Jahr: 2023

Über Türen in Hörspielen – wie Geräusche Räume erzählen

von Andrea Geißler

EIN TÜRSPALT

Studio 7 ist das Hörspielstudio beim Hessischen Rundfunk. Es ist über dem Sendesaal in der Mitte des Rundbaus gelegen und an den Redaktionstagen umlaufe ich es ständig in viertel, halben oder ganzen Kreisen. Denn die Redaktionsbüros sind im äußeren Ring des Gebäudes untergebracht, die Türen vom umlaufenden Ringflur nach innen führen alle zum Studio. Ins Studio dringt nicht nur kein Ton von draußen, sondern auch kein Lichtstrahl. Dafür sind Tageslichtlampen in der Beleuchtung verbaut.

Wenn ich ins Innerste des Hörspiel-Studios will, dorthin, wo die großen Mischpulte und die Aufnahmetechnik sind, muss ich jeweils vier, fünf Türen passieren, denn es befindet sich im runden Kern des Gebäudes und ist gesichert wie ein Tresorraum: Es gibt Sicherungstüren mit Spezialschloss, Schallschutztüren, Flügeltüren zum Klavierraum und ganz normale Türen zwischen Küche und Aufnahmeräumen. Diese “Küchentüren” gehören bereits zu den Kulissen, wobei alle Kulissen dort akustisch gedacht sind. Darum hat eine Treppe auch zweigeteilte Stufen: die linke Trittseite aus Holz, die rechte aus Metall, akustisch sind es folglich zwei Treppen.

Die Türen jedenfalls tun ihr Bestes, um jegliche Eindringlinge abzuhalten. Das liegt daran, dass die Zeit durchgetaktet ist, wenn ein Hörspiel aufgenommen und produziert wird, sagen Regie und die Techniker*innen. Aber ich weiß, dass das nicht alles ist: es gibt eine bestimmte Intimität, die diese kleine Gemeinschaft im Inneren des Studios miteinander teilt und in die niemand eindringen soll.

LUFT

„Dass man einen ganzen Haufen Zeit zusammendrücken kann wie ‘n bisschen Luft in der hohlen Hand…“ – so heißt es in Marie-Luise Kaschnitz‘ Hörspiel „Was sind denn sieben Jahre“ (1955) und das trifft ziemlich genau, wie sich Hörspiele anfühlen: Sie sind viel „Luft in der hohlen Hand“ im Vergleich zu einem Buch, das greifbar aus Papier besteht. Sie sind auch „Luft“ im Vergleich zu einem Theaterstück, das in seiner Materialisierung auf einer Bühne – in Kulissen und Kostümen und überhaupt Körpern – so substanziell ist.
Dagegen ist ein Hörspiel erst in der Luft – im Ohr – wenn ein Play-Button gedrückt wird. Ist es darum in Wahrheit der Musik näher als der Literatur? Vielleicht.

„Dass man einen ganzen Haufen Luft zusammendrücken kann“, das sagt Tony über die sieben Jahre, die vergangen sind, seit sie ihren Mann zuletzt gesehen hat. Jetzt erst kehrt er zurück, Jahre nachdem der Krieg vorbei ist. Wie wird es sein, ihn nun wiederzusehen? Tony bezieht die Betten frisch, sie geht zum Friseur und fragt ihre Schwester, ob sie sich erinnere, wie sie vor sieben Jahren ihre Haare trug. Tony hat einen Tag Zeit, um sich nach der Nachricht über die Rückkehr auf eben diese vorzubereiten und ihre Erinnerungen zurückzurufen. Im Hörspiel sind die Zeit-Ebenen ineinander geblendet: die Reflexionen Tonys über ihre gegenwärtige Situation, ihre Erinnerungen und alltägliche Gespräche mit den Menschen, denen sie an einem solchen Tag gewöhnlich begegnet. Die Dialoge sind darum das Unmittelbarste, das im Hören besonders nahekommt; die Gedanken und Erinnerungen liegen ferner.

Die Germanistin Sieglinde Klettenhammer beschäftigte sich ausführlich mit Kaschnitz‘ Hörspielen und stieß auf eine Bemerkung, die Kaschnitz im Band „Engelsbrücke“ übers Hörspiel-Schreiben machte: Die Schriftstellerin schätze „die Möglichkeit, die Kategorien des Ortes, der Zeit und der Handlung” außer Acht lassen zu können, „mit diesen Kategorien nach eigenem Belieben umspringen, herumspringen“ zu können, „vor- und rückwärts, durch ein ganzes Leben, durch die Geschichte, durch die Welt“. Gleichzeitig sei es ein Leichtes, dabei eine „Formkraft“, zu wahren, „die das Auseinanderfallen verhütet und die einzelnen Glieder in einer ganz bestimmten, musikalischen Beziehung zueinander erhält.“ 

Ein anderer Schriftsteller dieser Zeit, Friedrich Dürrenmatt, hatte auf seine Art eine leichte, spielerische Herangehensweise an das Schreiben eines Hörspiels: „Man atmet anders im Hörspiel“, erklärte er 1964 gegenüber Dramaturg Heinz Hostnig. Er fände gewissermaßen „Entspannung“ im Hörspiel, er sei dabei nicht so besorgt um das Theater und die Bühne, um das „Auftreten von Menschen“ wie beim Schreiben eines abendfüllenden Theaterstücks.

SCHALL

Die Geschichte des Hörspiels umfasst nunmehr fast 100 Jahre: Am 24. Oktober 1924 wurde im Frankfurter Sender (damals „Südwestrundfunk AG“) das Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“ live in den Äther gefunkt, gerade mal ein halbes Jahr, nachdem dort der Betrieb überhaupt erst aufgenommen worden war. Sendeleiter Hans Flesch schrieb die „Senderspielgroteske“ eigentlich als Störung des Sendebetriebs: Eine „Märchentante“ löst den abendlichen Spuk aus, denn sie möchte auch einmal um diese Zeit ein Märchen erzählen. Der Sendeleiter „Dr. Flesch“ versucht sie aufzuhalten, doch auf einmal geht es drunter und drüber: Das “Mütterchen” fängt an zu erzählen, Zahlen, Tanzmusik und sogar eine Trompete spielen durcheinander, bis es den Rundfunkleuten schließlich gelingt, den „akustischen Schabernack“ wieder in Ordnung zu bringen, wie es im Pressetext zur Neuproduktion des Hessischen Rundfunks von 1962 heißt. Denn Originalaufnahmen gibt es davon nicht, entsprechende Aufnahme- und Schnitttechniken wurden erst später entwickelt. Der experimentierfreudige Flesch allerdings hat das Hörspiel (und das Radio) in Deutschland nicht nur mit seiner „Zauberei“ geprägt, sondern auch mit seinem Verständnis, was dieses neue Medium sein könnte: Er holte die Literatur und die intellektuelle Szene ins Radio: Bert Brecht, Kurt Weill, Walter Benjamin, Paul Hindemith, später Theodor Adorno.

Aber die Geschichte des Hörspiels ist keine Geschichte von Männern. Im Gegenteil: unter den prägendsten Figuren waren Fränze Roloff und Cläre Schimmel. Die beiden Namen, die zusammen klingen wie ein Wortspiel, wurden oft in einem Atemzug genannt. Fränze Roloff, eigentlich Franziska, baute das Hörspiel im Hessischen Rundfunk auf. Cläre Schimmel, eigentlich Klara, tat dies beim Südwest Rundfunk.

Fränze Roloffs Hörspiele sind puristisch kammerspielartig inszeniert, zumeist ohne Musik, auffallend ist immer wieder die Bestimmtheit ihrer Inszenierungen, in ihren Dialogen bleiben Betonungen nicht vage. Es treten viele Männer in Hörspielen auf zu dieser Zeit, reden sehr vernünftig und überlegen. Frauen hingegen klingen eher wie Mädchen, mit einschmeichelnder Spielhaltung in hoher Stimmlage, allzeit bereit, ohnmächtig in männliche Arme zu fallen. Fränze Roloff ließ ihren Darstellerinnen diese klischeehafte Rolle nicht so leicht einnehmen – oder drängte sie nicht in diese Unterwürfigkeit, wie manche Regisseure das möglicherweise taten. In ihren Hörspielen klingen die Sprecherinnen jedenfalls wenig unterwürfig. Das ist sicher kein Zufall: Fränze Roloff wurde 1896 geboren, war zunächst Schauspielerin und um 1926 für einige Zeit Leiterin der Schauspielschule an der Berliner Volksbühne – und das, als sie selbst erst in ihren Zwanzigern war. Während der Nazi-Zeit tauchte sie unter, weil sie für den ihr unbekannten Vater keinen Arier-Nachweis erbringen konnte und nicht weiter an exponierter Stelle an der Berliner Volksbühne bleiben konnte. Nach dem Krieg holte man sie zu Radio Frankfurt, dem späteren Hessischen Rundfunk. Dort entwickelte sie den Kinder- und Jugendfunk und die Hörspielabteilung. Bis in die 70er Jahre hinein wirkte Fränze Roloff an rund 170 Produktionen mit – ob als Sprecherin oder in den meisten Fällen als Regisseurin. Damit ist sie eine der wichtigsten Pionierinnen für das Hörspiel im Hessischen Rundfunk. Die Erinnerung an sie wurde bisher vernachlässigt – sogar ihr genaues Todesjahr (1975) ist nicht öffentlich bekannt; einen Nachruf verbat sie sich zu Lebzeiten, all das ist nur auf Anfrage aus dem Unternehmensarchiv zu erfahren.

