Autor: Katharina Walser

Eine kurze Geschichte des Nicht-Schreibens – Mit Tillie Olsen

von Katharina Walser 

Ich sitze hier und warte bis meine Großmutter aus dem MRT kommt. Vor einigen Wochen war sie in Kroatien gestürzt. Den Bus wollte sie erwischen, um von ihrer älteren Schwester, die sie dort zeitweise pflegt, nach Hause zu fahren. Der Bus fährt nur ein paar mal am Tag von der dalmatinischen Hafenstadt ins kleine Dorf im Hinterland und sie war spät dran, ist zu schnell gelaufen, über ihre eigenen Sandalen gestolpert und der Länge nach hingefallen. Für einen Sturz Mitte 80 ist es “gut” gegangen, “nur” die Hand war gebrochen. Aber nun war die ewige Kümmerin selbst verletzt und musste dorthin kommen, wo sich andere noch um sie kümmern konnten. Zu uns nach Deutschland. 

Ich warte bis die Untersuchungen gelaufen sind und ich zurück ins Arztzimmer kommen kann, um zu übersetzen. Auf meinem Schoß liegt ein Rezensionsexemplar der deutschen Erstübersetzung von Tillie Olsens gesammelten Essays Was fehlt (Ü: Nina Frey & Hand-Christian Oeser), ein Buch, auf das ich lange gewartet habe. Es ist ein Montag im September 2022, 7 Uhr morgens – der einzige Termin, der in der Radiologie zu kriegen war. Bis wir wieder gehen können, ist es 10 Uhr, bis ich sie nach Hause gebracht habe, 12 Uhr, bis ich zurück an meinem Schreibtisch bin, 14 Uhr. Statt zu arbeiten, rufe ich meine Mutter an, um ihr von Großmutters Zustand zu berichten und zu planen, wer diese Woche wann vorbei fahren kann, um einzukaufen, zu kochen, zu putzen. Ich mache in dieser Woche 15 Minusstunden bei der Lohnarbeit. Wie viele Minusstunden ich an meinen Texten mache, weiß ich nicht, denn fürs Schreiben werde ich meist nicht bezahlt. Für mein Schreiben habe ich kein Log-in-System oder Urlaubstage. Ich schreibe nach der Arbeit abends, am Wochenende und manchmal, wenn ich sonst nicht dazu käme, auch in der Mittags-”Pause”. Wenn die Care-Arbeit dann noch hinzukommt, die sich nicht auf Wochenendtage oder Mittagspausen verschieben lässt, schreibe ich wochenlang gar nicht und bereue Rezensionen zugesagt zu haben, als die Care weniger war und meine Naivität groß. 

Die Personen, die durch die Strukturiertheit unserer Lebens-und Arbeitswelt – in diesem Fall den Strukturen des Literaturbetriebs und den Bedingungen für freie Autor:innenschaft – auf verschiedenste Weise vom Schreiben abgehalten werden oder es nur durch einen sehr beschwerlichen Weg schaffen, sind Olsens Gegenstand: “Schreibende einer Klasse, eines Geschlechts oder einer Hautfarbe, die in der Literatur nur am Rande vertreten sind – für sie ist eine erschöpfende Leistung, trotz verschwindend geringer Chance eine ‘schriftliche’ Stimme gefunden zu haben.” Dieses, wie Olsen es nannte, “Schweigen der Marginalisierten”, das eintritt, wenn bestimmte Personen nicht mehr oder nur sehr wenig schreiben können,  ist ein vielfältiges, denn die Unterdrückungsmechanismen, die verschiedene gesellschaftliche Stimmen klein halten, sind mehrfach miteinander verschränkt. Auch, wenn sie den Begriff noch nicht nutzen konnte, Olsen wusste sehr genau von dieser Mehrfachdiskriminierung. Sie widmete sich in ihren Essays und Vorträgen auch durch ihre eigene Perspektive als Mutter und postmigrantisches Arbeiterinnenkind, vor allem den ineinandergreifenden Geschlechts- und Klassen-Diskriminierungen, die an diesem “unnatürlichen Schweigen” in der Literatur partizipieren.

Doch welche Umstände braucht es, um in dieser versteinerten literarischen Umwelt Fuß zu fassen? Mit einem Blick in Notizen und Tagebücher bekannter Schriftsteller:innen, unter anderem Henry James, Thomas Mann, Joseph Conrad, Virginia Woolf, Katherine Mansfield oder Rilke, zeigt Olsen, dass es vor allem die Freiheit von Care-Arbeit, die Geschlechtszugehörigkeit und die finanziellen Mittel sind, die zum Schreiben ermächtigen. So regelte eine “stille, wachsame, unermüdliche Liebe” Joseph Conrad im Hintergrund seines Schaffens den gleichmäßigen Ablauf seiner Tage. Ruhe und Stille braucht es im Sinne dieser großen Literat:innen, um zu schreiben, dieses “unbegrenzte Alleinsein“, das Rilke suchte. Im Umkehrschluss ist für diejenigen, für die diese Ruhe nicht möglich ist, die Kümmernden, ein Schreiben also nicht möglich, oder zumindest nicht in dem Maß, das es braucht, um große Erfolge und Quantität in Produktion zu liefern. 

Wenn ich mit Kolleg:innen aus nicht-migrantischen Familien spreche, die ebenso um meine angesammelten Minusstunden wissen wie ich, heißt es oft, ob die Oma denn nicht alleine zum Arzt gehen könne, das sei doch nicht “meine Aufgabe”, sie zu all ihren Terminen zu begleiten. Und ich denke daran, wie einseitig Care selbst in vermeintlich feministischen Kreisen immer noch gedacht wird. 

Es fehlt ein breiterer Begriff von Care-Arbeit. 

