder zumindest passive Opfer des Systems. Nach dieser Begründungsschablone verengt der Literaturwissenschaftler Oschmann hohe AfD-Ergebnisse im Osten auf westdeutsche Täter wie Björn Höcke sowie auf das Versagen der westorientierten übrigen Parteien.

Ähnliche Klischees werden auch in Oschmanns Verhandlung der ostdeutschen Literaturszene deutlich, einem Schwerpunkt des Buchs, in dem es vorrangig um kulturelle Machtansprüche des Westens gehen soll: “Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr. Man kennt und liest sie nicht, weil sie aus dem ehemaligen Osten kommt und deshalb nichts wert sein kann.” Mit Verweisen auf tatsächlich (Inge Müller, Franz Fühmann) und eigentlich gar nicht vergessene Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Osten (Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller, Brigitte Reimann) biedert Oschmanns Buch sich an ein bestehendes gebildetes Publikum in Ost und West an, ohne dass es ihm gelingt, etwas Neues zur “DDR-Literatur” zu sagen. Zum Beispiel dazu, dass der ebenfalls erwähnte Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig gerade in den USA eine Renaissance erlebt.

Ingo Schulze liefert dem Buch einen Blurb, obwohl Schulzes letzter, erzählperspektivisch äußerst komplex konstruierter Roman, Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer 2020), selbst eben die nicht einseitig ‘westdeutschen’, sondern wechselseitigen kulturellen Projektionen auf den Osten abbildet. Schulzes Roman destabilisiert damit sowohl Sachsen-Romantik à la Uwe Tellkamp als auch journalistische Dämonisierungsversuche im Sinne eines berüchtigten (und eigentlich falsch verstandenen) Spiegel-Covers, an dem sich Oschmann abarbeitet. Statt etwas Unerwartetes dazu zu schreiben, rekapituliert Oschmann auch bloß den neueren Kunststreit zwischen dem ostdeutschen Maler Neo Rauch und dem westdeutschen Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, versucht daran zu beweisen, dass es der ostdeutsche Kunstbetrieb schwerer hat als der im Westen – als ob diese Debatte nicht auch den steigenden Einfluss von ostdeutschen Künstlern im (inter)nationalen Diskurs zeigen könnte.

Nach Oschmann ist “die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe […] die der ostdeutschen Männer insbesondere der Jahrgänge 1945-1975 […], das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR”. Oschmann bezieht sich dabei auf die historisch-soziologische Studie Lütten Klein (Suhrkamp 2019) von Steffen Mau, die eine Benachteiligung von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch in anderen sozialen Feldern nachweist. Im Gegensatz zu Oschmann ist nach Mau der Osten aber eben keine simple Projektions- und Konstruktionsfläche des Westens. Ein Verständnis der Transformation des Ostens seit der Wende verlangt auch einen Blick auf die DDR-Gesellschaft vor 1989. Faktoren wie die ethnische Homogenität der DDR, der lange Zeit niedrigere Ausbildungsstand und Akademikermangel im Osten, Abwanderungsbewegungen sowie die – von engagierten Ostdeutschen selbst initiierte – politische Ausgrenzung der alten SED- und Stasieliten müssen dabei ebenso zentraler Teil der Erzählung sein wie westdeutsche Machtinteressen, Netzwerke und Administratoren. Oschmann hingegen betont die Rolle negativer Stereotype über Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs, erfindet einen ‘antiostdeutschen’ Rassismus und verfehlt damit strukturelle Ursachen für empfundene Probleme. Aber bekanntlich enthält sein Buch ja einen Undifferenziertheits-Disclaimer, der interessanterweise dann doch nicht gilt, wenn es darum geht, herauszustellen, dass Hitler Österreicher war.