Zu Cläre Schimmel lässt sich immerhin ein Nachruf der Stuttgarter Zeitung finden, in dem sie als prägend für die „goldene Zeit des Hörspiels“ in den 50er Jahren beschrieben wird – damals lagen die Quoten der Zuhörenden regelmäßig in Millionenhöhe. Cläre Schimmel wurde in den 1930er Jahren erst als Opernsängerin berühmt, bevor sie sich der Schauspielerei zuwandte und eine Ausbildung zur Rundfunksprecherin machte. 1950 wurde sie beim Süddeutschen Rundfunk Leiterin der Hörspielabteilung. Ihr dramaturgisches Verständnis von Hörspielen erklärte sie einmal in einem Interview: sie wollte „nie mehr als die Sprache selbst sprechen lassen“.

Sieglinde Klettenhammer (wie auch Reinhard Döhl, Ulrike Schlieper u.a.) wies mit Blick auf die 50er und 60er Jahre auf die gängige Unterscheidung zwischen „wortzentriertem traditionellem“ und „schallorientiertem Neuem Hörspiel“ hin. Denn während die meisten Hörspiele aus dieser Zeit naturalistisch und mit wenigen (meist musikalischen) Akzenten inszeniert wurden, nutzte das „Neue Hörspiel“ die damals neuen technischen Möglichkeiten als dramaturgische Gestaltungsmittel: Schnitt, Überblendungstechniken und Montage. Dabei kam in den letzten 20 bis 30 Jahren noch eine weitere technische Neuerung hinzu, wie Leonhard Koppelmann und Silke Hildebrandt in „Archivschatz: Das Hörspiel vom Hörspiel“ beschreiben. Seit Tonspuren digital verfügbar sind und in unbegrenzter Zahl und Breite angelegt werden können, sind „invasive“ Schnitte, im Grunde irreversible „Zerstörungen“ der Tonbänder nicht mehr nötig. Damit ist der Spielraum etwa für experimentelle Montagen oder chorische Inszenierungen unendlich geworden.

SCHLÜSSELGERÄUSCHE

Die Geschichte des Hörspiels ist lang und respekteinflößend. Wie verorten wir uns darin, die selbst noch am Anfang stehen? Wie Hörspiele machen, Hörspiele schreiben nach 100 Jahren Hörspiel? Mir hilft das Öffnen von Türen. Ganz konkretes Beispiel: zwei Personen – vielleicht ein Paar – unterhalten sich und gehen in einen anderen Raum, dort setzt sich ihre Geschichte fort. Wäre dies ein Roman, so würde neben dem Dialog der beiden ihr Aussehen beschrieben werden, vermutlich der Raum, in dem sie sich bewegen, vielleicht welche Gedanken sie haben. Wäre es ein Theaterstück, so wäre die Präsenz ihrer Körper dominant für die Wahrnehmung des Publikums. Gestikulieren sie? Berühren sie einander? Wie füllen ihre Körper diesen Raum aus (oder nicht)?

Im Hörspiel hingegen könnte die Tür entscheidend für die ganze Szene sein: Sie ist Trenner, Öffner, Rahmengeräusch für die Verortung der beiden Figuren. Die Tür trennt die Unterhaltung in drinnen und draußen. Durch das Zufallen einer Tür wird möglicherweise erst klar, dass die beiden draußen waren, in der Öffentlichkeit und nun in einen privaten Raum eintreten, in dem ihre Aussagen ganz anders wahrgenommen werden.

Ich hatte einen solchen Tür-Schlüssel-Moment als ich für „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ von Safiye Can Regie führte: Die beiden Hauptfiguren Sophia und Friedrich  kommen vom Einkaufen, öffnen die Haustür, scherzen weiter im Treppenhaus, öffnen die Wohnungstür mit einem Schlüssel, und als diese hinter ihnen zufällt, sind sie in einem Wohnzimmer unter sich. Für diese Szene wurden Sprachaufnahmen in zwei Räumen gemacht: „draußen“ im schalltoten Raum, (die Straßen-„Atmo“ wurde später daruntergelegt) „drinnen“ ist ein kleinerer Aufnahmeraum, der durch Stoffe, Holzmöbel und ein Bett behaglicher, intimer klingt. Das Fehlen der visuellen Wahrnehmung verlangt Spielenden eine paradoxe Schauspielleistung ab: Ob sie einander nahe sind, einander berühren, ist in einer Szene ja nicht zu sehen, nur zu hören. Also berühren sie sich bei den Aufnahmen gar nicht, sie nesteln an ihren eigenen Kleidern oder kneten ein Kissen, sie schmatzen auf ihre eigenen Handrücken, wenn ein Kuss zu hören sein soll. Ihre Stimmen verkörpern ihre Körper und mehr findet hinter den Kulissen nicht statt: In Wahrheit teilen sie sich nicht einmal ein Mikro. Zwei Liebende-Spielende im Hörspiel wahren so viel Distanz wie heimliche Liebespaare in ihren Briefen im 19. Jahrhundert.

Dagegen die Tür: an ihr ist alles echt. Ein paar Tage nach den Aufnahmen – Kristin Alia Hunold und Murat Dikenci („Sophia“ und „Friedrich“) waren längst abgereist – da saß ich mit der Cutterin und dem Tontechniker im Studio und wir bauten die Szene, wir bauten die Türen ein. Also hörten wir dutzende Tür-Aufnahmen an, die nicht in Frage kamen: „Die ist zu massiv, das ist ja ein Bunker!“ „Die geht nach draußen auf, nicht nach drinnen.“ „Jetzt sind sie ja in einer Kirche, nicht in einem Treppenhaus.“ „Die Tür schnappt zu wie eine Balkontür, das kann nicht sein.“ „Klingt nach Hörsaal, nicht nach Studenten-WG.“ – Es fanden sich die richtigen Türen, und die perfekten Schlüsselgeräusche – wie der Schlüssel nach dem Türschließen beiläufig in einer Schale abgelegt wird – nahmen wir selbst auf. Regie ist manchmal nur Geräusche machen.

SPRACHE

Dafür liegen auch Schreiben und Schneiden nah beisammen. Das Schreiben eines Hörspiels ist ein zweifacher Prozess des Kürzens und Verdichtens: Schon im Schreiben gilt der Versuch, alles Redundante zu streichen; sind die Texte aufgenommen, wird der Schnitt mit gleicher Strenge ausgeführt. Was übrig bleibt, muss dicht sein, schlüssig, mit klaren Bezügen in der Narration. Denn Hörende sind so viel ungeduldiger als Lesende. Wenn ein unverständlicher Satz sie aus dem Hörfluss wirft, sind sie verloren, sie werden abschalten. Wortzentriert heißt also: fokussiert, auf wenige Worte, die besser nachhallen als wiederholt werden.

Und doch ist Sprache auch eine besondere Möglichkeit des Hörspiels, vielmehr: Sprachen sind es. Ein Buch in Übersetzung löscht die Originalsprache im Normalfall vollständig, es ist keine Überschreibung, weil die Übersetzung das Original tilgt. Selten werden zweisprachige Ausgaben von Büchern angefertigt, in diesem Fall stehen die beiden Sprachen nebeneinander.
Das ist bei Audios anders: Simultan-Übersetzungen sind akustische Palimpseste. Die Originaltonspur liegt drunter, sie wird nur gedimmt, „geduckt“, wie man sagt. Anfang und Ende, die „Ränder“ bleiben dabei vollständig sichtbar.
Diese Sprach-Sichtbarkeit auf Tonspuren ist ein Potential, welches Hörspiel-Macher*innen inzwischen mehr und mehr zu nutzen wissen. Hier werden polyglotte Sprachflächen bewusst ineinander geblendet, sie unterlaufen sich gegenseitig, sie überschreiben einander. Sprachen wollen gehört werden und Inszenierungen lassen es zu.

