Jahr: 2022

BeReal – Bitte, seid bloß nicht authentisch!

von Lennart Rettler

Eine Person zeigt ihren Laptop, eine weitere liegt im Bett. Dann folgt eine Person am Laptop auf der Arbeit, eine andere Person scheint zu spazieren. Jemand gießt Pflanzen und ein anderer sitzt ebenso vor dem Laptop. Das sind Ausschnitte dessen, was mir die App BeReal an einem Dienstagmittag anzeigt.

Seit 2020 gibt es die französische App, die erst seit diesem Sommer richtig einschlägt. Ihr Prinzip ist ziemlich schnell erklärt: User*innen posten jeden Tag einen Beitrag. Dieser besteht aus einem Foto der Front- sowie einem Foto der Rückkamera, welche gleichzeitig aufgenommen werden. So entsteht ein kurzer Ausschnitt des Alltags, der dokumentiert, was eine Person gerade erlebt und wie sie selbst dabei aussieht. Die Beiträge können nur von akzeptierten Freund*innen gesehen werden und auch erst dann, wenn die User*innen selbst einen Beitrag hochgeladen haben. Be Real versendet jeden Tag eine Benachrichtigung zu einer zufälligen Uhrzeit. Mit der Benachrichtigung haben die User dann exakt zwei Minuten Zeit, um einen Beitrag hochzuladen. Wer jetzt Angst hat, dass die App-Nutzung zu konstanter Smartphone-Aufmerksamkeit verpflichtet, sei schnell entwarnt: Es lässt sich auch noch nach diesen zwei Minuten, selbst vier Stunden später, ein Beitrag hochladen. Allerdings muss man dann mit der sozial ächtenden Konsequenz leben, ein Late gepostet zu haben. Denn dieser Begriff verziert für alle sichtbar den Beitrag des Zuspätkommers.

Schade ist, dass in der deutschen Benachrichtigung die Worte „Zeit für Be Real“ verwendet werden. Im Englischen heißt es schlichtweg „Time to Be Real“, versehen mit zwei aufdringlichen, gelben Warnzeichen. Der englischsprachige Ausruf verdeutlicht alles, was die App uns versprechen möchte. Mit Eintritt der Benachrichtigung ist es Zeit, real zu sein – zumindest über die Dauer der Beitragserstellung. Damit bedient die App ein Verlangen, dass unsere digitale Welt prägt, das Verlangen nach Authentizität, nach realness. Die App baut ihre Daseinsberechtigung auf der Prämisse auf, dass unsere Selbstpräsentation auf allen anderen sozialen Medien weniger authentisch, gar fake, sei.

Jetzt lässt sich darüber streiten, ob die Beiträge auf dieser Plattform wirklich realer sind als bei der Konkurrenz. Anbringen lässt sich, dass es diverse Wege gibt, den Authentizitätsanspruch der App zu umgehen. So posten viele User ihren Beitrag einfach später, einige denken sicherlich schon morgens über den perfekten Moment für ihren heutigen BeReal-Beitrag nach, andere sind sicher auch in der Lage sich innerhalb von zwei Minuten perfekt zu inszenieren. Diese Diskussion ist müßig. Viel interessanter ist zu sehen, was uns die App über unser gestörtes Verhältnis zum Authentizitätsbegriff und der digitalen Welt verrät.

Authentizität erlebt täglich Hochkonjunktur bei allem, was in irgendeiner Weise mediale oder digitale Sphären umfasst. Marken sollen auf Social Media unbedingt authentisch sein. Gleiches gilt für Politiker*innen und besonders für Influencer*innen. Sportmannschaften auf der ganzen Welt lassen sich dokumentarisch inszenieren, um ein scheinbar authentisches Bild von sich selbst zu präsentieren. Vergessen bleibt dabei, dass digital vermittelte Präsentation nie authentisch sein kann. Authentizität ist ein Begriff, der dieser Tage vor allem strategischer Natur ist. Authentizität wird als Teil einer Verkaufsstrategie für Beziehungen angeboten, wohlwissend, dass es sie in diesen Beziehungen eigentlich nicht geben kann. Es gibt keine authentischen Marken, es gibt keine authentischen Influencer*innen. Authentizität ist ein Zuschreibungsprozess, und ein solcher lässt sich wunderbar beeinflussen. Und genau das konterkariert den eigentlichen Anspruch an den Begriff.