Kuriositäten, die ein weiteres Ergebnis von Unterkomplexität mit Ansage sind: Als Teil von Oschmanns Versuch, eine allgemein negative Konnotation des “Ostens” im öffentlichen Diskurs herzuleiten, präsentiert er die Stadt Leipzig als geteilt in einen attraktiven Westen und in einen “fast verrufen[en]” Osten. Für mich als Leipziger ist das einigermaßen befremdlich, da sich schon seit einigen Jahren eben auch der Leipziger Osten zur Hipster- und Studentengegend gentrifiziert. Zum mangelnden Stadtinteresse passend findet Oschmanns Buchpremiere aber gar nicht am Ort seiner Professur in Sachsen statt, sondern in Prenzlauer Berg, bekanntlich ebenfalls hip und historisch in Ostberlin gelegen.

Positive Entwicklungen seit der Wiedervereinigung etwa die sich angleichenden Niveaus bei Löhnen und Arbeitslosigkeit, Industrieboom und Modernisierung der Infrastruktur, steigende Zufriedenheit in den ostdeutschen Bundesländern – weist Oschmann mit Verweis auf das Debate-Me-Primat zurück: “Natürlich verstehe ich auch den Wunsch nach ‘differenzierter Darstellung’. Die gibt es aber nun schon in Hülle und Fülle – und interessiert den Westen überhaupt nicht”. Aha. Als ob Oschmanns Populismus nicht vor allem an eine Leserschaft in den ostdeutschen Bundesländern verkauft werden soll, statt sonst wen überzeugen zu wollen.

Neue politische Romane jüngerer ostdeutscher Autorinnen und Autoren bieten sozialkritische Gegenerzählungen zu Oschmanns eigenem pessimistischen Narrativ, was aber auch einen möglichen ostdeutschen Generationenkonflikt offenbart. Das ist vor allem erwähnenswert, weil Oschmann sie als das, “was der Westen sich vom Osten denkt” verächtlich macht. Diese Texte leisten ihre eigene Gedächtnisarbeit durch fiktionalisierte Jugenderinnerungen der sogenannten “Baseballschlägerjahre”. Im Hinblick auf solche autofiktionalen Romane kann man Oschmanns Faszination für die “Verknüpfung von subjektiver Geschichte und sozialer Analyse” teilen, nur ist Oschmanns eigener Text viel eher polemisch als analytisch und ordnet seine eigenen, für sich genommen erhellenden autobiografischen Anekdoten aus dem deutschen Universitätsbetrieb, dieser Polemik unter.

Hendrik Bolz’ Nullerjahre (KiWi 2022) etwa zeichnet aus der Ich-Perspektive ein schier endloses, fast rauschhaftes Panorama schulischer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern in den 2000er Jahren. Diese Gewalt ist politisch aufgeladen durch rassistische, schwulenfeindliche und antisemitische Rhetorik und gestützt durch die Abwesenheit von Kontrollinstanzen. Oschmann verkennt völlig, dass solche Erinnerungen eben nicht nur affirmativ ein westdeutsches Publikum erreichen wollen, sondern zuerst einer jüngeren ostdeutschen Generation insgesamt eine Stimme geben. Bolz’ empathischer Roman verschweigt nicht die Strukturschwächen des Ostens im Vergleich zum Westen, sondern macht eben durch sein Verlegen der Handlung in die vermeintlich boomenden “Nullerjahre” auf sie aufmerksam. Vielschichtiger als Oschmanns Wessi-Ossi-Opfergeschichte erzählt der Roman die Erzeugung von Männlichkeit zwischen Autorität und Vorbildern, Klasse und Weißsein.

Eine Gewaltgeschichte erzählt auch Anne Rabes spannungsreicher, aus weiblicher Perspektive geschriebener Debütroman Die Möglichkeit von Glück* (Klett-Cotta 2023), der fast zeitgleich mit Oschmanns Buch erschienen ist und mit gegenwärtigen Verklärungen der DDR aufräumt. Diese Verklärungen sind heute weniger im konsumistisch-nostalgischen Stil von Good Bye, Lenin! (2003) gehalten, sondern entdecken den Osten gern als kulturkonservative Alternative des ‘kleinen Mannes’ zum liberalen Westen. Anne Rabes Protagonistin Stine, wie der Ich-Erzähler von Nullerjahre von der Ostseeküste, stammt aus einer Familie von DDR-Funktionären. Eine Archivrecherche über ihren Großvater führt sie zu den Ursprüngen und Nachwirkungen der autoritären DDR-Pädagogik, die ihre Kindheit und Jugend in den Nachwendejahren prägen. Gerade zum Verständnis von sozialen Brüchen nach ‘89 ist also das Wissen um kontinuierliche Machtverhältnisse nicht nur im Westen, sondern auch im Osten notwendig.