Regisseurin und Komponistin Ulrike Haage gab bei meinem Hörspiel „Hyperbolische Körper“ den Sprachen viel Raum, oder vielmehr: Ebenen. In dieser Utopie unterhalten sich die russische Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (geb. 1850) und die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani (geb. 1977) über die Möglichkeit, statt realen Körpern „hyperbolische“ zu haben. Vielleicht könnte so wirkliche Gleichheit und Gleichberechtigung erreicht werden? Kowalewskaja und Mirzakhani streiten über diese Vision, erinnern sich an ihre Vergangenheiten, an Verluste von Kindheiten und sie vergegenwärtigen die Fragilität ihrer Körper. Ihr Dialog ist mehrsprachig und findet außerhalb der Zeit und außerhalb von Räumen statt. Hier sind Sprachen auch Flächen, Ebenen. Darum gibt es  weder Fragen nach den richtigen „Türen“ noch nach einem drinnen und draußen, Privatheit und Öffentlichkeit. Stattdessen ist die Frage der Räumlichkeit eine mathematische – und eine akustische. 

Das Hörspiel hat genug Spielraum für sprachliche und körperliche Utopien. Eine davon wird inzwischen häufiger in der Besetzung praktiziert: Rollen werden genderblind besetzt. Denn noch immer gibt es statistisch mehr Männerrollen, auch im Hörspiel gibt es besonders für Schauspielerinnen mittleren Alters wenige Rollen. Wo es möglich ist, versucht die Besetzung hier starre Geschlechtszuschreibungen zu umgehen: Männliche Jugendliche dürfen auch mal etwas androgyner klingen und mit einer jungen Schauspielerin besetzt werden – ein Beispiel ist etwa Lotte Schubert in Matthias Brandts „Blackbird“ (Regie: Leonhard Koppelmann). Ähnlich verhält es sich mit fabelhaften Wesen, sprechenden Tieren, Erzählstimmen: hier entscheidet die Stimmfarbe und weniger die Tonlage. Ohnehin gewinnen Verschiebungen an Bedeutung: Verschiebungen zwischen Text und Tonspur – wenn etwa Sprachen und Körper nicht notwendigerweise miteinander identifiziert werden. So entstehen Zwischenräume zwischen Text und Sprache ganz oft dadurch, dass Zeilen nicht mehr von denen gesprochen werden, denen sie im Text zugeordnet sind – wie in Das große Heft von Ágota Kristóf (Regie: Erik Altorfer).

Wohin geht es jetzt im Hörspiel? Die Entwicklung tendiert – wieder – zum seriellen Erzählen. Klassiker wie die „Herr der Ringe“-Großproduktion aus den 1990ern erleben eine Renaissance, ebenso wie Bastian Pastewkas lakonische Zwiegespräche mit den Schatten der Hörspielkrimi-Vergangenheit in seinem Kein Mucks!-Podcast und schließlich gehörte zu den erfolgreichsten Serien zuletzt die „10 Atemzüge“ vom Autorinnen-Team Simone Buchholz, Berit Glanz, Mareike Fallwickl und Karen Köhler. Worum es hier geht? Sagen wir: um alles das, was sich üblicherweise hinter verschlossenen Türen abspielt.

Beitragsbild runnyrem

Eine Spirale in den Abgrund – Junji Itōs Horrorgeschichten

von Martin Seng

CN: sexualisierte Gewalt

Durch ein Erdbeben in den japanischen Bergen kommt etwas zum Vorschein, das viele Menschen auf mysteriöse Weise anzieht. Es sind Löcher in Form von Menschen, mal größer, mal kleiner, breiter oder höher, doch immer so geformt, dass man in sie hineintreten kann. Immer mehr Schaulustige wollen sich dieses Phänomen in der sogenannten Amigara-Spalte ansehen. Viele von ihnen wollen selbst in die Löcher steigen. Sie glauben, dass es speziell für sie zugeschnittene Löcher gibt, in die nur ihr individueller Körper hineinpasst. Und tatsächlich verschwinden immer mehr Fanatiker:innen im Berg, in dem sie sich Millimeter um Millimeter nach vorne bewegen, während das Gestein sie weiter umhüllt. Ist man erst einmal in ihnen verschwunden, wird man unerreichbar. Doch die Menschen jauchzen, wenn sie „ihr“ Loch entdecken, sind nicht mehr zurückzuhalten und stürzen sich hinein. Sie geben sich der Felswand hin und verschwinden euphorisch im Dunkeln des Berges.

Die Kurzgeschichte „Der Spuk in der Amigara-Spalte“ stellt die Quintessenz des Schaffens des japanischen Manga-Autors Junji Itō dar. Die Erzählung ist von der ersten Seite an beängstigend, hat etwas Reales, beinahe Dokumentarisches an sich, versprüht mit jedem neuen Bild eine bedrohliche Atmosphäre und ist trotz verschiedenen Erklärungsansätzen nicht greifbar. Wollen die Menschen sich selbst vernichten, indem sie sich in die Spalten hineinwerfen? Ist es ein Todeswunsch, der sie hineinzieht? Gar etwas Übernatürliches? Oder ist es doch nur der Drang, sich einer ungewissen Gefahr auszusetzen? Itō setzt seinen Leser:innen nicht mehr als eine Idee in den Kopf. Wohin sie sich entwickelt und welche Wendungen sie nimmt, überlässt er ihnen. Damit ist der 59-jährige eine Anomalie, ein Unikat in der Manga-Kultur. Doch handeln seine Geschichten nicht nur von Felsspalten, sie erzählen von kleinen Dörfern, die vom Unheil heimgesucht werden, von unsterblichen Entitäten, von bösartigen Geistern in Spiegeln und davon, dass Lachen plötzlich zum Tode führt.

In vielerlei Hinsicht erinnert die Vielfalt, aber auch die kontroversen Inhalte Itōs an Stephen King, den populärsten und kommerziell erfolgreichsten Horror-Autor. Zwar spielt keine von den japanischen Horrorgeschichten in einer Kleinstadt in Maine, doch auffallend oft ist es ein überschaubares Dorf am Rande des Wassers, abgeschottet von der Außenwelt. Religiosität und das Übernatürliche sind wiederkehrende Themen, wie auch die Natur, die sich am Menschen zu rächen scheint. Das Grauen bei Itō ist so vielfältig wie das bei King und in Japan kann der Zeichner sich durchaus mit dessen Popularität messen.

Inzwischen hat der Hype um Itōs verstörende Geschichten auch den europäischen Raum ergriffen. Wie eine Welle, die ebenso einer seiner düsteren Zeichnungen entsprungen sein könnte, sind die einzigartigen Erzählungen über die Verlage gekommen. In Deutschland wird der Autor vom Hamburger Carlsen Verlag publiziert. Im Gespräch mit Kai-Steffen Schwarz, dem Carlsen-Manga-Programmleiter, findet dieser deutliche Worte zu Itō: „Innerhalb der Horror-Sparte bei Carlsen Manga ist Itō für uns der beliebteste und somit ‚wichtigste‘ Mangaka.“ Der Verlag hat 2013 angefangen, die japanischen Horror-Mangas zu verlegen. Seitdem ist das Angebot von Itōs Mangas stark angestiegen und seine großen Werke sind inzwischen in der 8. Auflage.

Laut Steffen-Schwarz sind seitdem über 100.000 Exemplare verkauft worden. Damit sei Itō im Segment Horror schlichtweg konkurrenzlos. Er spricht von einer „festen Säule“ und dass seine Popularität auch in den USA und Frankreich enorm zugenommen habe. Der Mangaka zieht längst über seine eigenen Landesgrenzen hinaus Millionen Leser:innen in seinen Bann. Doch ist das eine Faszination, die nur schwer anhand eines Aspekts der Werk zu beschreiben ist. Man möchte das Grauen greifen und festhalten, das auf jeder Seite von Itōs Mangas beheimatet ist. Man will analysieren und verstehen, warum man plötzlich von den Bildern angezogen, regelrecht hypnotisiert wird. Doch sobald man versucht es zu ergründen, windet sich das Gefühl, entzieht sich einer klaren Zuordnung und verdreht sich. So ergeht es auch den Figuren in „Uzumaki“, einem von Itōs berühmtesten und erschreckendsten Werke.

Die dreiteilige Reihe ist eine Ansammlung von Kurzgeschichten, die allesamt im fiktiven Dorf Kurouzu spielen. Es ist eine Chronologie des Wahnsinns und wie die Bevölkerung sich manisch in diesen hineinsteigert, um letztlich den Verstand zu  verlieren. Von Spiralen besessen – das ist nicht nur der Name des ersten Kapitels, sondern auch der Grund für die Bizarrerien, die das Dorf ergreifen. Plötzlich nimmt alles die Form einer Spirale an. Blumen drehen sich ineinander, die Haare von Schulmädchen werden spiralförmig und Menschen verdrehen ihre Körper auf groteske Weise, damit sie einer Spirale ähneln. Schließlich verwandelt sich das gesamte Dorf in eine Spirale, die aus Verrücktheit und Grauen besteht. Über drei Bände hinweg zeichnet Itō Bilder, von denen eines verstörender als das andere wirkt, doch kann man sich diesem Abstieg in das Delirium auch nicht entziehen. Als Leser:in folgt man der Spirale hinab in die Tiefe, in der Hoffnung ihren Ursprung zu erkunden. Doch erreicht man die letzte Seite, bleibt die Auflösung aus. Der Grund für den Horror wird nicht erklärt und es bleibt einem selbst überlassen, den Sinn in dieser Spirale zu erkennen.