Viele empfinden Selbstdarstellung als Gegenspieler von Authentizität. Selbstdarstellung wird ermöglicht durch Zeitvorsprung zwischen Planen und Handeln. Je mehr Möglichkeiten ich habe, über meine Selbstpräsentation nachzudenken, desto stärker kann ich sie verändern. Wenn auch das in der realen Welt ebenso gilt, ermöglicht digitale Interaktion einen deutlich größeren Zeitvorsprung. Wenn ich möchte, unternehme ich 2000 Selfie-Versuche, bis ich das Beste gefunden habe. Wenn ich möchte, überlege ich 30 Minuten lang, bis mir der lustigste Spruch einfällt. Durch das zeitliche Limit probiert BeReal, die Menschen genau hier in ihrer Selbstdarstellung zu begrenzen.

Nun sollte aber die Frage erlaubt sein, ob Menschen überhaupt in diesem Prozess begrenzt werden sollten. Interessant ist, dass unser heutiger Anspruch an Authentizität in digitaler Darstellung stark von den Wünschen abweicht, die wir ursprünglich an den digitalen Raum hatten. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Arbeiten Sherry Turkles, einer Soziologin des MIT. Sie setzte sich besonders in den frühen Jahren des Computers und der Digitalität mit den menschlichen Beziehungen zu diesen auseinander. In den 80er-Jahren forschte sie vor allem zu MUDs (Multi-User-Dungeons/ Multi-User-Domains), was wir heute am ehesten als MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) bezeichnen würden. Also Online-Rollenspiele, bei denen man mit anderen Menschen interagieren kann. In den von Turkle erforschten Anfängen stützte sich die Interaktion der Spieler vor allem auf Chat-Nachrichten.

In vielen Interviews stellte Turkle fest, dass die Spielenden schnell zu Meistern der eigenen Selbst-Präsentation und Selbst-Kreation wurden. Sie erklärte die Spielenden der MUDs zu Pionieren unserer digitalen Identitätsbildung. Man kann also sagen, wenn immer Influencer*innen überlegen, welcher Filter für das Foto des neu eingerichteten Wohnzimmers am meisten das Gefühl von Geborgenheit vermittelt, tun sie nichts anderes als MUD-Spielende, die sich ein neues digitales Kleidungsstück aussuchen.

Dabei ging es in diesem Abschnitt der digitalen Weltgeschichte nie wirklich um Authentizität. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeit, Identität digital zu kreieren, wurde als begrüßenswerte Alternative zum eintönigen bzw. beschränkten Alltag angesehen. Nicht umsonst wird der Computer bei Turkle auch als Second Self bezeichnet. Turkle hat viel über das Verhältnis von Online- zu Offline-Identitäten veröffentlicht, wobei sie stets betont, dass die Online-Identitäten selten eine vollständige Alternative zur Offline-Persönlichkeit darstellen. Menschen tendieren vielmehr dazu, bestimmte Aspekte des eigenen Selbst hervorzuheben. Turkle umschreibt diesen Aspekt mit dem Ausruf You are what you pretend to be und vielleicht sagt es ja wirklich viel mehr über uns aus, wenn wir uns zeigen, wie wir gesehen werden wollen, als eine möglichst reale Selbstdarstellung – egal ob als Avatar in MUDs oder mit Hilfe des perfekten Urlaubsfoto auf Instagram.

Jedoch ist die digitale Welt, bzw. die menschliche Wahrnehmung dieser, in den Hochzeiten der MUDs eine ganz andere gewesen als heutzutage. Digitale und reale Welt wurden als getrennte Räume wahrgenommen. Deshalb galt es als gesellschaftlich akzeptiert, in der digitalen Welt eine andere Identität zu verkörpern als sie in der realen Welt zu sein scheint. Das gilt für Online-Rollenspiele heute noch in ähnlicher Weise.

Unser Alltag ist mittlerweile jedoch durchgängig von Digitalität geprägt. Vor einem Bewerbungsgespräch, suchen Arbeitgeber nach Linkedin-Profilen, vor dem ersten Date die potentiellen Partner*innen nach Instagram-Auftritten. Durch soziale Medien ist eine Trennung von digitaler und realer Welt kaum mehr möglich. Auch Turkle beschrieb bereits die Verschmelzung beider Welten, die in Zukunft nur noch stärker werden wird. Genau deshalb ist Authentizität für uns so wichtig. Weil die digitale Welt kein Alternativraum, sondern primär eine Erweiterung unseres realen Lebens und Erlebens darstellt. Diese Verschmelzung nimmt viel vom utopischen Potential des Digitalen, sich selbst neu und erweitert erfinden zu können. Unser Anspruch an Authentizität gipfelt im Verlangen, auch digital als reale Person gelten zu müssen, z. B. durch eine immer wieder diskutierte Ausweispflicht im Internet. Vielleicht sollten wir dieser Verschmelzung entgegenwirken, vielleicht sollten wir uns etwas vom Identitätskreationspotential des Digitalen beibehalten.