Zwar ist Oschmanns Buch inzwischen von einem halben Dutzend Leitmedien besprochen worden und in der Bestsellerliste gelandet, doch neue Impulse außerhalb längst bekannter fatalistischer Narrative vermag es nicht zu geben. Für die Rezeption eines in einer überregionalen Tageszeitung erschienenen Textes, den Oschmann für Der Osten auf Buchlänge erweitert hat, dreht der Autor aber schon mal eine kapitellange Siegerrunde. So verkündet er:

“Mein FAZ-Artikel Wie sich der Westen den Osten erfindet ging am 3. Februar kurz vor Mitternacht online: Bereits um 0.04 Uhr bekam ich die erste positive Reaktion aus der Schweiz. […] Mir sind per E-Mail und per Post Studien, Aufsätze und Bücher zum Thema geschickt worden, von Soziologen, Historikern, Politologen und Linguisten, die das ungeheure Ausmaß der Benachteiligung mit Fakten und Daten belegen. – Offenbar hat der Text einen Nerv getroffen.”

Jenseits des Matterhorns lässt sich Folgendes konstatieren: Oschmanns Intervention im Namen einer deklassierten lost generation von ostdeutschen Männern, die sich inzwischen nahe vorm oder schon im Rentenalter befinden, kann merkwürdig verspätet wirken und ist, wie auch das angefügte fünfzehnseitige Literatur- und Anmerkungsverzeichnis zeigt, ein Kompilat von über dreißig Jahren Debatte zum Thema. Doch gerade in seiner Umwandlung von Kränkungsgefühlen in Tatsachen und in seiner Läuterungserzählung, in der Oschmann sich als enttäuschter Grün-Liberaler präsentiert, knüpft sein Buch an aktuelle populistische Redeweisen an, die eine sich als marginalisiert empfindende weiße Männlichkeit politisiert.

Unterbrochen wird Oschmanns Polemik-Performance immer wieder durch versichernde Einschübe, dass er sich möglichen Einwänden gegen die Überzogenheit seiner Rhetorik selbst bewusst ist: “Der Ton stört gewaltig, ich gebe es sofort zu. Denn ich sage ja nichts Neues, aber ich sage es hoffentlich anders: zorngesättigt und frei”. Und vielleicht nimmt gerade diese völlige Transparenz, intellektuell unehrlich zu sein und ein gewaltiges Medienereignis bewirken zu wollen, dem Buch das Potenzial, dies über erwartbare Talkshowauftritte, Zustimmung der Unzufriedenen und verdiente Verrisse hinaus tatsächlich provozieren zu können.

* Anne Rabe ist selbst Autorin bei 54books; mir lag vorab ein Manuskript ihres Romans vor.

Geschichte und Traum – Colson Whiteheads „Harlem Shuffle“

von Peter Hintz

Für seine historischen Romane, die angesichts des Trump-Schocks an vergessene rassistische Gewalt erinnerten, ist Colson Whitehead weltberühmt geworden. Underground Railroad (2016) war ein Drama der amerikanischen Sklaverei im 19. Jahrhundert, das vor vielen Verweisen auf die Zeit danach nicht Halt machte. Vor dem Hintergrund der liberalen Civil-Rights-Ära ging es zuletzt in den Nickel Boys (2019) um eine vermeintliche Besserungsanstalt in Florida, die noch bis in 1960er Jahre hinein Schwarze Jugendliche zu Zwangsarbeit verpflichtete, folterte und ermordete.