Immerhin gibt es langsam überhaupt einen Begriff, mit dem die Arbeit bezeichnet wird, die auf Gehaltszetteln unsichtbar bleibt, die Zuhause und in Familien geleistet wird –  einen Begriff für die Pflege, die Betreuung, die emotionale Arbeit und den mental load. Und es gibt eine immer weiter erstarkende öffentliche Debatte darum, wie diese Care- mit 40h Lohnarbeit zusammenfinden soll. 

Für die Zunft der Schreibenden, haben sich in den vergangenen Jahren Anthologien wie Schreibtisch mit Aussicht und Autor:innenkollektive wie writing with CARE/RAGE oder otherwirtersneedtoconcentrate mit dieser, wie die Journalistin Mia Latkovic es in ihrer aktuellsten Newsletter-Folge benennt, “VerKeinbarkeit” von Schreiben und Care auseinandergesetzt. Vor allem mit der Doppelrolle, die gerade schreibende Mütter zu stemmen haben und mit die auch Olsen primär beschäftigte. 

Diese Debatte wird zurecht geführt, denn die geleistete Care ist auch in Deutschland und auch in den 2020ern in keinster Weise gendergerecht verteilt. Bleibt die Debatte jedoch dort stehen – das wird mir bei den Kommentaren meiner Kolleg:innen aufs Neue bewusst – denkt sie bei weitem nicht alle Menschen mit, die täglich Care leisten, ebenso, wie sie diverse Familiengefüge ausblendet, in denen kreuz und quer Sorgearbeit stattfindet. “Care” scheint für viele weiterhin synonymisch mit “Elternschaft”. In postmigrantischen Familien beispielsweise, wird Care jedoch nicht vorwiegend linear “abwärts” von Eltern zu Kindern, sondern ebenso “aufwärts” von Kindern zu Eltern, Großeltern und “horizontal” zu Geschwistern geleistet. Das liegt zum einen daran, dass in vielen (post-)migrantischen Familien weniger die Konzepte einer reduzierten Kernfamilie gelebt werden (können), aufgrund von fehlendem Wohnraum und den ökonomischen Hürden von externen Pflegeeinrichtungen. Es liegt aber auch daran, dass Kinder für ihre Eltern oft die sprachlichen und organisatorischen Sparings-Partner:innen bleiben, wenn es um Behördengänge, Arztbesuche oder andere Termine geht, bei denen Sprachbarrieren und Bürokratiemauern überwunden werden müssen. 

Das soll nun nicht heißen, dass die Texte, die sich der besonderen Aufgabe der schreibenden Mutter widmen, heute weniger relevant seien, nur, dass unter Umständen die postmigrantische alleinlebende Autorin ohne Kinder, die für ihre Familie verantwortlich ist, Pflege betreibt oder ihre Arbeitszeit in Wartezimmern verpasst, weniger zum Schreiben kommt als die nichtmigrantische Mutter, deren Schreiben und Sorgearbeit in einer Partnerschaft stattfindet, durch die ein familiäres Grundeinkommen bereits gesichert ist.

Olsen hat bereits darauf hingewiesen, dass Diskurse um Mutterschaft nicht ohne Fragen der Klassenzugehörigkeit diskutiert werden können. So bleibt sie in ihrer Untersuchung nicht bei der bloßen Erkenntnis stehen, dass die herausragenden Werke des 20. Jahrhunderts vor allem von kinderlosen Frauen stammen Gertrude Stein, Edith Wharton, Virginia Woolf, sondern verwies zudem darauf, dass diejenigen Frauen, die trotz Mutterschaft literarische Erfolge feierten, schnell zu zählen seien und vor allem: beinahe alle Bedienstete hatten. Konsequenterweise müssen Care-Arbeits-Diskurse heute (wo wir schon beginnen darüber zu sprechen, dass die Abgabe von Care an ökonomisch schlechter gestellte Frauen, keinen inklusiven Feminismus voranbringt, sondern eine “Girl-Boss” Strategie verfolgt) deshalb auch diejenigen mitdenken, die sowohl Brotjobs als auch eigene Care jonglieren müssen und nicht nur immer wieder von den prekären Arbeitsbedingungen im Literaturbetrieb zum Schweigen gebracht werden, sondern “im Vorfeld” schweigen. Über diejenigen, die nicht einmal vom Schreiben träumen können, da ihr Alltag von der Aufrechterhaltung der Grundsicherungen bestimmt wird und/oder von der Übernahme der Care besser gestellter Schreibender. 

Es fehlt eine differenzierte Verwendung des Begriffs “Brotjob”

Auch, dass das Schreiben oft von einem Brotjob begleitet wird, findet langsam aber sicher einen Platz in öffentlichen Debatten, um die Funktionsweisen des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Sammelbände, wie Brotjobs & Literatur, Monographien wie Caroline Amlingers Schreiben, aber auch Einzelbeiträge in Zeitschriften, wie Johannes Franzens Beitrag zur Merkur Ausgabe im Februar ‘22 mit dem Titel Das liebe Geld, Literatur und Autonomie-Ideologie diskutieren, zeigen, wie verwoben und vor allem abhängig die Arbeit Schreibender mit anderen Erwerbstätigkeiten ist. Sei es zusätzlich auf Lesungen fahren müssen, Unterricht in kreativem Schreiben zu geben oder aber einer mit dem Schreiben gänzlich unverwandter Tätigkeit nachgehen, um die Lebenshaltungskosten zu decken, während Vorschüsse zu gering ausfallen oder Artikel-Aufträge ausbleiben. 

Diese Veröffentlichungen und die zu ihnen parallel geführten Debatten in den sozialen Medien leisten ihren Beitrag dazu, das romantische Bild aufzubrechen, eine Person könne heutzutage einzig und alleine vom Schreiben leben. 