Itōs zentrales Thema sind der menschliche Verstand und dessen Grenzen. Damit orientiert er sich an einem seiner großen Vorbilder, H. P. Lovecraft. Mit seinen Geschichten um kosmische Gottheiten hat Lovecraft einen Horror erschaffen, der übernatürlich und schwer zu fassen ist. Alles erscheint überlebensgroß. Zeit und Raum und das Individuum verlieren angesichts dieser Größe seine Bedeutung. Ähnlich, nur in einem etwas kleineren Maßstab, verhält es sich bei Itō. Seine Bilder sind tiefgründig, auch wenn der nüchterne Zeichenstil zuweilen noch an Skizzen erinnert und seine Charaktere im Angesicht des Horrors, der über sie kommt, oftmals machtlos wirken. Itō bringt das Ungreifbare zu Papier, ohne es direkt sichtbar zu machen.

In einem Interview mit dem US-amerikanischen Manga Verlag Viz Media sprach Itō über die Inhalte seiner Geschichten, insbesondere die Obsession und die Grenzen zum Wahnsinn. Sein Geheimnis, um jemanden Angst zu machen: ihn mit dem Unbekannten konfrontieren. Eine Technik, die er in seinen meist kurzen, aber dafür umso intensiveren Geschichten perfektioniert hat. Doch Itō übt auch Selbstkritik und das mit einer Offenheit, wie man sie von Autor:innen nur selten zu hören bekommt. So spricht er davon, dass sein Quell an Ideen langsam am Austrocknen sei und seine Zeichnungen sich in seiner Karriere nur wenig weiterentwickelt hätten. 

Doch selbst wenn seine Kreativität versiegen sollte, ist Itō längst eine Größe geworden, die ihresgleichen sucht. Bereits mit seinem Debüt 1987 sorgte der Zeichner für Aufsehen. „Tomie“ erschien über dreizehn Jahre hinweg in dem japanischen Horrormagazin Monthly Halloween und etablierte sich schnell als Klassiker. Die namensgebende Tomie ist – wie so oft bei Itō – ein junges Schulmädchen, das bekannt für ihre Schönheit ist und zum Opfer eines Gewaltakts wird. Sie wird zerstückelt aufgefunden, eine Täter:in gibt es nicht. Dann steht Tomie plötzlich wieder in der Klasse, nicht wissend, was passiert ist und wer sie ermordet hat. Es stellt sich heraus, dass sie durch einen Unfall starb und die gesamte Klasse sie in Stücke zerlegt und sich ihrer entledigt hat. Ihre unerwartete Rückkehr stürzt viele der Klassenmitglieder in den Wahnsinn, die sich daraufhin das Leben nehmen.

In den weiteren Texten der Anthologie taucht die Figur Tomie immer wieder als Femme fatale auf, die Männern den Verstand raubt. Männer töten sich gegenseitig für sie, wollen sie an sich reißen und nehmen sie gefangen. Tomies Sexualität steht dabei nicht im Mittelpunkt, vielmehr zieht sie die Männer durch ihre Aura sirenenartig zu sich. Das ultimative Ziel scheint jedes Mal dasselbe zu sein: Das Mädchen auf grausame Weise zu töten. Immer wieder wird sie das Opfer ekelerregender Gewaltdelikte, eines abscheulicher als der andere. Und doch ist es das Mädchen, das zurückkommt, vergleichbar mit dem Naturphänomen eines Virus, das sich bei der Teilung sogar vervielfältigt.

Bereits in seinem Debüt blieb bei Itō vieles ungesagt. Die Lesart dieser Geschichten ist bei Fans umstritten und während manche sie misogyn finden, sehen andere in ihr einen zynischen Kommentar über die Darstellung von Gewalt. Ist es die Manga Version des Rape-And-Revenge-Genre der 1970er Jahre? Oder ein Kommentar über die hohe Selbstmordrate Japans und seine zutiefst patriarchale Gesellschaft? Geht es darum, Femiziden und dem Stalking-Problem des Landes anzuprangern? Oder handelt es sich doch nur um plumpes Schockpotential, das bei „Tomie“ ausgereizt wird?

Ähnliche Fragen stellen sich bei „Remina“, einem von Itōs neuesten Werken. In diesem wird ein Mädchen Opfer einer Vergewaltigung. Der männliche Täter erwartet Sex, weil er doch „nett“ zu ihr war. Ist das letztendlich der Horror, der schon Jahrzehnte zuvor im Subtext von „Tomie“ zu erkennen war? Männliche Erwartungshaltung und die Besitzergreifung von Frauen? Oder ist das eine übertriebene Interpretation? Itō liefert darauf keine endgültigen Antworten. So wirken seine Werke allesamt ambivalent. Gemeinsam haben sie den Schrecken, den sie ihren Leser:innen einjagen. Doch die Gründe dafür variieren.

Seine erratischen Bilder haben Itō bereits drei Mal einen Will Eisner Award beschert, eine der höchsten Ehren der Comic- und Manga-Szene. Zudem ist nicht nur der Carlsen Verlag glücklich mit den Auflagen. Die Popularität des Autors hat mehrere Filmadaptionen nach sich gezogen, neben einer Netflix-Serie wird das Werk „Uzumaki“ als Anime adaptiert. Junji Itō spricht eine beachtliche Masse an Leser:innen an. Seine kafkaesken Inhalte treffen einen Nerv und bieten Raum für Interprationen. Man kann vieles in seine Werke hineinlesen, gar überlesen oder auch überinterpretieren. Denn ehe man sich versieht, hat man sich selbst in einer Spirale verloren. Einer Spirale aus Überlegungen, Gedanken, Gewalt, Ekel, Abscheu und Faszination für all das.

Beitragsbild von Roland Meyer. Promt: a man-shaped hole in the mountain, in the form of the human figure, documentary photograph, black and white, Japanese, vintage print, –ar 16:7

Körper und Provokation – Über eine Werbekampagne der Familie Klum

von Annika Brockschmidt und Rebekka Endler

Zwei unterschiedliche, sehr schöne Frauen posieren in Unterwäsche, plakatiert lebensgroß an Haltestellen in ganz Deutschland. Soweit, so wenig ungewöhnlich – Calzedonia macht zur Zeit nach  diesem Rezept Werbung: Die eine Frau ist sehr schlank, die andere ist es nicht. Zwei Bikinifiguren, von denen eine noch bis vor wenigen Jahren nicht als solche hätte bezeichnet werden können, ohne dass eine öffentliche Debatte losgetreten wird. Dass es heute, 2023, kein Aufsehen mehr erregt, ist eindeutig als Fortschritt zu verzeichnen. 

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Die Sicht der anderen – Wie True Crime ethisch erzählen kann

von Isabella Caldart

Es müssen kaum noch Worte darüber verloren werden, wie beliebt True Crime ist. Spätestens seit dem Podcast „Serial“ (2014) ist die Popularität des Genres explodiert und hat mit dem Erfolg der Netflix-Serie „Monster: The Jeffrey Dahmer Story“ (2022) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Werden wahre Verbrechen fiktionalisiert oder in Dokumentationen aufgearbeitet, so wird zumeist der Täter in den Fokus genommen und dadurch zur Identifikation mit ihm eingeladen – oder er wird sogar als Popstar stilisiert. Diese Art der Darstellung hat einen enormen Einfluss: Menschen mit Dahmer-Tattoos, der Verkauf von Murderabilia wie Dahmer-Ohrringe und -Decken, Eltern, die ihre Kinder zu Halloween als Dahmer verkleiden. Der Serienmörder wird allerorts gefeiert.

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Normalisierte politische Gewalt

von Annika Brockschmidt

Am 4. Dezember 2022 trafen acht Kugeln das Haus des Bernalillo County Commissioner Adriann Barboa. Am 11. Dezember folgten 12 Kugeln. Am 3. Januar diesen Jahres schlugen drei Kugeln in das Haus von Linda Lopez, Senatorin von New Mexico, ein, die den Distrikt 11 vertritt. Sie durchschlugen das Fenster des Schlafzimmers ihrer zehnjährigen Tochter, die zum Zeitpunkt des Angriffs schlief und durch die Schüsse geweckt wurde. Nachdem der State Representative (Bundesstaats-Abgeordnete) Javier Martínez von den Anschlägen auf die Häuser seiner Kollegen gehört hatte, überprüfte er sein eigenes Haus – und fand Einschusslöcher. Ziel der Anschläge waren in öffentliche Ämter gewählte Demokraten.