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Literarischer Trumpismus – Constantin Schreibers „Die Kandidatin“

von Peter Hintz

Wer nach der Abwahl Donald Trumps gehofft hatte, dass es nach über einem Jahrzehnt rechtspopulistischer Bestsellerindustrie nun erst einmal genug mit rassistischen und sexistischen Mängelexemplaren sei, den wird die eben bei Hoffmann und Campe erschienene dystopische Satire Die Kandidatin enttäuschen. Es geht um eine islamische Politikerin, die als Kind wohl während der ‘Flüchtlingskrise’ 2014/15 aus dem Libanon nach Deutschland gekommen ist und die nun Mitte des 21. Jahrhunderts als Repräsentantin einer grünen Partei kurz vor der Kanzlerschaft steht, obwohl sie und ihre Anhängerschaft das Land ruiniert haben.

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Sex, Sokrates und Ressentiments – Thea Dorn hat einen Corona-Roman geschrieben

von Peter Hintz

 

In den letzten zehn Jahren hat Thea Dorn, bekannt als Kriminalschriftstellerin und Moderatorin, eine fieberhafte Produktivität als meinungsstarke Autorin von Essays und Sachbüchern entwickelt. Ach, Harmonistan (2010) beklagte einen Mangel an deutscher Streitkultur (bevor sie 2020 wieder zur Maßhaltung aufrief), Die deutsche Seele (2011) erklärte unter anderem Wurst und Dauerwelle zur deutschen Essenz und mit Deutsch, nicht dumpf (2018) wollte sie laut Klappentext “Heimat, Leitkultur, Nation […] nicht den Rechten überlassen”. Weiterlesen

Autorin der Männer – Patricia Highsmith im Spiegel aktueller Geschlechterdiskurse

von Peter Hintz

 

Zu den grundlegenden Aspekten hegemonialer Männlichkeit gehört die Klage und das Gejammer, dass sie in einer Krise stecke. Das zeigt auch das im November 2020 in der edition suhrkamp erschienene Buch Politische Männlichkeit von Susanne Kaiser. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Gegenwart untersucht Kaiser autoritäre Bewegungen und die Rolle, die patriarchale Ideologien für sie spielen. Wie Kaiser überzeugend darlegt, ist diese Ideologie – von offensichtlichen Beispielen wie den sogenannten Incels und Pick-up-Artists bis zur AltRight und AfD – zum politischen Bindeglied vermeintlich sozial isolierter Männer geworden, die sich online und offline vernetzen und organisieren. Gemeinsam haben die Bewegungen vor allem eins: Gegenderte Abstiegsnarrative, die vor der Emanzipation der Frau und der Verweichlichung des Mannes warnen, um Gewalt gegen Frauen zu rechtfertigen.  Weiterlesen

Utopische Dystopie – Die DDR-Obsession der Rechten

von Peter Hintz

 

Es dürfte kein Geheimnis sein, dass deutsche Rechte seit Jahren eine Ostdeutschland-Obsession haben. So berichtet etwa der Journalist Roland Tichy in der aktuellen Printausgabe des nach ihm selbst benannten rechtspopulistischen Blogs Tichys Einblick von seinen eigenen Erlebnissen in der Wendezeit. Als sogenannter “Buschoffizier” der Bundesregierung war Tichy damals als Berater nach Ostdeutschland geschickt worden, um die staatlichen Strukturen der DDR abzuwickeln. Im Tonfall eines gealterten Kriegsreporters erzählt er unter anderem, wie man im Flugzeug von Köln nach Berlin die Beine der mitreisenden Sekretärinnen berührt hätte, aber vor allem, mit welchem Missionseifer er gekommen sei, um “Freiheit und Wohlstand” mitzubringen. Weiterlesen

Kunstautonomie als rechtes Ideal – Von Neo Rauch bis Uwe Tellkamp

von Peter Hintz

 