Leider laufen diese Debatten zuweilen auf Abwegen, wenn so manche:r etablierte:r Autor:in auch dann von “Brotjobs” spricht, wenn die gemeinten Nebentätigkeiten überhaupt nicht mehr dazu sind, lediglich das Brot leistbar zu machen. Jobs etwa, die eine Verwandtschaft zum Schreiben haben, sei es das Übersetzen, das Lektorieren oder das Redigieren, sind zwar Tätigkeiten, die nicht im engsten Sinne das eigene Schreiben am Text betreffen, aber sehr wohl Arbeiten an der eigenen Rolle innerhalb des Literaturbetriebs sowie an den eigenen Fähigkeiten darstellen. Diese Nebenerwerbe stehen deshalb, selbst wenn sie das ökonomische Kapital aufbessern, nicht “neben” dem Schreiben, wie es etwa der Job hinter der Theke tut und sind so ein klarer Vorteil für Schreibende, wo der Erfolg im Literaturbetrieb, wie Olsen schreibt, in hohem Maße vom kameradschaftlichem Umgang, vom “Klima innerhalb literarischer Kreise” abhängt. Diese Tätigkeiten, die das Klima für einige Teilnehmer:innen am Literaturbetrieb verbessern, mit den branchenfernen Arbeiten unter dem Begriff Brotjob diskursiv in einen Topf zu werfen, verschleiert die Ressourcen, die es braucht um diese Jobs in der Branche zu bekommen – ebenso wie die Ressourcen, die die Ausübung dieser Tätigkeiten wiederum schafft. Vielleicht könnten wir anfangen, bei solchen Nebentätigkeiten von Kuchenjobs zu sprechen. 

Meine Lohnarbeit ist nicht wirklich verwandt mit dem Schreiben, auch wenn ich dort ab und an etwas auf-schreiben soll. Unter anderem deshalb, weil die Vergabe all dieser Jobs, die es wären, immer noch in hohem Maße an Praktika-Erfahrung geknüpft sind – also an unbezahlt abgegoltene Monate, die ich mir während des Studiums schlicht nicht leisten konnte – und an die Kontakte, die währenddessen entstehen. Also arbeite ich neben dem Schreiben etwas, für das es keine Rolle spielt, ob ich Kommunikationswissenschaften studiert hätte, oder, wie es tatsächlich ist, einen Masterabschluss in Literaturwissenschaft habe – solange bis die dort erworbenen Fähigkeiten hoffentlich irgendwann die fehlenden Praktika aufwiegen werden und ich sie mit in den Literaturbetrieb nehmen kann. 

 Es fehlt ein transparenter und antiklassistischer Umgang mit den Produktionsbedingungen von Texten sowie der Besetzung literaturbetrieblicher Stellen

Womit ich mein Geld verdiene, war lange kein Gesprächsthema, wenn ich mit anderen Schreibenden ins Gespräch kam. Schon alleine deshalb, weil ich viele Jahre dachte, es ginge nur mir so. Denn, ungeachtet dessen, dass die Rede von Brotjobs größer wurde, gewisse Jobs haben in Kreisen bürgerlicher Autor:innen und Journalist:innen weiterhin einen schlechten Ruf, insbesondere diejenigen, die ihre Marktzugehörigkeit schlechter verschleiern als der Literaturbetrieb.

Online-Marketing ist ganz sicher einer dieser Jobs. Denn irgendwie hält sich, trotz all der Beiträge in den vergangenen Jahren, die auf das Gegenteil verweisen, nach wie vor der Gedanke, dass das Schreiben eine Tätigkeit sei, die unabhängig von den Imperativen der Verwertbarkeit funktionieren sollte, fern vom schmutzigem Kapitalismus und denjenigen, die dir “nur” etwas verkaufen wollen – Kunst der Kunst wegen. Welch kapitalistischen Maschinen Literaturverlage und große Tageszeitungen sind, scheint sich leichter ignorieren zu lassen als eine Anzeige, die ich für meinen Arbeitgeber in den sozialen Medien schalte. Und selbstverständlich gibt es hinter dieser bewussten Ignoranz Menschen, die von ihr profitieren. Denn die Aufrechterhaltung dieses Mythos zur “Berufung”, die man nur aufgrund von ideellen Ansprüchen ausübt, vereinfacht die Rechtfertigung schlechter Gagen im Journalismus oder Verlagswesen –  schließlich mache man das ja gerne und nicht fürs Geld. 

Bevor Olsen an einem Spätsommertag in einem zu hellen Wartezimmer auf meinem Schoß lag, in der Hoffnung ich würde an diesem Tag endlich mehr als zehn Seiten am Stück lesen, hatte ich das Rezensionsexemplar schon dabei, als ich mich für den Sommerurlaub nach Kroatien aufmachte. Die Urlaubspläne, in meinem Fall Was fehlt fertig lesen und eine Bewerbung für ein Schreibseminar fertig stellen, wichen auch dort schon der körperlichen wie emotionalen Care, die mit einem Besuch in der zweiten Heimat immer einhergeht. Erst in späten Abendstunden habe ich versucht, die losen Fragmente, die ich bisher für dieses größere Schreibprojekt sammeln konnte, in ein Exposé für einen Roman zu pressen. Die Romanform war die Voraussetzung für die Teilnahme an besagtem Schreibseminar. 

Auch das Zögern, das ich empfinde, zu dem zu stehen, was dieses “Schreibprojekt” einmal werden soll (dieses allumfassende Schaudern bei dem Begriff “Buch”) hat etwas mit dem verstummen verschiedener (potenzieller) literarischer Stimmen im Laufe der Zeit zu tun. Denn um es überhaupt zu versuchen mit dem eigenen Schreiben, braucht es ein gewisses Gefühl von entitlement, also das Gefühl, dass die eigene Stimme es wert ist gehört zu werden.  “Wie viel doch nötig ist. Um zu schreiben […] wie viel Überzeugung von der Wichtigkeit des eigenen Wortes, des eigenen Rechts, es auszusprechen. [Schwer genug für jeden Mann, der nicht in eine Klasse hineingeboren wurde, die solches Selbstbewusstsein züchtet. Fast unmöglich für ein Mädchen, eine Frau.”, schreibt Olsen. Mein Schreibprojekt ist kein Roman, ich weiß, dass es nie einer sein wird. Ich tue dennoch so, weil ich 28 bin. Was mein Alter damit zu tun hat? Wer als Autor:in ein Stipendium ergattern will, fällt unter 30 in das Raster der Jungautor:innen, an das eine Vielzahl von Fördermöglichkeiten gebunden sind. Idealerweise verlegt man also vor 30 seinen ersten größeren Text bei einem Publikumsverlag, um sich jenseits der 30 auf Töpfe für bereits verlegte Autor:innen zu bewerben. 