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Das Problem mit Bully – Mobbing, Queerness und ‚Der Schuh des Manitu‘

von Kais Harrabi

Als Teenager haben mich viele Filme geprägt: David Lynchs „Blue Velvet“ zum Beispiel, den ich das erste Mal mit 13 oder 14 nachts im Fernsehen sah und von dem ich nur die Hälfte begriff, der bei mir aber das Interesse an düsteren Geschichten mit moralisch komplexen Figuren geweckt hat. Die unzähligen Thriller und Actionfilme der 80er und 90er Jahre, die Gesichter von Schauspieler*innen wie Deborah Kara Unger oder Michael Ironside, die wie ein filmisches weißes Rauschen die Abende und Nächte vor dem Fernseher begleitet haben, alle 20 Minuten durchbrochen von Werbung für Sekt, Schnaps oder Telefonsex. Weder die Filme noch die beworbenen Produkte waren für Teenager sonderlich geeignet. Meine Mutter war verständlicherweise besorgt, was für einen schädlichen Einfluss all die Gewalt und der Sex im Fernsehen (und später auch im Kino) auf mich haben könnten. Dabei waren es gar nicht die Thriller und Actionfilme, die bei mir die tiefsten Spuren hinterlassen haben, sondern Komödien der frühen Nullerjahre, allen voran die von Michael „Bully“ Herbig.

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Tanz auf den Ruinen – Verfallserscheinungen in der Berliner Clubkultur

von Hannah Zipfel

Der Mythos eines blühenden Nachtlebens, das aus Chaos und Zerfall hervorgeht, ist seit der Weimarer Republik fester Bestandteil des Berliner Stadtimagos. Von Dekadenz und Aufbruch, wildem Hunger nach Extremen, oder einer fiebrige Lebenslust am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erzählen  Publikationen, die mit Morgen ist Weltuntergang oder Ein Tanz am Rande des Abgrunds überschrieben sind. Der wohl bekannteste Allgemeinplatz in diesem Zusammenhang, ursprünglich Titel eines populären NS-Films von 1938, ist der Tanz auf dem Vulkan, der regelmäßig für die Beschreibung des Epochengefühls der Weimarer Republik herangezogen wird.

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Das Gegenteil von Sichtbarkeit: Ein neues Gesetz verbietet Bücher mit queeren Themen in Russland

von Norma Schneider

In russischen Buchhandlungen und Bibliotheken sind in den letzten Monaten viele Bücher aus den Regalen verschwunden. Bücher von Regimegegner*innen, die die russische Regierung zu „ausländischen Agenten“ erklärt hat, werden teilweise noch mit Packpapier eingewickelt und mit Warnhinweisen versehen angeboten, während Romane und Sachbücher, die sich mit queeren Themen beschäftigen, so gut wie gar nicht mehr verkauft werden. In den Bibliotheken kursieren Listen mit unerwünschten Titeln, die ausgesondert werden, und Buchhändler*innen schicken Tausende Bücher an die Verlage zurück.

Das liegt nicht nur daran, dass vormals beliebte Autor*innen nun vom russischen Staat zu Verräter*innen erklärt werden oder – wie im Fall des international bekannten Bestsellerautors Dmitry Glukhovsky – per Haftbefehl gesucht werden, weil sie den Krieg gegen die Ukraine kritisieren. Sondern der härteste Schlag, den die russische Regierung dem kulturellen Leben im Land versetzt hat, ist ein neues Gesetz, das seit Anfang Dezember 2022 die Verbreitung von „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen, Geschlechtsumwandlungen und Pädophilie“ verbietet. Da der Begriff „nichttraditionelle Beziehungen“ in Russland alles meint, was nicht hetero ist, ist davon auszugehen, dass das Gesetz einem vollständigen Verbot queerer Inhalte gleichkommt. Betroffen sind davon nicht nur Bücher, sondern auch Filme, Serien und sämtliche Print- und Onlinemedien.

Nicht traditionell ist nicht erwünscht

Für Verstöße gegen das Verbot sieht das Gesetz hohe Geldstrafen vor. Beim dritten Verstoß kann die Schließung des Medienunternehmens für neunzig Tage angeordnet werden.  Felix Sandalov, Cheflektor des Moskauer Verlags Individuum, der noch kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes ein Buch über Homosexualität in der Sowjetunion veröffentlichte, sieht darin den Versuch, unerwünschte Verlage zur Schließung zu zwingen: „Neunzig Tage ohne Geschäftstätigkeit sind eine sehr lange Zeit. In diesem Zeitraum ist es nicht mal erlaubt, dass man seine Schulden begleicht. Ich denke, für die meisten Verlage sind neunzig Tage ohne Geschäftstätigkeit genug, um zu sterben.“ 

Viele Verlage sind verunsichert, denn was genau unter „Propaganda“ fällt, ist nicht klar definiert, in strenger Auslegung wäre es jede positive oder neutrale Thematisierung von LGBTIQ-Identitäten. „Aufgrund des vagen Wortlauts kann das Gesetz willkürlich ausgelegt werden, und die Grenzen dessen, was erlaubt und was verboten ist, bleiben unbestimmt (und das ist kein Zufall)“, schrieb die Literaturkritikerin Galina Yuzefovich im Dezember im oppositionellen Exilmedium Meduza. Deshalb sei die derzeitige Situation auf dem russischen Buchmarkt am besten mit „Bestürzung“ und „Ratlosigkeit“ zu beschreiben. „Die Branche ist erstarrt in Erwartung von Schauprozessen, die zeigen sollen, wie die Behörden die neuen repressiven Gesetze tatsächlich anzuwenden gedenken.“ Viele Verlage und Buchhändler*innen sind also besonders vorsichtig bei dem, was sie veröffentlichen und verkaufen.

Es seien nicht nur eindeutig queere Inhalte, die ins Visier geraten, erzählt Felix Sandalov. Bei den Behörden wurde eines der Bücher aus seinem Verlagsprogramm gemeldet, das zwar – so Sandalov – „ziemlich heterosexuell“ ist, in dem es aber um kinky Sex geht, was auch als nicht traditionell gelte. „Die Grenzen sind also sehr vage. Wenn man etwas schreibt wie: ‚Wir wollen heiraten und einen Haufen Kinder haben‘, ist das in Ordnung. Aber es gibt Millionen anderer Szenarien, und nicht alle davon sind willkommen.“

Die Zahl der Bücher, die potenziell von dem Gesetz betroffen sind, ist also sehr hoch. Denn Gegenwartsliteratur spielt nun mal meistens in der Gegenwart und wird „von Menschen mit einem zeitgemäßen Mindset“ geschrieben, wie Sandalov sagt. Gerade bei Übersetzungen aus dem Englischen dürften sich kaum aktuelle Romane finden lassen, in denen nur „traditionelle“ Beziehungen vorkommen. Und da viele Verlage, Buchhändler*innen und Betreiber*innen von E-Book-Plattformen dazu tendieren, lieber Titel in vorauseilendem Gehorsam aus dem Programm zu nehmen, statt die Grenzen auszutesten, sind die Auswirkungen auf den Buchmarkt – ganz zu schweigen von der Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen – dramatisch.

Russlands Feinde: Der Westen und ein schwuler Liebesroman

Dass es gerade jetzt zur Verabschiedung dieses einschneidenden Gesetzes kam, hat mehrere Gründe. Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 war auch der Beginn einer innenpolitischen Verschärfung: Zahlreiche restriktive Gesetze wurden erlassen, Regierungs- und vor allem Kriegsgegner*innen werden noch stärker unter Druck gesetzt und wegen Kleinigkeiten wie einem kritischen Social-Media-Post zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Lange hatte sich die russische Regierung darum bemüht, nach außen den Schein einer pluralen Gesellschaft zu wahren, in der Vielfalt und Meinungsfreiheit zwar beschränkt, aber noch ausreichend vorhanden zu sein schienen, damit westliche Staaten keinen zu großen Imageschaden fürchten mussten, wenn sie enge politische und wirtschaftliche Beziehungen mit Russland führten.