Auch wenn BeReal gerade eine beruhigte Alternative zur übersteigerten Darstellung auf Konkurrenzmedien darbietet, bleibt die Frage, wie lange das Interesse am Gewöhnlichen wohl anhalten wird. Denn mal ganz ehrlich; Wer will wirkliche Authentizität? Wer will täglich sehen, wie alle nur ihrer Arbeit nachgehen, vor dem Laptop sitzen oder im Bett liegen? Authentizität ist oft leider langweilig. Ich plädiere also dafür: Don’t be real! And don’t be fake. Be what you pretend to be.

Foto von Christian bei Unsplash

Die Unfähigkeit zu bremsen – Über eine deutsche Obsession

von Mia Raben

Wir müssten längst ein Tempolimit auf allen Autobahnen haben, so wie der Rest der Welt. Nicht nur wegen der tausenden mehrfach traumatisierten Schwerstverletzten, nicht nur wegen des Klimas und der zusätzlichen Umwelt- und Lärmbelastung, sondern auch aus Gründen der Psychohygiene. In Deutschland regiert auf barbarisch maßlose Weise der Raser, der triebgesteuerte Autofetischist, der Anti-Rationalist – und das schon seit dem Dritten Reich. Unser Land rast auf dem Sonderweg durchs Universum.  Es gehört dringend auf die Couch.

Mein Großvater war Mineralölhändler und solang ich ihn kannte, liebte er schnelle, schicke Autos. Er rauchte Kette, seitdem er als Wehrmachtssoldat mit Anfang Zwanzig in der Nähe der ukrainischen Stadt Charkiw auf eine Miene gefahren war, wobei all seine Kameraden starben. Ich hatte schon früh ein unterbewusstes Gefühl dafür, dass diese drei Dinge – Krieg, Zigaretten, Autos – für ihn irgendwie miteinander zusammenhingen. Aber wie?

In den achtziger Jahren raste er mit 200 Sachen über die Autobahn, während seine zwei Enkelkinder, mein Bruder und ich, auf dem ledernen Rücksitz seines Jaguars saßen. Er „drückte auf die Tube“, und zog dabei genüsslich ein paar Ernte 23 durch. Ich erinnere mich noch an den Moment, bevor wir losfuhren. Der Zwölf-Zylinder-Motor lief schon, mein Vater beugte sich noch einmal durch das Fenster zu meinem Großvater. Er musste laut sprechen, damit man seine Stimme über das mächtige Motorengeräusch hinweg überhaupt hören konnte:

„Bitte, Papa“, flehte er, „ras nicht wieder so.“

Ras nicht so. Genau, mein Großvater war ein Raser.

Der Raser. Der Raser ist heute praktisch vollständig aus dem öffentlichen Straßenverkehr verbannt worden. Weltweit. Die große Mehrheit der Länder dieser Erde hat sich von den zahllosen Argumenten gegen das Rasen überzeugen lassen und ein Tempolimit auf ihren Autobahnen eingeführt. Was für eine vernünftige Welt, denkt man da, denn die Argumente für die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen sind tatsächlich klar und überzeugend. Im Grunde kann niemand, der bei gesundem Verstand ist, in Zweifel ziehen, dass ein Tempolimit auf allen Autobahnen eine sinnvolle Maßnahme für Verkehrssicherheit und gegen Klima-, Umwelt- und Lärmbelastung ist. Hier, der Vollständigkeit halber, noch einmal ein paar wichtige Argumente. Wer, wie die Mehrheit der Deutschen, längst überzeugt ist, kann die nun folgende Liste von Argumenten gern überspringen:

  • Gut dreiviertel der deutschen autobahnfahrenden Menschen fahren durchgehend langsamer als 130 Kilometer pro Stunde, auch auf den 70 Prozent der Autobahnstrecken, auf denen kein Tempolimit gilt. Nur ein bis vier Prozent der Autofahrer*innen fahren überhaupt jemals schneller als 160. Diese sehr kleine Gruppe von Rasern gefährdet also mit ihrem Verhalten die anderen 96-99 Prozent der autobahnfahrenden Bevölkerung.
  • Wer langsamer fährt, verbraucht weniger Brennstoff und die CO2 Emissionen sinken. Die Mobilitätswende ist beschlossene (!) Politik und verlangt, dass verkehrsbedingte Emissionen um 50 Prozent sinken. Bei Tempo 130 würde man zwei Millionen Tonnen CO2 einsparen, ungefähr so viel wie der gesamte innerdeutsche Flugverkehr.
  • Das Tempolimit ist eine Maßnahme, die praktisch nichts kostet, sie betrifft alle gleich und ist schnell umsetzbar. Gurtpflicht und Alkoholverbot galten anfangs auch als „Eingriff in die Freiheit“, und sind heute unumstritten.
  • 64 Prozent der Deutschen haben sich längst FÜR ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen von 130 Kilometern pro Stunde ausgesprochen.
  • Das Tempolimit bedeutet deutlich weniger Lärmbelastung für jene Hälfte der Deutschen, die innerhalb von fünf Kilometer Entfernung von einer Autobahn ohne Tempolimit leben. Bei Reduktion der Geschwindigkeit von nur 20 km/h hört es sich so an, als würde ein Drittel weniger Autos auf der Autobahn fahren, laut einer Studie des österreichischen Umweltbundesamt „Langsamer ist leiser.“
  • Es gäbe weniger Schwerverletzte, also auch weniger schwerverletzte Kinder mit Polytraumata, weniger Tote, und somit weniger tote Kinder durch schwere Verkehrsunfälle. In Deutschland „gönnen“ wir uns ein flächendeckendes 24/7-Versorgungssystem von über 600 Traumazentren mit Hubschraubern und Notfalleinsätzen für polytraumatische Schwerverletzte.
  • Der Stresspegel für Autobahnfahrer*innen, die häufig mit nörgelnden, weinenden oder gar schreienden Kleinkindern im Auto fahren, wäre ohne Raser auf der Autobahn deutlich geringer. Die Unfallgefahr würde weiter sinken.

Man könnte noch viel mehr Argumente anführen. Doch ein verstörend großer Teil der deutschen Bevölkerung wehrt sie voller Inbrunst ab. Unser Land führt kein flächendeckendes Tempolimit auf den Autobahnen ein. Stellt sich die Frage: Warum? Wie kommt es, dass ein angeblich aufgeklärtes Land wie Deutschland sich eine so krasse Irrationalität leistet? Das passt nicht zusammen, oder?

Erklärungen für irrationales Verhalten führen in Deutschland leider schnell zu Hitler. In seinem Buch „Deutschland als Autobahn“ stellt der Autor Conrad Kunze das gleiche fest: „Der Weg zur Frage, wo all die Begeisterung für das Auto herkommt, und warum es so stark in Staat, Nation und Alltag eingebunden ist, führt unweigerlich zu Hitler.“ Dort heißt es weiter: „Ein Grund für das Zurückbleiben Deutschlands hinter der Mobilitätswende in den Städten und Nationen ist der Fetisch um Auto und Autobahn.“

Meine Hoffnung ist nun: Wenn ich diesen „Fetisch um Auto und Autobahn“ etwas genauer unter die Lupe nehme, werde ich zwei Fragen besser verstehen: Warum verhält sich Deutschland so irrational? Warum raste mein Großvater, der uns lieb hatte, mit seinen Enkelkindern im halsbrecherischen Tempo über die Autobahn?

Hierzulande genießt der Raser den Schutz einer mächtigen Elite, die darin kein Problem sieht. Interessant sind auch dazu die Ausführungen von Kunze: 

„Und was sich in historischer Rückschau auch sehr deutlich zeigt, ist der temporär elitäre Charakter der Geschwindigkeit. Es war immer eine kleine Gruppe der Reichen und materiell Sorglosen, die Zugang zum jeweils nächstmöglichen Geschwindigkeitssprung hatten. Von den Superreichen öffnete sich der Kreis für die Reichen, die gehobene Mittelschicht und schließlich für die Masse der Arbeiter*innen. Der Vorsprung musste stets erneuert und überboten werden. (Die E-Autos von Tesla beschleunigen schneller als der stärkste Porsche und die Topmodelle fahren 400 km/h.)“