Es fehlt eine inklusive Förderkultur. 

Bereits seit einiger Zeit wird zu diesen teils sehr eingeschränkten und in diesem Fall sogar adultistischen (diskriminierend aufgrund des Alters) Förderkriterien Kritik laut, wie im April 2022, als die Ausschreibung für den Wortmeldungen-Förderpreis der Crespo Foundation auf Instagram und Twitter für Aufsehen sorgte. Auch hier sollten ausschließlich Autor:innen unter 30 gefördert werden. Veränderung passiert jedoch trotz der Kritik nur langsam. Alleine deshalb, weil die Situation so prekär ist, dass es Schreibenden gar nicht möglich ist, sich bei bestimmten Förderern, deren Werte sich nicht mit den eigenen decken, nicht zu bewerben. Es ist die “Verzweiflung, die in dem sonderbaren System des bloßen Existenzminimums, das wir uns für unsere Kunstschaffenden ausgedacht haben, jene Berge von Bewerbungen um Stipendien der Stiftung […] erklärt”, schreibt auch Olsen. 

Als ich die Bewerbung für das besagte Schreibseminar abschickte, wusste ich bereits, dass ich meinen Text zu etwas zurechtgeschnitten hatte, das er nicht war. Denn das lineare Schreiben passt weder zu dem Thema meines Schreibprojekts, in dem es primär um die Unzuverlässigkeit von Familienerinnerungen geht, noch zu meinem Alltag. Wie lange müsste man am Stück am Schreibtisch sitzen, um etwas Zustande zu bringen, in dem am Ende mehr als zehn Seiten kohärent zusammen gehören sollen? Vielleicht gibt es auch Textformen, die sich mit der Care-Arbeit und dem eigenen ökonomischen Stand schlechter vereinbaren lassen, als andere. Vielleicht braucht man für manche Textformen mehr Zeit und “Fülle des Ichs”, das ganz bei sich und dem eigenen Schreiben sein? Wie die Autorin Julia Wolf in ihrem Vorwort zu Was fehlt, frage ich mich auch: “welche anderen literarischen Formen entsprechen meinen Lebensumständen vielleicht besser als der viel beschworene “große Wurf” des Romans?”.

Dass ich nach meiner Rückkehr aus Kroatien eine Absage für das genannte Schreibseminar im Briefkasten hatte, überraschte mich nicht weiter, schließlich war es nicht mehr mein Text, den ich da in meiner „Förder-Panik“ einreichte. Aber über die Schreib-Form(en), die einem unterbrochenen Alltag möglicherweise gerechter werden als der Roman, über die dachte ich noch lange nach. 

Noch vor dem Sommer war ein Text von mir und einer lieben Co-Autorin erschienen, der ein schriftlicher Dialog über unsere soziale Herkunft ist. Wochenlang haben wir uns in einem Google-Doc mal lange Briefe, mal fragmentarische Notizen hinterlassen, bis wir 90 Seiten über Klassendiskriminierung, Antislawismus und Bildungsaufstieg gefüllt hatten. Es hätte bei diesen emotionalen und großen Themen ein beschwerliches Schreiben sein können, und war doch eines der leichtesten – auch, weil es nicht nur aus mir selbst heraus produziert werden musste. Wenn ich nach Tagen ohne zu schreiben in das Doc zurückkehrte, war da immer etwas, das wartete: ein Impuls, eine Frage, ein Widerspruch, etwas, das mir half anzuknüpfen, schneller aus einem unterbrochenen Alltag zurück ins Schreiben zu finden, als die gähnende Stille im alleinigen Schreiben. Das gemeinsame Schreiben half uns “das Genie [in uns zu] töten”, ein Akt, den Julia Wolf als obligatorisch sieht, wenn Care-Arbeitende unter jetzigen Bedingungen des Literaturbetriebs schreiben wollen. Nach diesem dialogischen und impulsiven Schreiben wieder alleine an etwas zu arbeiten, wie eine simple Rezension, fühlte sich an wie durch ein schunkelndes Fahrwasser zu navigieren, der mein Alltag ist – in dem es nicht leistbar ist, als “Insel” zu schreiben. Ein Alltag, in den ein lineares Schreiben, langes Schreiben, tiefes Schreiben einfach nicht hineinpasst. 

Mittlerweile war es Herbst und ich hätte immer noch einige Wochen gehabt, um die Rezension pünktlich zum Erscheinungsdatum der deutschen Erstübersetzung von Olsens Silences zu schaffen. 