Wie mit einem ekelerregenden, persönlichen Angriff auf die eigene publizistische Arbeit umgehen? Der neue, gerade bei Wagenbach erschienene Essay Feindbild werden des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Ullrich ist nicht nur Resümee seines Konflikts mit dem weltberühmten Leipziger Maler Neo Rauch, sondern zeigt, wie Ullrich im Modus der kunsttheoretischen Analyse wieder Distanz zu Rauch herstellen will. Rauch hatte letztes Jahr ein großformatiges Schmähporträt von Ullrich gemalt, das den ebenfalls in Leipzig lebenden Kritiker als sogenannten “Anbräuner” karikierte, der aus seinen Fäkalien Nazi-Vorwürfe auf eine Leinwand malt. Daraufhin wurde Ullrich zum Ziel rechter Blogs gemacht, die ihn nun mit einem digitalen Shitstorm überzogen, und zum Hohn versteigerte Rauch schließlich sein Gemälde auf einer großen Charityauktion. Weiterlesen

Raunen für Clicks

Von Peter Hintz

 

Botho Strauß spricht wieder zu uns. In gewohnt metaphernreicher Sprache heißt sein neuester Aufsatz Der Leviathan unserer Tage. Es gehört nun zu den etablierten Kuriositäten der deutschen Nachrichtenmedien, dass dort alle 3-5 Jahre ein neuer, kulturkritischer Großessay von ihm erscheint. Diese Texte verstehen sich in der Nachfolge seines Aufsatzes Anschwellender Bocksgesang (1993), der während der Jugoslawienkriege dem bürgerlichen Ressentiment gegen Geflüchtete Ausdruck verlieh und zum Gründungsdokument der Wendegeneration der sogenannten Neuen Rechten wurde. Traditionell wählt Strauß für diese Textsorte nicht etwa – wie in kulturkritischer Praxis zu vermuten – eine Literaturzeitschrift mit winzigem Publikum, sondern entweder den Spiegel, oder, wie für seinen neuesten Essay, Die Zeit. Weiterlesen

Kitsch und AfD – Zur Ästhetik des aktuellen Rechtsradikalismus

In den letzten Jahrzehnten hat die Konjunktur des Kitschvorwurfs nachgelassen. Populären Autoren wie Takis Würger oder Karl Ove Knausgård, die ihre Texte durch Semi- oder Autofiktionalität gern mit Natürlichkeitspathos aufladen, wird er zwar manchmal gemacht, dabei aber nicht mit der verallgemeinernden Ablehnung alles Trivialen, die sonst oft dazugehörte. Während Urheber und populärer Gegenstand in Zweifel gezogen werden, ist man vorsichtiger geworden, dessen Rezipienten zu stark zu kritisieren. Was den Kitschvorwurf nämlich besonders problematisch macht, ist die mit ihm verbundene Unterstellung, nicht nur mit dem Werk, sondern auch mit den Fans des Kitsches sei etwas nicht in Ordnung. Doch diese soziale Dimension des Kitschvorwurfs heißt nicht, dass es den Kitsch als ästhetisches Phänomen nicht gäbe und der Begriff nicht zur Analyse bestimmter Texte gerade aufgrund ihrer Funktion im politischen Diskurs hin hilfreich sein kann. Weiterlesen

Flâneur am rechten Rand

Nachdem die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke verkündet worden war, übermittelte die Antaios-Lektorin Ellen Kositza auf Twitter die begeisterte Zustimmung ihres Ehemanns, des Antaios-Verlegers Götz Kubitschek: Per Shelfie zeigte sie die einigermaßen umfangreiche Handke-Sektion des Burgbücherschranks. Tatsächlich hatte Kubitschek, der seit einigen Jahren einem breiten Publikum am besten für seinen Speiseplan und seine Funktion als Ideologe von AfD und Identitärer Bewegung bekannt ist, Handke bereits 2012 als Teil des „Lektürekanons rechter Leser“ (Sezession 45/2011) bezeichnet. Literatur spielt für eine Gruppe, die sich vom Mainstream wahlweise als kulturell enthoben oder eingebunden verstehen will, schließlich keine ganz triviale Rolle.