Von uns hoch geschätzte europäische Nachbarn fragen sich stirnrunzelnd, was da in Deutschland schon wieder los ist. Dieses fleißige, vernünftige Volk führt kein Tempolimit ein? Merkwürdig. Der Guardian schreibt, der Widerstand gegen das Tempolimit in Deutschland sei vergleichbar mit der Frage des Waffengesetzes in den USA. Auch hierzulande erscheint man ratlos. In einer Ausgabe des SPIEGEL vom August dieses Jahres, dessen Titel ein Grabgesteck mit dem Trauerspruch „Hier ruhen unsere Klimaziele“ zeigt, lese ich, das Auto werde „immer noch als heilige Kuh der Deutschen behandelt: kein Tempolimit, bloß nicht.“

Könnte es sein, dass die deutsche Weigerung, ein flächendeckendes Tempolimit auf Autobahnen einzuführen, ein Auswuchs des deutschen Sonderwegs ist? Der deutsche Sonderweg? Was war das nochmal? Ach ja, das ist die „problematische Tendenz in der deutschen Geschichte, die Macht über das Recht, das Militärische über das Zivile und die staatliche Exekutive über die parlamentarisch-demokratische Willensbildung des deutschen Volkes zu stellen“. Ich denke an die Macht der elitären Lobbymonster, an die Autoindustrie, an die Ignoranz der Regierenden gegenüber den Umfragen zur Einführung des Tempolimits, an die Vermutung, die auch Kunze in seinem Buch äußert, dass in der Figur des Rasers „Frauenfeindschaft und Maschinenliebe“ zum Ausdruck kommen. Nun, könnte man denken, die Deutschen und ihr Auto halt. Das war ja schon immer eine etwas seltsame, von besonderer Innigkeit geprägte Beziehung, oder nicht? Aber ist es nicht merkwürdig, wie zärtlich die Deutschen am Sonntag ihr Auto waschen, polieren und mit Wachs massieren? 

Vielleicht lässt sich der titelgebenden Theorie “Die Unfähigkeit zu bremsen” mit dem Standardwerk “Die Unfähigkeit zu trauern” näherkommen, mit dem die renommierten Psychoanalytiker*innen Alexander und Margarete Mitscherlich in den 1960er Jahren international Aufsehen erregten. Auch heute noch ist es für alle, die die deutsche Gegenwart begreifen und einordnen wollen, außerordentlich lohnend, diese historischen „Grundlagen kollektiven Verhaltens“ zu lesen. Sie machen den „in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus“ verständlich.

Ich würde sagen, die Theorie der Mitscherlichs lässt sich mit einigen meiner Gedanken zum Tempolimit verbinden.  Ich hoffe, dass dadurch verständlich wird, inwiefern die „Unfähigkeit zu trauern“ bis heute erkennbar ist, eben etwa in der „Unfähigkeit zu bremsen“, aber mit Sicherheit auch in weiteren Bereichen, in denen wir Deutschen auf seltsame Weise nicht vorankommen. Man denke an das deutsche Schulsystem und die darin so oft erkennbaren Überbleibsel der gnadenlosen, militaristischen Hierarchien. Oder man denke an die Unfähigkeit, patriarchalische Strukturen, etwa in der Familienpolitik, wirklich aufzubrechen. Je länger man darüber nachdenkt, wo immer noch Spuren aus längst vergangenen Zeiten nicht endlich weggewischt werden, desto mehr fällt einem auf, wie viel wir uns immer noch leisten, was längst geändert oder abgeschafft werden sollte. Nun aber zurück zu den Mitscherlichs, und dem Deutschen und seiner Unfähigkeit zu bremsen und zu trauern. 

Das deutsche Volk war während des Dritten Reichs größtenteils einverstanden mit den Ideen des Rassismus sowie mit der Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus. Sie war, ich leihe mir hier einmal Worte von Thomas Mann, Teil einer „deutsche(n) Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung“. Diese Massenbewegung führte die Deutschen in eine Quasi-Symbiose mit ihrem „Führer“ Adolf Hitler. Als der Krieg 1945 endgültig verloren war und die Gräueltaten der Shoa weltweit bekannt wurden, entstand ein psychologisches Problem für alle, die die Verbrechen Hitlers in irgendeiner Form mitgetragen hatten. Ein Kollektiv, das sich eben noch als „Volk der Auserwählten“ betrachtete und sich als „prädestiniert dafür“ hielt, „über andere zu herrschen“, verlor den Krieg in der „größten materiellen und moralischen Katastrophe unserer Geschichte“. Der Sturz des geliebten Führers, so die Mitscherlichs, „bedeutet darüber hinaus eine traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals, mit dem man so weitgehend identisch geworden war.“