Doch zwischen den weiter folgenden Arztterminen, Gips-Wechseln, Nachsorge und dem panischen Nacharbeiten der immer weiter steigenden Minusstunden auf meinem Arbeitszeitkonto im Herbst ‘22 werden zwei wichtige literarische Preise vergeben und ich ärgere mich mehr über Geschriebenes als dass ich selbst schreibe. Zuerst geht der Literaturnobelpreis an die französische Autorin Annie Ernaux. Man freut sich in einem Teil der Inklusion fordernden Literatur-Blase: eine Frau, die über gesellschaftliche Tabus wie Schwangerschaftsabbrüche schrieb, ein Arbeiterinnenkind dazu, hat nicht nur eine Stimme, sondern internationale Anerkennung gewonnen. Man freut sich aber nur solange, bis man sieht, was Teile des konservativen Feuilletons zu ihr zu sagen haben. Es scheint mehr über ihre Statur und ihre Wirkung als Frau zu lesen zu sein, als über ihre Texte. Da war ich kurz der Illusion verfallen, Nicole Seiferts Frauenliteratur hätten nun auch alle Kritiker:innen gelesen und so etwas sexistisches und vor allem werkfernes traue sich niemand mehr. Hoffnungslos naiv zu glauben, alle hätten die wichtigen Thesen eines Buchs verinnerlicht, das 2020 Jahr erschienen ist – wo doch Tillie Olsen bereits in den 70ern schrieb: “Selbstzweifel; all jene Stunden, in denen die eigene Ernsthaftigkeitt hinterfragt, sich über das eigene Aussehen verrückt gemacht, die Konzentration in Fetzen gerissen wird, bis nichts bleibt […], da nur das für schätzungswert gilt (und ist), was auf Männer attraktiv wirkt.” Wenn man nun Denis Scheck liest, der Annie Ernaux als erotische und zugleich fragile Pippi Langstrumpf beschreibt, scheinen Texte wie Norman Mailers misogyne Reklame für mich selber kaum ein paar Tage alt zu sein. Immer noch geschieht also, was auch Olsen beobachtete: “die abschätzige Reaktion auf ein Buch nicht aufgrund seiner Qualität oder seines Inhalts, sondern aufgrund der bloßen Tatsache, dass es von einer Frau verfasst wurde”.

Alles, was Olsen über Frauen schreibt, müsste man heute für alle marginalisierten Gruppen schreiben. 

Denn kurz nach dem Gewinn für Annie Ernaux gewinnt Kim del Horizon mit Blutbuch den deutschen Buchpreis. Ein Text über eine nicht-binäre Erzählfigur, die ihr familiäres Trauma zum Thema macht, von einer nicht-binären schreibenden Person. Es ist ein historischer Gewinn mit einer eindrücklichen, medienwirksamen Performance bei der Verleihung, die Kim mit einer Rasur der eigenen Haare und einer politisch engagierten Dankesrede den protestierenden, inhaftierten und ermordeten Demonstrierenden im Iran widmet. Auf Social Media lassen die Vorwürfe nicht lange auf sich warten. Schnell wird infrage gestellt, ob das Buch denn auch “gut” sei, oder schlicht aufgrund seiner politischen Aktualität gewonnen hätte – oder schlimmer noch: weil sich das Gremium lediglich möglichst divers präsentieren will. Und auch Besprechungen verschiedener Feuilletons beleben daraufhin die alte Debatte von “Qualität vs. Identitätskultur” wieder. Ich erinnere mich an Miryam Schellbach, die bereits früher im Jahr zur Verleihung des Bachmann-Preises, gegen diese ewige Diskussion schlicht festhielt, dass im Grunde jede Literatur immer Identitäten verhandele und es sich deshalb hierbei um einen konstruierten Scheinwiderspruch handelt, der gerne von all denjenigen politisch instrumentalisiert wird, die in der Literatur gerne alles beim alten belassen wollen. 

Die Frage von “was fehlt”, heißt im Umkehrschluss vielleicht auch: was ist zu viel? 

Beiträge, die diesen Scheinwiderspruch künstlich am Leben halten, sind – im Vergleich zu sogenannten “identitätspolitischen Texten”, die vermeintlich den Buchmarkt dominieren, in jedem Fall zu viel. Vielleicht kommt das von Florian Kessler im Oktober 2022 herausgegebene Hanser Akzente Heft zur Frage “Was ist gute Literatur” genau zum richtigen Zeitpunkt – nicht weil sich nicht auch hier unter den vielzähligen Autor:innen, die in dem Band auf Kesslers Frage antworten, akademisierte und zum Teil sicher auch limitierende Antworten gegeben werden, sondern aufgrund der Diversität der Antworten, die in ihrer Fülle wieder einmal das literaturkritische Kriterium “Qualität” als ein durch und durch prekäres Instrument zur Kunstkritik entlarven. Olsen fand diesen Gegensatz “Identität” vs. „Qualität“ ebenfalls zu unterkomplex und zitiert in ihrem Essayband Virginia Woolfs Vorwort zu So haben wir gelebt: Englische Arbeiterinnen erzählen, die darin schreibt: “Ob das Literatur ist oder nicht, maße ich mir nicht an zu entscheiden, aber dass es viel erklärt und viel enthüllt, ist gewiss.”

Worauf Olsen schlicht hinzugefügt: “Literarische Größe […] steckt auch in dem, was viel erklärt und viel enthüllt (was zugleich der Nährboden für große Literatur ist).” Und auch einen weiteren relevanten Punkt setzt Olsen bereits vor 50 Jahren der Ecke des Feuilletons entgegen, in der regelmäßig behauptet wird, es sei nun auch einmal gut mit der “Migrationsliteratur” und den anderen Marginalisierten-Geschichten, da Inklusion doch ohnehin langsam erreicht sei, nämlich der Hinweis auf ein weiteres Schweigen in der Literaturgeschichte: “dem Schweigen nach dem ersten Buch”. 

Inwiefern wir uns also mit Ehrung, wie der von Kim, wirklich auf einem Weg zu mehr Inklusion befinden, bleibt in den kommenden Jahren abzuwarten. Bis dahin bleibt klar, dass, solange Rezensierende und Redakteur:innen, wie zuletzt Joachim Scholl vom Deutschlandfunk Kultur im Gespräch mit dem Verleger Jo Lendle, bei einem Autorin:Autor-Verhältnis in den Frühjahrsvorschauen 2023 des Hanser Verlags bei 8:14 den Eindruck haben, das seien ja “fast 50%” bleibt Olsens Text hochaktuell, denn: “selbst ein Verhältnis von eins zu sechs oder eins zu fünf würde nicht Grundlegendes ändern. Jedes Verhältnis außer eins zu eins fordert die Frage hinaus: Warum?”. Wenn wir nun Abstand davon nehmen, das Teilhabe-Problem lediglich als gender-binäres zu begreifen, muss die Feststellung heute jedoch leicht abgewandelt werden: 

Jedes Verhältnis außer jenes, das unsere diverse Gesellschaft prozentual abbildet, fordert die Frage hinaus: Warum?