Seit das Putin-Regime mit Beginn des Angriffskrieges auf direkten Konfrontationskurs mit dem Westen gegangen ist, braucht es sich nicht mehr zurückzuhalten. Tatsächlich blieb nach Verabschiedung des Gesetzes der Aufschrei im Ausland aus – wohl weil es nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste der Ungeheuerlichkeiten seit dem 24. Februar 2022 zu sein scheint. Das Verbot queerer Inhalte unterstreicht Russlands politische Abgrenzung vom Westen. Seit Jahren werden in der staatlichen Propaganda Europa und die USA als feindliche Gesellschaften präsentiert, in denen angeblich die „traditionellen Werte“ verraten werden, vermeintliche Minderheiten den Diskurs bestimmen und Kinder zur Homosexualität erzogen würden, was langfristig zum Aussterben der Menschheit führen würde. Stimmung gegen „den Westen“ und für den Krieg zu machen, bedeutet in Russland immer auch, Stimmung gegen Toleranz und Vielfalt zu machen.

Der konkrete Anlass für das Gesetz, das nun den russischen Buchmarkt umkrempelt, hat tatsächlich mit einem Buch zu tun. Im Jahr 2021 erschien der Roman „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ von Katerina Silvanova und Elena Malisova im Verlag Popcorn Books. Der Schwesterverlag von Individuum hat sich auf Romane für junge Erwachsene spezialisiert, die sich mit Themen wie queerer Identität, Rassismus, Sexismus und Mental Health beschäftigen. „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ erzählt eine schwule Liebes- und Coming-of-age-Geschichte und wurde – nachdem der Roman auf TikTok viral ging – zu einem Bestseller. Etwa 300.000 Exemplare der romantischen Geschichte über zwei junge Männer, die sich im Pionier-Sommerlager kennenlernen, wurden verkauft. Eine Sensation: Nie zuvor hatte in Russland ein Buch mit queerer Thematik so viel Aufmerksamkeit erlangt – und queere Themen so viel Sichtbarkeit. Es war ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass die russische Gesellschaft längst nicht so queerfeindlich ist, wie die Regierung sich es wünschen würde.

Das Regime reagierte entsprechend: Es gab Medienkampagnen gegen das Buch und den Verlag. Der nationalistische Schriftsteller Sachar Prilepin sagte öffentlich, dass er nicht traurig darüber wäre, wenn jemand den Verlag anzünden würde, und Fernsehpropagandist Dmitri Kisseljow nahm das Buch in den Abendnachrichten auseinander, wo er sogar laut daraus vorlas. Die Drohungen wurden so massiv, dass die beiden Autorinnen des Romans Russland verlassen mussten. Mittlerweile wurden sie zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Bei den Parlamentsanhörungen zum Gesetz gegen queere Inhalte wurden „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ und der Verlag Popcorn Books mehrfach thematisiert, so dass wenig Zweifel bleibt, dass der Erfolg des Romans die Gesetzesinitiative wenn nicht provoziert, so mindestens vorangetrieben hat.

Eine Zukunft im Exil und im Untergrund

Als das Gesetz Ende November 2022 im Parlament verabschiedet wurde, aber noch nicht in Kraft getreten war, versuchten einige Leser*innen noch so viele Bücher wie möglich zu kaufen, bevor sie verboten sein würden. Popcorn Books starteten einen Ausverkauf ihrer Titel mit queerer Thematik, beim Verlag Individuum erlebte das kurz zuvor erschienene Buch über Homosexualität in der Sowjetunion „einen Tsunami an Verkäufen“, erzählt Felix Sandalov. „In diesem Fall musste man keine Werbung machen, weil die Leute ohne jeden Hinweis verstanden haben, dass es in absehbarer Zeit keine Chance mehr geben wird, etwas zu diesem Thema zu kaufen.“

In Zukunft werden die russischen Leser*innen Bücher zu queeren Themen wohl vor allem im Ausland oder bei internationalen E-Book-Plattformen finden. Verlage, die weiterhin Bücher mit queeren Themen veröffentlichen wollen, müssen nach kreativen Wegen suchen, der Strafverfolgung zu entgehen, und werden wohl langfristig nicht darum herumkommen, Dependancen im Ausland zu eröffnen. Innerhalb Russlands werden Autor*innen Bücher mit queeren Themen wohl nur noch in selbstproduzierten Kleinstauflagen veröffentlichen können. Der zu Zeiten der Sowjetunion verbreitete Samisdat – selbstverlegte Texte, die über inoffizielle Wege vertrieben werden, um die Zensur zu umgehen – wird eine neue Blüte erleben. Doch die Sichtbarkeit und gesellschaftliche Wirkmächtigkeit eines queeren Bestsellers werden solche Publikationen nie erreichen können. Einige Leser*innen werden dem Medium Buch vielleicht auch ganz den Rücken kehren und queere Geschichten in anderen Medien suchen – in Fanfiction-Foren zum Beispiel, die ohnehin ein wichtiger Schutzraum für queere Narrative sind, nicht nur in Russland.

Die Zukunft der Schwesterverlage Popcorn Books und Individuum ist ungewiss. Anfang Januar wurde ein Strafverfahren gegen Popcorn Books wegen des Verstoßes gegen das neue Gesetz eingeleitet und der Verlag wird eine Geldstrafe zahlen müssen. Bisher sind solche Fälle vor allem individuell motiviert, Einzelpersonen reichen bei den Behörden Beschwerden über Inhalte ein, die sie anstößig finden. Auch die für die Medienaufsicht und Zensur zuständige Behörde Roskomnadsor hat bisher ihre Daten vor allem manuell durch Mitarbeiter*innen erfasst, so dass eine systematische Überwachung des Buchmarkts nicht möglich war. Doch es gibt bereits Pläne für eine automatisierte Überwachung des gesamten russischen Internets – und damit auch aller E-Books. „Die Ergebnisse werden dann in sehr kurzer Zeit geliefert. Das wird eine viel größere Wirkung haben und viel mehr Komplikationen mit sich bringen, für alle“, berichtet Felix Sandalov, und fügt hinzu: „Gleichzeitig glaube ich, dass man auch mit der Maschine Katz und Maus spielen kann, aber es ist schwieriger.“ Vor allem wenn man, wie Popcorn Books, bereits im Fokus der Behörden steht. „Ich denke nicht, dass Popcorn im Moment noch die Bücher in Russland herausbringen könnte, die sie früher veröffentlicht haben. Das wäre ein selbstmörderischer Akt“, sagt Sandalov. Deshalb gibt es Überlegungen, Literatur mit queeren Themen in Zukunft im Ausland zu vertreiben und nur den unverfänglichen Teil des Programms in Russland zu belassen.

Bei Sandalovs Verlag sieht die Sache noch ein wenig anders aus. Da bei Individuum vor allem Sachbücher zu aktuellen und oft kontroversen Themen veröffentlicht werden, ist der Verlag nicht nur vom Verbot queerer Inhalte betroffen, sondern auch von anderen restriktiven Gesetzen wie dem gegen die „Diskreditierung der russischen Armee“, die eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Themen kriminalisieren. „Es ist schwierig, die Realität, in der wir leben, aus Sachbüchern herauszuhalten. Wir müssen auf das reagieren, was vor sich geht, und das ist mit den bestehenden Gesetzen wirklich schwer zu machen“, sagt Sandalov. Doch er will weitermachen, solange es geht, und an geplanten Buchprojekten festhalten, auch wenn es sich ein wenig anfühlt „wie ein Minenfeld“, durch das er sich bewegen muss. „Mir ist klar, dass es erstaunlich ist, dass ein Verlag wie Individuum im heutigen Russland existieren kann. Mit jedem Tag wird mir mehr und mehr bewusst, dass das wie Schnee im Sommer ist, dass das eigentlich nicht sein kann. Das ist mir klar, trotzdem möchte ich so lange wie möglich daran festhalten. Aber ich weiß natürlich, wie das ausgehen wird.“ Es gibt deshalb auch für seinen Verlag Pläne, etwas im Ausland zu etablieren.

Das Ende der Repräsentation

Das Verbot der „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen“ zeigt, dass die russische Regierung weder davor zurückschreckt, die Lebensrealität eines Teils der Bevölkerung zu Propaganda zu erklären, noch davor, das kulturelle Leben im Land vollständig umzukrempeln. Was das Gesetz im Vergleich zu anderen restriktiven Gesetzen so einschneidend macht, ist, dass es eben nicht nur Regierungskritik und explizit politische Themen in Russland betrifft, sondern bereits das offene Sprechen über den Alltag vieler Menschen kriminalisiert. Etwas so harmlos Erscheinendes wie ein unterhaltsamer Liebesroman wird nicht bloß zum Skandal, was bereits absurd genug erscheinen würde, sondern zur Straftat. Es scheint, als hätte die russische Regierung verstanden, wie wirkmächtig Sichtbarkeit und Repräsentation queerer Menschen sein kann, so dass sie versucht, sie um jeden Preis zu unterbinden.