In “Die Unfähigkeit zu trauern” wird nun die These aufgestellt, dass eine Beschäftigung mit diesem Widerspruch zwischen dem eigenen Gefühl des Auserwähltseins und der schmachvoll empfundenen Niederlage abgewehrt wird, um nicht das Gefühl “völligen Unwertes” aufkommen zu lassen. Damit einher geht auch eine Abwehr jeder Form der Trauer. Die Vergangenheit wird also kollektiv verleugnet. Diese Abwehr der „überwältigenden Schuldlast“ hat drei Formen: 1. Gefühlsstarre beim Anblick der Leichenberge und traumartiges Versinken der kollektiven Vergangenheit, 2. Identifikation mit den Siegermächten, 3. Manisches Ungeschehenmachen durch radikalen Wiederaufbau.

Die akute Verliebtheit in den Führer, die libidinöse Energie, die eben noch dem Führer (und der eigenen Auserwähltheit) gegolten hat, muss sich neu orientieren. Das Scheitern des Führers ist durch die Über-Identifikation ein Scheitern des eigenen Ichs. Die Abwehr der Trauer hat zwar den Ausbruch der Melancholie verhindert, aber nicht die Ich-Verarmung, die uns innerlich orientierungslos macht. Diese innere Orientierungslosigkeit bekämpften wir mit jenem emsigen Fleiß, der das sogenannte „Wirtschaftswunder“ ermöglicht. Das „Wirtschaftswunder“ festigt unsere „auf Selbstwertbestätigung erpichte Art zu lieben“. Wir konzentrieren „all unsere Energie vielmehr mit einem Neid und Bewunderung erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres industriellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung“.

Die Liebe des Volkes neu entflammen lässt jetzt –  und das ist jetzt meine These – das Symbol des Wirtschaftswunders schlechthin: das Auto. Die Objektlibido ist vom Führer zum Auto gewandert. Die Befriedigung unserer narzisstischen Libido erlaubt es uns, weiter „zu funktionieren“ und nicht in einer den Selbstwert zerstörenden Melancholie zu versinken. Man hat es „satt“ sich an die Vergangenheit erinnern zu lassen. Das Gedenken an die Shoah gleicht, nicht an allen, aber doch an auffällig vielen Stellen einer Inszenierung, die der Soziologe Michal Bodemann als „deutsches Gedächtnistheater“ bezeichnet hat.

Aber wenn wir nun an der „heiligen Kuh“ (Der Spiegel) Auto rütteln, woran rütteln wir dann in Wirklichkeit? Vielleicht an der Frage, warum das Auto wichtiger für uns ist, als die Tausenden unnötig schwerstverletzten jungen Menschen auf deutschen Autobahnen? Unser gesellschaftliches ICH scheint nicht in der Lage zu sein, sich in dieser Frage angemessen zu verhalten. Das ES (Raser-Trieb) gewinnt gegen das Über-ICH (es ist gesellschaftlich rücksichtslos zu rasen, also moralisch verwerflich), weil das ICH durch die Anstrengung der Verdrängung so geschwächt ist, geradezu leer. 

Die „Wiedergutwerdung“ der deutschen Gesellschaft kann nur über ein „fortgesetztes Nachdenken“ (Mitscherlichs) stattfinden, und über die Erweiterung der „Einfühlung in uns selbst“ und in die Opfer der eigenen aggressiven Triebdurchbrüche. Nur ein solches Nachdenken und Einfühlen könnte die „Fähigkeit zu trauern“ zurückgeben. Und damit auch die Fähigkeit zu bremsen. „Wenn unter Kultureignung letztlich Triebbeherrschung durch Einsicht verstanden wird, so ist gewiss, dass es sich dabei um eine potentielle Fähigkeit, nicht um eine im Konstitutionsplan des Menschen ungestört ausreifende „Anlage“ handelt.“

Wollen wir, eine sich selbst als kultiviert begreifende Gesellschaft, das vorhandene Potenzial ausnutzen? Sind wir das unserer Gesellschaft nicht schuldig? Warum setzen wir bei der Triebbeherrschung nicht an bei der Beherrschung der deutschen Autobahn?