Ich habe Was fehlt nach dem vierten Arztbesuch mit meiner Großmutter beinahe fertig gelesen, meine Minusstunden im Job traue ich schon gar nicht mehr ansehen, aber geschrieben habe ich meine Rezension immer noch nicht. Dafür füllt sich nebenher die Notizen-App in meinem Handy mit weiteren Themen und Artikel-Drafts, die ich umsetzen könnte, wenn ich den Olsen Text irgendwann fertig geschrieben habe. Zwischendurch überlege ich, ob ich einfach eine Kolumne mit dem Titel “5 Texte, die ich diesen Monat fast geschrieben hätte” starten soll, einfach um irgendetwas mit diesen hoffnungslos optimistischen Ideen zu tun, die ich auf-schreibe, wenn ich nicht schreibe. 


[Fertiggestellt wurde der Text nun letztlich nur aufgrund „gewonnener“ Zeit durch eine Erkrankung und eine damit verbundene “Arbeitsunfähigkeitsbescheinung”. Oh the irony]

Foto von Christin Hume auf Unsplash

Weiße Blicke brechen – Die „Arielle-Debatte“ und Potenziale des conscious casting

von Katharina Walser

Es ist der 11.09.22, ein Teaser erscheint auf YouTube, Twitter und Instagram User*innen vergessen für einen Moment den Tod der Queen of England, denn scheinbar gibt es einen neuen Skandal: In Disneys Live-Action Arielle, der 2023 erscheinen soll, wird die kleine Meerjungfrau von Halle Bailey gespielt, einer Schwarzen Sängerin. 

Unter dem Hashtag #notmyariel führen aufgebrachte Personen daraufhin im Internet einen erbitterten Kampf gegen die angebliche Zerstörung ihrer heißgeliebten Kindheitserinnerungen, bzw. gegen die Bedrohung ihrer weißen Bubble. Diese Empörung ist alles andere als neu, man kennt sie aus den Reaktionen auf die ersten beiden Staffeln von Bridgerton oder auf die Veröffentlichung von Netflix’ Persuasion. Auch im Moment ist Halle Bailey als Arielle nicht das einzige Ziel eines rassistischen Feldzugs, der in den Sozialen Medien gegen das Casting von Schwarzen Personen in Remakes und Prequels zuvor ausschließlich weißer Filme und Serien geführt wird. Nicht nur unter dem Meer oder in der britischen Aristokratie des 19. Jahrhunderts, sondern auch in Mittelerde und Westeros, den Fantasywelten von Tolkien und George R.R. Martin, wollen diese Personen keine BIPoCs sehen. Folglich versuchen sie, die rassistische Willkür ihrer Ansichten mit biologistischen Argumenten zu legitimieren.

TikToker*innen und Youtuber*innen, vor allem weiße Männer, erklären ihren Zuschauer*innen aufgebracht, Arielle könne gar nicht Schwarz sein, weil sich eine solche Pigmentierung unter Wasser so gar nicht entwickeln könne. Oder sie beharren versessen auf Arielles vermeintlich dänischer Nationalität, als gäbe es keine Schwarzen Däninnen. Dabei wird zudem ignoriert, dass Die kleine Meerjungfrau (Disney 1989) zwar auf der Märchen-Version des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen beruht, dieser aber in seinem Text weder das Unterwasser-Königreich national verortet, noch der “Erfinder” der Figur Arielle ist. Seine kleine Meerjungfrau ist lediglich ein Kondensat von Fragmenten verschiedener jahrhundertealter Sagen um mystische Wasserwesen, deren Varianten bereits in frühen assyrischen Legenden und in der griechischen Mythologie auftauchen. 

Kurz: Die Verfechter*innen eines erzählerischen Realismus verstehen das Konzept einer Adaption nicht, bzw. wollen es nicht verstehen. Schon Disneys erste – weiße – Arielle mit ihrem heteronormativen Happy End hatte wenig mit Andersens schauriger Erzählung zutun, in der die kleine Meerjungfrau bei jedem Schritt an Land das Gefühl durchleben muss, als würde sie auf tausend Messern wandeln, während sie darauf wartet, dass sie die Liebe eines Mannes von ihren Schmerzen befreit. Dieser verliebt sich jedoch in die Prinzessin des Nachbarlandes, woraufhin sich die kleine Meerjungfrau in Meeresschaum auflöst und ihr Dasein fortan als Meeresgeist fristen muss. Disney hat sich also schon immer bestenfalls Inspiration bei klassischen Märchen-Texten gesucht und diese in eine heile (meist weiße) Normwelt nach US-amerikanischen Standards eingebettet und vor allem kindgerecht angepasst – andernfalls hätte auch Tangled, Disneys Version des Grimmschen Rapunzels, eine Altersfreigabe ab 16 erhalten müssen.

So amüsant manche Tweets sind, in denen die Verfechter*innen dieser biologistischen und nationalistischen Beiträge, die auf einer weißen Arielle beharren, darauf hingewiesen werden, wie absurd es ist, Realismus ausgerechnet in einer Geschichte zu suchen, in der neben einer Meerjungfrau auch sprechende Meerestiere und eine Hexe auftreten, müsste man soweit überhaupt nicht gehen. Denn wer auch nur ein wenig Ahnung von fiktionalen Erzählungen hat, sollte erkennen, dass Arielle keine Dokumentation und auch kein Biopic einer historischen Person ist. Die Verweigerung das anzuerkennen zeigt, dass es in diesen Realismusdebatten eben nicht um die Wahrung eines ursprünglichen Stoffes geht – weshalb die Teilnehmenden vermutlich auch immun gegen solche Hinweise zur fiktionalen Adaption sind – was schon klar wird, wenn man sich vor Augen führt, dass es niemanden auch nur ein Müh interessiert hat, als die britischen Schauspielerinnen Lily James und Emma Watson, Cinderella und Belle auf der Leinwand zum Leben erweckten – zwei Figuren, die in Frankreich groß geworden sind.  Die Untertöne verzweifelter Bemühungen der #notmyariel Fraktion für eine Aufrechterhaltung eines ausgekochten Diskurses sind so letztlich nichts als rassistische Stammtisch-Parolen. Ihre Beiträge sind daher auch keine Kritik, sondern Hetze. 