Bisher sind die Folgen des Gesetzes noch nicht vollständig abzusehen, doch sie werden dramatisch sein. Dass ein russischer Streaming-Anbieter die Serie „Sex and the City“ nur noch in zensierter Version ausstrahlt – die Wörter „schwul“ und „lesbisch“ wurden herausgeschnitten – ist wohl nur die erste absurde Folge dieser neuen Realität. „Es kann sein, dass einige der wichtigsten Romane der Weltliteratur in Zukunft nicht auf Russisch erscheinen werden, weil eine Nebenfigur in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung ist“, erklärte die Literaturkritikerin Natalia Lomykina im März 2023 gegenüber Forbes.

Aufgeschlossene Leser*innen in Russland werden wohl auch in Zukunft Wege finden, die Texte zu lesen, die sie interessieren, und russische Autor*innen, die sich weigern, sich selbst zu zensieren, werden Möglichkeiten finden, ihre Texte zu veröffentlichen. Vieles davon wird allerdings außerhalb des russischen Buchmarkts stattfinden – im Samisdat, auf im Ausland gehosteten Onlineplattformen, in Exilverlagen. Doch die Texte, die dort veröffentlicht werden, erreichen nur diejenigen, die gezielt nach ihnen suchen. Repräsentation von queeren Themen in der Massenkultur wird es keine mehr geben, und damit auch nicht die Möglichkeit, unpolitische Menschen in Russland dazu zu bringen, die staatliche Propaganda zu hinterfragen. Queere Menschen werden so weiter in die Unsichtbarkeit gedrängt und einmal mehr die Realität zur Propaganda erklärt.

Suche nach Beständigkeit im Zeitalter der Flexibilisierung – Ein Roman über die Arbeitswelt

von Lukas Doil

Piratin auf Zeit, Aushilfs-Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns, Hausgeist auf Abruf – Die namenlose Protagonistin von Hilary Leichters Debütroman ist eine Zeitarbeiterin. Als Angestellte einer Temporary Work Agency wird sie von Job zu Job verliehen. Die Agentur wird zum Ausgangspunkt einer fieberhaften Reise durch die Gig Economy, in der Arbeiter*innen wie Tagelöhner mal hier und mal da arbeiten. Die für die Protagonistin zuständige Personaldisponentin Farren hält eine schier endlose Reihe an offenen Stellen bereit, die eines ganz bestimmten Typus von Arbeit bedürfen: „filling in“. Dafür schlüpft die Protagonistin in Rollen, nimmt neue Identitäten an und führt penibel und wörtlich Arbeitsanweisungen durch – bis das „placement“ beendet ist und ein neuer Job wartet. Für einige „lucky temps“, so teilt sie zu Beginn mit, kündigen sich irgendwann Vorboten der „steadiness“ an, ein Schauer, eine schwitzige Erregung. Der Übergang in die ständige Beschäftigung ist die „hopeful lane“, die die temps an die Agentur bindet. Doch für manche temps erfüllt sich der Traum von Beständigkeit nicht: „they die, before digging in the footholds of life.” 

Zur Gig Economy ist im letzten Jahrzehnt viel geschrieben worden. Lange bevor sich sogenannte Platform Jobs – Uber, Lieferando oder AirBnb – etablierten, haben Soziolog:innen und Ökonom:innen unter dem Stichwort “Flexibilisierung” den Arbeitswandel der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Zur als “Normalarbeit” deklarierten “sicheren” Beschäftigung traten ab den 1970er Jahren im “Westen” zunehmend rechtlich de-regulierte, materiell schlechter gestellte und auf Mobilität und zeitliche Verfügbarkeit setzende “atypische” Arbeitsformen. Solche Anstellungen füllen selten eine gesamte Erwerbsbiografie, dauern oft nur wenige Jahre oder Monate. Kündigungsschutz oder gewerkschaftliche Bindungen werden zum Hindernis in globalen Konkurrenzlagen. Betriebliche Risiken und Zwänge – die anderen Seiten der Flexibilität – werden auf die Beschäftigten übertragen. Plattformökonomien, die für jede Art von Arbeitssuchenden einen Tagelohn per App versprechen, haben dieses Prinzip fast perfektioniert. Der digitale Kapitalismus der Gegenwart ist aber nur eine Wegmarke statt Ursache der tiefgreifenden Transformation von Arbeit. Dieser Erkenntnis trägt Hilary Leichter Rechnung, indem sie mit der Zeitarbeit eine kontroverse, aber weit verbreitete Arbeitsform in den Mittelpunkt rückt, während das Internet als Medium merklich absent bleibt. 

Obwohl in der Erzählung weitestgehend eine diskrete Ort- und Zeitlosigkeit vorherrscht, sind so schnell Bezüge zum Spätkapitalismus amerikanischer Provenienz auszumachen. Die Agentur, die den Leser:innen als Domäne von gepuderten und manikürten Damen vorgestellt wird, persifliert Personalunternehmen wie Manpower Inc. oder Kelly Services. Jene hatten Zeitarbeit als Geschäftsmodell seit 1945 populär gemacht und dabei geschickt Regulierungen gegen private Arbeitsvermittlung aus der New Deal Ära umgangen. Leiharbeitnehmer:innen werden eben nicht vermittelt, sondern nur zeitlich begrenzt verliehen. Sie schließen keinen Arbeitsvertrag mit dem Entleiher und werden auch nicht von ihm bezahlt, müssen aber seinen Arbeitsanweisungen folgen. In den USA wie auch in Europa, wo die Zeitarbeitsbranche in den 1960er Jahren stark expandierte, lag der Schwerpunkt der von Kritikern als „moderner Menschenhandel“ geschmähten Arbeitsform zwar zahlenmäßig immer deutlich im Industriesektor. In Häfen und Stahlwerken verrichteten – und verrichten bis heute – Leihkolonnen prekäre und gesundheitsschädliche Schwerstarbeit. Dennoch gelang es der Branche die verpönte Leiharbeit als einen Beitrag zur Frauenemanzipation zu medialisierten. Die in den 1950er und 1960er Jahren stark präsente Werbeikone des Kelly Girl, eine Sekretärin auf Abruf, symbolisierte Professionalität, eine bürgerliche Geschlechterordnung und das Versprechen von Flexibilität – sowohl für die arbeitenden Subjekte als auch für den boomende Dienstleistungssektor. Wem diese Flexibilität in erster Linie zugutekam, daraus machte Kelly Services‘ entwaffnend ehrliche Werbung der 50er-Jahre im Übrigen keinen Hehl: When the workload drops, you drop her!

Als Chairman of the Board, Schaufensterpuppe oder Schuh-Sortiererin versucht die Namenlose ihr Glück, doch das Gefühl der Beständigkeit will sich nicht einstellen. Farren empfiehlt ihr einen Ortswechsel, schließlich warten Job-Gelegenheiten – und damit die potentielle Stetigkeit – in allen Gefilden. Auf einem Piratenschiff springt sie für eine Matrosin auf Landurlaub ein. Sie soll nicht nur vertreten. Sie nimmt den Namen „Darla“ an und wird von Pearl, Darlas bester Piratenfreundin, in das Piratenleben und ihr neues Ich initiiert und von ihr romantisch umgarnt. Nach einer Plünderfahrt kommt es zu einem Dilemma. Eine Gefangene behauptet, „the orginal Pearl“ zu sein, die „other Pearl“ habe sie nur vor Jahren vertreten und imitiert. Die Crew entscheidet sich gegen die Gefangene und Pearl triumphiert: „It’s the woman who finishes the job who gets the job done!“ „Darla“ täuscht die Hinrichtung der „alleged-original Pearl“ vor und gewinnt endlich die Akzeptanz der Crew. Doch gerade als sie davon träumt, die Beständigkeit auf dem Schiff zu finden, kehrt die richtige Darla zurück. Der Protagonistin wird klar, wie wenig sie und die eigentliche Darla gemein haben, und auch Pearl will von der Zeitarbeiterin nichts mehr wissen. Wie es die Piratentradition verlangt, wird sie über Bord geworfen.