L., die Tochter meiner Freundin, ist 23 Jahre alt, Studentin, und sagt, sie will keine Kinder. L. ist ein warmherziger, offener Familienmensch, hat einen großen Freundeskreis und liebt Gesellschaft. Zwischen zwei Konzerten auf dem Elbjazz Festival sitzen wir mit einer Weinschorle in der Sonne neben einem stillgelegten Hafenkran, von dem eine Diskokugel baumelt, und ich frage L., warum. Warum sie keine Kinder haben will. Sie sieht mich mit ihren klaren, wachen Augen an und sagt, das sei für sie keine persönliche Frage. Das sei eine gesellschaftliche Entscheidung. Sie wolle kein Kind in ein Land setzen, das sich den aktuellen Handlungsnotwendigkeiten komplett verweigert. Was sie denn als solche bezeichnen würde, frage ich sie. Es gibt tausende Beispiele, sagt sie, zum Beispiel das Tempolimit. „I mean, zu wenig Schilder?!“ Sie schlägt sich an die Stirn. „Die Welt geht fucking unter und wir haben keine fucking Schilder, um ein Tempolimit durchzusetzen?“ 

Es ist eine Tatsache, dass in Deutschland jährlich tausende, meist jüngere Menschen durch das Rasen schwerstverletzt werden, eine Anzahl, die durch eine leicht umsetzbare politische Maßnahme deutlich reduziert werden könnte. „Es gibt keinen rationalen Grund dafür, diesen verkehrspolitischen Weg weiter fortzusetzen.“ So lautet der letzte Satz aus dem Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Verkehrsausschuss, der wegen der Stimmen von Union, FDP, AFD und SPD scheiterte.

Für mich ist der Raser, auch wenn er ein guter Freund oder ein netter Familienvater sein mag, der Inbegriff der Rücksichtslosigkeit. Und so, wie die Nazis es geschafft haben, das „absolut Böse ästhetisch gut zu inszenieren“ (Conrad Kunze), schafft es auch die Raser-Lobby, sich als gut und wertvoll zu inszenieren. “Es wird immer Menschen geben, die ihr eigenes Auto besitzen wollen, denn ein Automobil ist ein sehr emotionales Gut”, sagt zum Beispiel Audi-Chef Rupert Stadler. Und der Verband der Automobilindustrie (VDA), zu deren Mitgliedern Shell und Esso zählen, verkündet in seiner Publikation “Fakten gegen ein generelles Tempolimit” im Brustton der Überzeugung, dass man auf Autobahnen “auch ohne Sicherheitsrisiko höhere Geschwindigkeiten fahren” könne. Ohne Sicherheitsrisiko?!

Unfallchirurg Dr. Christopher Spering (Universitätskrankenhaus Göttingen) ist Mitglied im Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) sowie im Vorstand des Ausschusses für Verkehrsmedizin. Er sagt: „Es geht nicht nur um die Verkehrsunfalltoten auf der Autobahn. Unser Fokus muss sich auf die Schwerverletzten verschieben. Mittlerweile weiß man sehr genau, wie langfristig die Lebensqualität der meistens recht jungen Menschen, die solche Schwerstunfälle erleben, eingeschränkt sein wird: für den Rest ihres Lebens. Im Jahr 2018 waren das auf deutschen Autobahnen 5.900 Schwerstverletzte. Menschen werden in Spezialkliniken geflogen, dort notoperiert und danach sehr lange Zeit behandelt. Danach kommen sie in eine nochmal sehr lange Rehabilitationsphase. Studien zeigen, dass gerade einmal 50 Prozent dieser Schwerstverletzten wieder arbeiten können.“ Spering betont, dass es tatsächlich einen riesigen Unterschied macht, ob man mit Tempo 130 einen Unfall baue oder mit Tempo 170. Das liege an der Physik:  Je schneller die Masse (das Auto) sich fortbewegt, desto verheerender sind die Folgen eines Zusammenpralls. Es ist weniger wichtig, ob ein LKW oder Auto dich trifft, wichtiger ist, mit welcher Geschwindigkeit der Aufprall geschieht. Die Folgen kann man in der Göttinger Klinik sehen.