Dabei könnte man die Casting-Entscheidung für Bailey durchaus nutzen, angebrachte Kritik zu üben. Zum Beispiel an der problematischen Erzählung von Disneys Arielle an sich, die von Dickfeindlichkeit bis Antifeminismus (Frau verkauft ihre Stimme (!) für einen Unbekannten) einiges auf den Plan ruft, was man überarbeiten sollte. 

Man könnte auch über die unzähligen Figuren der Filmgeschichte sprechen, die von weißen Schauspieler*innen verkörpert wurden, obwohl es sich ganz offensichtlich nicht um weiße Figuren handelt. Denken wir an Holly Golightlys Vermieter aus Breakfast at Tiffany’s “Mr. Yunioshi”, gespielt von Mickey Rooney, oder an neue Produktionen wie Ghost in the Shell, die “Major Motoko Kusanagi” von Scarlett Johansson spielen lässt. Schlimmer noch: auch nicht fiktive Charaktere wurden in der Filmgeschichte immer wieder whitewashed und/oder blackfaced – Elizabeth Taylor als Cleopatra, Rooney Mara als Maria Magdalena, oder Jake Gyllenhaal als Prince of Persia. Ein solches Gespräch dürfte auch nicht beim Film verstummen, sondern im Zusammenhang des Aufruhrs um Arielle auch Fehlinterpretationen von Held*innenfiguren mit größerer Tragweite in den Blick nehmen. Einige Diskurs-Teilnehmende fachen deshalb im Moment zurecht die Diskussion um weiß-gewaschene Heiligen-Bilder des Christentums neu an. Die Autorin Chelsea Sims bringt es in einem Tweet auf den Punkt, wenn sie schreibt: „“Ariel wasn’t Black” and Jesus wasn’t white. Cope”. 

Man könnte auch die Diskussion darauf lenken, dass Halle Bailey vor allem aufgrund ihrer fantastischen Singstimme dazu qualifiziert ist, Arielle zu spielen, doch all diese Themen finden keinen Platz, wo statt ausgewogener Debatte, weiße Abwehrgesten den Raum dominieren. 

Vielleicht weniger offen rassistisch als die Parolen der Bailey Gegner:innen, aber immer noch problematisch und bezeichnend für die Tiefe des Alltagsrassismus, der sich in diesen weißen Abwehrgesten gegen eine Schwarze Arielle offenbart, sind die Aussagen einiger weißer Diskurs-Teilnehmenden, die mit dem bloßen Argument: „ist doch egal was Arielle für eine Hautfarbe hat” für Deeskalation sorgen wollen. Dr. Natasha A Kelly, unter anderem Afrofuturistin und promovierte Soziologin, verweist auf Instagram darauf, dass diese Aussagen im Sinne eines anything goes nichts anderes sind als die „altbewährte Farbignoranz der weißen Welt”, welche die Tatsache herunterspielt, dass es für viele marginalisierte Gruppen durchaus einen Unterschied macht, wer Raum – und nebenbei viel Geld – einnimmt. So ist auch die Debatte rund um die Möglichkeiten eines “color-blind” Castings, abgesehen davon, dass der Begriff ableistisch ist, keinen Schritt weiter als diejenigen, die auch im Alltag gerne von sich behaupten, Hautfarben gar nicht wahrzunehmen. 

Interessanter – und auch fruchtbarer für eine zukünftige Debatte – als der Begriff und der unhaltbare Anspruch eines “color-blind” Castings könnte eine produktive Umdeutung des “color-conscious” Castings sein, als bewusst gesetzte politische Kontrapunkte durch die Besetzung. “Conscious” Casting ist die Praxis, in der die Besetzung unter Berücksichtigung der Hautfarbe, der Körperform und anderer Merkmale der Schauspielenden entschieden wird. Wenn diese Praxis rassismuskritisch betrieben wird, macht sie es möglich, (mehrfach) marginalisierten Personen bewusst dort eine Plattform zu geben, wo sie im Sinne eines weißen Blicks nicht erwartet werden. Eine Praxis, die sehr viel mehr Inklusion einlösen kann, als es der Anspruch des “blind castings” kann. Denn “blindes” oder “unvoreingenommenes” Casting ist ein Bemühen, das innerhalb eines rassistischen Systems scheitern muss, weil es die “color blindness” an sich eben nicht gibt und die Berufung auf eine solche lediglich den Unwillen zeigt, sich mit den eigenen internalisierten Rassismen auseinanderzusetzen. Innerhalb eines verantwortlichen “color-conscious” Castings wird nicht an leeren Versprechen von Unvoreingenommenheit festgehalten oder gar behauptet, dass race innerhalb von fiktionalen Stoffen keine Rolle spielen solle, sondern sinnvolle Rekontextualisierung möglich – das Ändern von Sehgewohnheiten durch bewusste Brüche. 