Doch warum Handke? Zunächst haben die Schnellrodaer Selbstdarsteller*innen die Angewohnheit, ihrer eigenen Marke Publizität zu verschaffen, indem sie sie gebeten (Uwe Tellkamp) oder wahrscheinlich ungebeten (Eugen Ruge) mit etablierten Namen aus dem Kultur- und Literaturbetrieb verknüpfen. Handke ist dabei aufgrund seiner geschichtsrevisionistischen Haltung zum Völkermord im ehemaligen Jugoslawien eine Figur, die sich ähnliche Kritiker*innen wie Kubitschek gemacht hat – Kritiker*innen, die einem positivem Bezug auf Rassismus und Nationalismus weder zustimmen und denen diese Haltung auch nicht egal ist, nur weil sie sich nicht von angeblich kontextbefreiter Ästhetik ablenken lassen.

Betrachtet man Handkes eigene Jugoslawien-Interventionen, so wird deutlich, dass eine Nähe zur europäischen radikalen Rechten nicht rein zufällig ist. Wie bereits von FAZ und besonders eindrucksvoll von Alida Bremer im Perlentaucher berichtet, gab Handke noch 2011 dem verschwörungstheoretischen Magazin Ketzerbriefe ein Interview, in dem er die Opfer des Massenmords von Srebrenica verhöhnte. Wie weiter zurückliegende Äußerungen Handkes in einschlägigen Publikationen zeigen, hat eine Nähe zu rechten Extremisten bei ihm Tradition. Als Teil seiner Unterstützung Serbiens im Kosovokrieg war Handke 1999 einer der Unterzeichner einer Querfront-“Antikriegspetition” des Gründervaters des intellektuellen Nachkriegsrechtsradikalismus in Europa, des französischen Philosophen Alain de Benoist. Die Erklärung sprach sich unter anderem gegen das “erste Bombardement eines souveränen europäischen Staates durch eine amerikanische Militärallianz” seit dem Zweiten Weltkrieg aus und solidarisierte sich gleich auch noch mit den Palästinensern. Unter den Unterzeichnern fanden sich neben Handke die Schriftsteller Jean Raspail (“Das Heerlager der Heiligen”) und Guillaume Faye (“Ethnische Apokalypse: Der kommende europäische Bürgerkrieg”), sowie viele andere französische, deutsche und amerikanische Autoren aus dem ganzen neurechten, rassistischen Spektrum.

Während andere prominente Unterzeichner, denen der Inhalt des Aufrufs wohl nicht unangenehm genug gewesen war, ihre Unterschrift zurückzogen, als die Initiatoren und Mitunterzeichner noch offensichtlicher geworden waren, geht Handkes Verbindung zur französischen Nouvelle Droite weiter zurück. Bereits 1996, auf der Höhe des Skandals um Handkes Jugoslawien-Reportagen, erschien sowohl in der deutschen Zeitschrift Novo (Nr. 22/1996, wiederveröffentlicht von Suhrkamp) als auch in französischer Übersetzung im Theorieorgan Alain de Benoists, der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Éléments pour la civilisation européenne (Nr. 86/1996, wiederveröffentlicht in Nr. 149/2013), ein Interview mit Handke. Ganz im Duktus der heutigen Lügenpresse-Rufer erzählt Handke darin dem Novo-Chefredakteur Thomas Deichmann (später als Beistand des Kriegsverbrechers Duško Tadić und noch später als “Klimaskeptiker” bekannt), dass die “Medien […] eine Art Viertes Reich bilden” würden, in dem “im Vergleich zum Tausendjährigen Reich, das nur zwölf Jahre gedauert hat, überhaupt kein Ende abzusehen” sei.

Handke kann behaupten, von diesen Assoziationen mit europäischen Faschisten nichts gewusst zu haben, nichts autorisiert zu haben, nicht für das Handeln seiner Fans verantwortlich zu sein. Aber Nichtwissen hat bei ihm Tradition, und das, was er unterschrieben und gesagt hat, spricht für ihn selbst.