Subjekt zwischen Verfügbarkeit und Charaktermaske

Die Protagonistin muss mit dem Versprechen der Flexibilität leben lernen. In Rückblenden erzählt sie von ihrer Kindheit und von der ersten Arbeit. Ihre Mutter bereitet sie, als sei es ihre Bestimmung, auf ein Leben als temp vor, denn sie kann auf eine lange Familientradition zurückblicken. Alle ihre weiblichen Vorfahren waren Zeitarbeiterinnen – ein „family tree of temporary lives“ –, doch die Beständigkeit blieb ihnen verwehrt. Väter gibt es in dieser flexiblen Dynastie nicht, es gibt nur „boyfriends“, und zwar mehr als ein Dutzend gleichzeitig. Wie ihre Mutter und Großmütter vor ihr lebt die Protagonistin in Polyandrie. Während der Odyssee durch die offenen Stellen bleibt sie emotional ungebunden und unverfügbar. Ihre vielen Partner, die sie anhand eines hervorstechenden Merkmals auseinanderhält („tall boyfriend“, „pacifist boyfriend“, „mall rat boyfriend“), warten brav auf ihre Rückkehr, ziehen im Verlauf der Handlung zusammen in ihr Appartement, werden beste Freunde und heiraten schließlich. Fast gewinnt man den Eindruck, hier sei die Gig Economy dystopisch zu Gig Relationships erweitert worden. Der Protagonistin bleibt nur Unbehagen, das sich einstellt, als sie am Telefon von dem neugefundenen Glück der boyfriends erfährt. Hilary Leichter gelingt es, die Geschlechtlichkeit von Arbeit und deren Funktion für die Identitätskonstruktionen der Arbeitenden offenzulegen. Denn auch ein Job als buchstäbliche Leihmutter endet für die Protagonistin nicht in beruflicher oder emotionaler Beständigkeit. Sie wird spontan von einem kleinen Jungen eingestellt, dessen Mutter von Piraten entführt wurde. Sie simuliert eine tradierte, wenn auch alleinerziehende Mutterrolle, liest Gutenachtgeschichten vor, schmiert Pausenbrote und schimpft. Doch gerade als sie beginnt, den neuen Arbeitsort als Zuhause und den Kunden als Sohn zu begreifen, entlässt er sie. Er sei nun groß und brauche keine Mutter mehr. Die  feministisch anmutende Ungebundenheit, die zu Beginn ohne weiteres auch als Freiheit zu begrüßen gewesen wäre, wird für die Protagonistin zunehmend zur Zumutung.

Hilary Leichter evoziert in diesen Episoden oft das Bild der Maske, um den Wechsel zwischen Identitäten und Rollen zu unterstreichen. Auch das Cover der Paperback-Ausgabe zeigt eine Frau mit Maske und stoischer Mimik. Mit den Begriffen der Charaktermaske und der Personifikation beschrieb Karl Marx in seinem Spätwerk die soziale Form, in der Menschen einander in kapitalistischen Gesellschaften begegnen. Der „Charakter“ ist dabei nicht psychologisch auf das Individuum bezogen, sondern nur auf dessen Funktion in einer widersprüchlichen sozialen Welt. Als Personifikationen von Sachverhältnissen (als Verkäufer, Angestellte, Aktionärin, Kunde) individuieren sich Menschen entlang und gegenüber ökonomischen, sozialen und kulturellen Zwängen.  Sie lernen aber auch, ihre Masken im sozialen Gefüge zu bejahen, strategisch einzusetzen oder zu problematisieren. Anders als etwa in feudalen Kontexten trennt sich das private vom ökonomischen Individuum, erst durch das öffentliche Leben und die durch den Arbeitsprozess vermittelte Vergesellschaftung kommt es zu Individualisierung. Die Maske verweist bei Marx also nicht auf eine eigentliche Persönlichkeit dahinter, die verborgen oder unterdrückt wird, sondern auf die soziale und historische Bedingtheit von Individualität. Bürgerliche Individuen stehen in diesem Sinne vor einem Dilemma, denn ihre Selbsterhaltung wird ihnen selbst überlassen, während die Bedingungen dafür weitestgehend außerhalb der persönlichen Kontrolle stehen. Das hat auch ethische Implikationen, denn die soziale Welt ist eben kein Produkt gemeinsamer und vernünftiger Entscheidungsfindung. Sind die Menschen hinter den Charaktermasken für die durch sie verdinglichten Interessen haftbar?

Beständigkeit statt Flexibilität?

Hilary Leichter fragt in Temporary nach den Folgen der Beschleunigung, Entgrenzung und schließlich Auflösung der Arbeit für das Individuum und die Gesellschaft. Mit den wechselnden Jobs zieht die Protagonistin auch immer neue Masken auf und wirft vorherige ab. Bald wird deutlich, dass die erhoffte Beständigkeit kein Weg zu ihr selbst, sondern überhaupt nur die Affirmation einer auf Dauer gestellten Normalarbeit ist. 

Die Sozialisation in der Familie aus temps legt nahe: ein Dahinter ist für das zeitarbeitende Subjekt des Romans gar nicht mehr auszumachen. Wie unter solchen Bedingungen ein gutes Leben und eine ethische Gesellschaft vorstellbar sein soll, stellt Leichter sardonisch in Frage. Sie lässt die Protagonistin als Gehilfin eines Auftragsmörders jobben, doch der Auftrag scheitert, als sich das Opfer als alte Bekannte entpuppt. Die Namenlose weigert sich, die Tat zu verüben. Der Job ist damit gescheitert. Personalchefin Farren teilt am Telefon mit, dass die Protagonistin nun als „fugitive temp“ zu betrachten ist und deshalb über eine Agentur für besonders schwere Fälle in den Niederungen des Arbeitsmarktes reintegriert werden muss. Ihr folgendes placement entpuppt sich als Job in einem Luftschiff, das über einer nicht näher beschriebenen Gegend kreist und Bomben abwirft. Auch der Auftraggeber ist nicht bekannt, die Protagonistin mutmaßt, es könne sich wohl um ein Konglomerat verbündeter Staaten, einen bösen Milliardär oder einen Superschurken handeln. Da die auf dem Luftschiff beschäftigten temps per Knopfdruck die Bomben abwerfen, seien die Hintermänner und -frauen aber gar nicht völkerrechtlich verantwortlich: 

„And since fugitive temps are hidden and without recourse, we technically don’t exist, at least not in the eyes of the law. […] no one can be held accountable and it’s maybe as if the bombs were released by none other than the wide and wondrous sky itself.” 

Der Protagonistin wird klar, dass Befehlsgehorsam auch kein Weg zu sich selbst ist. Wieder entzieht sie sich einer unmoralischen Handlung und springt von Bord. Dank Fallschirm entkommt sie glimpflich, doch es regnet weiterhin Bomben. Verantwortung bleibt den Einzelnen überlassen, an den Strukturen ändert sich nichts.

Beim Lesen drängen sich bald die Inspirationen aus dem Werk des US-Soziologen Richard Sennett auf. Als dieser 1998 sein zeitdiagnostisches Buch „Der flexible Mensch“ (Original-Ausgabe.: „The Corrosion of Character“) veröffentlichte, hatte sich Flexibilität längst als Metapher und politökonomisches Projekt durchgesetzt. Seine Warnungen vor dem „flexiblen Kapitalismus“ zeichneten eine Arbeitswelt im Umbruch, die durch die fortschreitende Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, also der typischen Beschäftigung mit sozialer Sicherung, gewerkschaftlicher Vertretung und rechtlichem Schutz, bedroht ist. Dieses Modell von Arbeit hatte sich erst in den Boom-Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt und normativ etabliert, war also selbst in hohem Maße abhängig von historischen Kontexten wie der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und dem Nachkriegswachstum und galt ohnehin nur für die wohlhabenden, nachkolonialen Industrienationen. Langfristigkeit steht für Richard Sennett stattdessen als Grundbedingung für die gelingende Ausbildung von moralischen Werten wie Solidarität und Verantwortung fest. Flexibilisierung gefährdet also die Persönlichkeit und den sozialen Zusammenhalt. Die Frage aber bleibt: Gibt es überhaupt einen Weg zurück – oder nach vorne – in gesicherte Beschäftigung für alle unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus?

Hilary Leichter setzt dieser Frage ein rätselhaftes und humorvolles Ende entgegen. Das Motiv der Beständigkeit wandelt sich und entpuppt sich schließlich gar nicht als Gegenwert zur Flexibilität, sondern als Chimäre. Statt einem guten Leben wartet eine Ewigkeit in Lohnarbeit, bis schließlich die Menschheit ausstirbt. Man taucht bei der Lektüre in eine surreale Welt ein, doch es kommt nicht zum Moment des Bewusstwerdens und der Verständigung. Spätestens als die Pointe der Geschichte erkennbar wird und klar ist, dass keine Vernunft herrscht, um an den Verhältnissen zu rütteln, befindet man sich wieder an der Oberfläche der Klassengesellschaft.

Foto von Luis Villasmil auf Unsplash

„Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ – Ein Buch entschuldigt sich bei Ostdeutschland

von Matthias Warkus

Als ich 1988 eingeschult wurde, gab es in meiner ca. 30-köpfigen Grundschulklasse im winzigen Westpfälzer Kreisstädtchen Kusel (damals etwa 5700 Einwohner und bereits seit einiger Zeit schrumpfend) nach meiner Erinnerung drei Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund. Ein Junge mit türkischen Namen, über den man nicht viel wusste; ein Sohn einer der vielen amerikanischen Familien, die im Zusammenhang mit der gewaltigen NATO-Truppenkonzentration in der Gegend um Kaiserslautern und Ramstein lebten; und die Tochter eines kanadischen Arztes zwei Dörfer weiter, in die ich vom ersten Tag an hilflos verliebt war.

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