Was ein solch bewusst gesetzter Kontrapunkt leisten kann, davon zeugt auch eine ganz andere Art Videos neben den Kritiken, die auf TikTok, Instagram und YouTube in den Tagen nach dem Teaser-Release das Internet füllen. Kinder, vor allem BIPoC Mädchen, die mit freudigen Gesichtern und mit ebenso freudiger Überraschung auf diese neue Arielle reagieren. „Mum, she is a black girl”, „Look, she looks like me”,  rufen sie in Video-Kompilationen, die unter anderem auf dem Instagram Kanal des Rosa Mag, einem Online-Lifestylemagazin für Schwarze FLINTA*, zu sehen sind. Die Videoausschnitte zeigen, was ihr Hashtag fixiert: #represantationmatters. Und: dass die #notmyariel Verfechter:innen im Grunde mit einer Sache recht haben: Diese Figur ist nicht für sie, denn sie haben bereits genug weiße Held:innen – Held:innen, die so aussehen wie sie. Es ist Zeit für andere Geschichten, die anderen gehören und die Selbstverständlichkeit, mit der etablierte Held:innen immer weiß bleiben müssen, gehört nicht mehr in diese Zeit. Man kann also sogar sagen, dass unabhängig davon, dass es wohl einige Gründe geben kann, die Geschichte von Arielle an sich kritisch zu diskutieren, eine Schwarze Arielle wirklich das einzige ist, was an diesem Film mit Gewissheit zeitgemäß und gut sein wird. 

Photo von Nsey Benajah auf Unsplash

Die Morgenroutine der Alphamenschen – Wie Influencer*innen Genie-Mythen aufleben lassen

von Katharina Walser

Ein kleines ruhiges Zimmer, spärlich eingerichtet, ein Schreibtisch oder eine Leinwand, Tinte und Feder oder Pinsel und Palette, ein Mann in seiner kreativen Versenkung und meist ein kleines Fenster zu der Welt, in der er sich im Angesicht der erhabenen Natur seine Inspiration sucht. Denkt man an das kreative Genie, tauchen unweigerlich diese Bilder der Stille und der künstlerischen Isolation auf, die wir mit den über-kanonischen malerischen Darstellungen von Goethe, Caspar David Friedrich oder Beethoven verbinden, die Künstler wie Otto Rasch, Georg Friedrich Kerstings oder Wilhelm Faßbender als Zeugnis der großen Künstler ihrer Zeit hinterließen.

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Solidarität auf Eis – Ein Kommentar zu Phrasen der Pandemiebekämpfung

von Katharina Walser

Anfang Dezember letzten Jahres erntete Olaf Scholz Jubelrufe, Schlagzeilen und Bewunderung dafür, wie er zur Primetime bei einem großen Fernsehsender über die Corona-Pandemie sprach. Tags darauf hieß es unter anderem, er habe einen “kühlen Kopf”(handelsblatt) behalten; um eine „beispiellose Pandemieansprache”(focus) habe es sich gehandelt und der neue Bundeskanzler nehme nun „den Kampf gegen die Pandemie auf”(Spiegel).

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Pixel machen Leute? Überlegungen zu den Potenzialen und Grenzen digitaler Mode

von Katharina Walser

Im Sinne seiner sprachlichen Wurzeln im lateinischen Wort modus, bezeichnet auch der heutige Modebegriff die “Art und Weise”, in der ein Zeitgeist oder eine Lebensweise in der Kultur zum Ausdruck kommt. Er bezieht sich auch auf die Bereiche der Kunst, der Literatur und der Sprache. Häufiger wird er im Alltag jedoch mit dem Auftreten im gesellschaftlichen Raum gleichgesetzt – er meint also zumeist die Formen unserer Garderobe, unserer Kleidung. Die Art und Weise wie diese Garderobe in Erscheinung tritt, drückt inzwischen einen fundamentalen Wandel aus. Ein Wandel, den unsere Lebenswirklichkeit und ihre Ausdrucksformen bereits seit geraumer Zeit aufgrund ihrer zunehmenden Digitalisierung durchlaufen und der in den vergangenen Jahren immer wieder in der Kunst und Literatur in Erscheinung getreten ist. Im Falle unserer Kleidung offenbart er sich nun im Phänomen der “digital Fashion”. 

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“Sich den Alltag abschminken” – Ein feministisches Kollektiv zwischen Sorgearbeit und Autor:innenschaft

von Katharina Walser

Am Anfang steht eine Gruppe von Müttern, die schreiben. Sie beschließen über das Schreiben zu schreiben. Über die Vorurteile, die Hindernisse, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Vereinbarkeit von Pflege und Kunstschaffen. Es entsteht ein Austausch, es entstehen gemeinsame Textstücke, es folgt im Frühjahr 2021 eine Veröffentlichung im Edit Magazin unter dem Titel Fragment I, der erste Kollektivtext der Gründer:innen von Writing with CARE/RAGE. Die Gründer:innen, das sind die Autor:innen Lene Albrecht, Daniela Dröscher, Berit Glanz, Verena Güntner, Sandra Gugić, Elisabeth R. Hager, Kathrin Jira, Svenja Leiber, Caca Savic, Julia Wolf und Maren Wurster. Sie schreiben in ihrem Fragment über das Muttersein und über das Sein als Autor:in. Es spannt sich ein Raum auf zwischen privaten Szenen und struktureller Kritik am misogynen Literaturbetrieb und an der staatlichen Anerkennung von Care-Arbeit. Vergangenes Wochenende findet dann die erste Konferenz statt. Es geht auch hier um „Schreiben und…“.

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Protest gegen quadratisch, praktisch, gut – Ein Gespräch über Mode mit Barbara Vinken

Ein Interview von Katharina Walser mit der Modetheoretikerin und Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken

Was hat Literaturwissenschaft mit Mode zu tun? Liest man die Texte der Romanistin Barbara Vinken, findet man einige Antworten auf diese Frage. In ihrem wohl bekanntesten Buch zur Mode, Angezogen, zeigt sie auf, wie wenig zufällig der Umgang mit Kleidern ist und wie stark er mit kulturellem und geschichtlichem Wandel verwoben ist. Aber auch Vinkens im engsten Sinne akademischen Werke lesen die Gesellschaft oder in diesem Fall die literarischen Figuren über ihre Kleider und zeigen so die Verwandtschaft von Text und Textil. 

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