Spering lädt jeden oder jede, der/die gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist, ein, mal bei ihm auf der Arbeit vorbeizuschauen: „Laufen Sie einfach mal einen Dienst lang mit mir mit. Wenn Sie dann noch gegen ein Tempolimit sind, zweifle ich an Ihrem Verstand.“

Und dann gibt es auch noch das weiche Argument, das für das Tempolimit spricht, das mir persönlich besonders wichtig ist: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der rückständige und ewig gestrige Machos die Verkehrspolitik dominieren. Man schämt sich einfach im Vergleich zu anderen Ländern. Ich möchte auch nicht das Gefühl haben, in einem Anachronismus zu leben. Da wir uns ja angeblich mitten in der Verkehrswende befinden, ist der Raser an sich zu einem Verstoß gegen die Zeitrechnung geworden. Wann wird die Verkehrspolitik sich endlich in den Strom der Zeit einfädeln? Wenigstens passt es da gut, wenn Christian Linder auf einem Fake-FDP-Plakat zum Thema 9-Euro-Ticket mit Marie Antoinette verglichen wird: „Kein Geld für ÖPNV? Sollen sie doch Porsche fahren.“ Ich hoffe auf baldige Revolution.

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Alchemie der Authenzität. Gebrauchsanweisung für ein barrierefreies kulturelles Gedächtnis

von Barbara Peveling

Der vergangene Sommer war sicherlich das internationale Reise-Comeback nach Corona. Die europäischen Länder erlebten eine rekordverdächtige Saison, während Flüsse und Seen durch den Klimawandel austrockneten, überschwemmten Touristen die südlichen Gegenden. In Griechenland ging der Massentourismus mit 16.000 Besucher*innen an der Akropolis pro Tag sogar als Rekord in die Geschichte ein. Die Schließungen während der Pandemie waren hier genutzt worden, um das Kulturerbe barrierefrei zu machen, außer einem Aufzug wurde auch der Zugang zu den Gebäuden des Denkmals betoniert. Viele Intellektuelle sahen in diesen Umbauten und Veränderungen einen Skandal. Müssen Denkmäler, Ensembles und Stätten des kulturellen Gedächtnisses wirklich allen Menschen barrierefrei zugänglich sein und werden diese damit automatisch Opfer der Demokratisierung von Wissen?

Die Weltbevölkerung wächst stetig und parallel dazu wachsen auch die Umweltprobleme. Eine Alternative, um Kulturstätten vor der Bedrohung von Massenbesuchen und Klimawandel dauerhaft zu schützen, sind diese nachzubauen, um die Originale zu erhalten oder, wenn diese aufgrund von Klimabedingungen nicht zugänglich sind, diese überhaupt sichtbar zu machen. In Frankreich wurde 2015 mit der Grotte Chauvet zum ersten Mal der Nachbau eines Kulturerbes eröffnet. Sieben Jahre später eröffnete in diesem Sommer mit dem Museum Cosquer in Marseille eine weitere und die mittlerweile dritte Replik einer prähistorischen Grotte. Diese Unterwassergrotte liegt eigentlich weit außen am Stadtrand von Marseille und am Anfang des Naturparks der Calanques.

Eine der Besonderheiten der Grotte Cosquer ist nicht nur, dass sie sich unterhalb des Meeresspiegels befindet, sondern auch, dass viele der Malereien, die ihre Wände zieren, Tiere zeigen, die heute in ganz anderen, kälteren Regionen leben, wie Bisons, Saigaantilopen, Seehunde und Pinguine. Die prähistorischen Darstellungen von Tieren wie Pinguinen sind der kunsthistorische Beweis, dass die Strände der Grotte in der Vergangenheit mit Eis bedeckt waren. Den in der Grotte vor 33 000 bis 20 000 Jahren wirkenden Künstler*innen ist es gelungen, eine der existentiellen Tragödien irdischen Lebens festzuhalten, und zwar die Auslöschung einer existierenden Biodiversität auf lange Dauer. Der große Pinguin, wie er auf den Kunstwerken der Grotte Cosquer zu sehen ist, existiert heute nicht mehr. Damals, vor 19.000 Jahren, als die Grotte von den Jäger*innen des Jungpaläolithikums benutzt wurde, war das Klima in Südeuropa deutlich kälter als heute. Die skandinavischen Länder und Kanada waren mit einer 3000 Meter hohen Eisschicht bedeckt und unbewohnbar. In Frankreich reichten die Gletscher von den Alpen bis zu den Pyrenäen. Die sogenannte Eiszeit kippte vor gut 10.000 Jahren in ein wechselndes und schließlich immer wärmeres Klima, dieser Klimawandel hält bis heute an und wurde durch den Einfluss der Menschen in den letzten zweihundert Jahren auf eine Weise potenziert, dass bald noch viel mehr Lebewesen von unserer Erde verschwinden werden.

Der Begriff Museum kommt aus dem Altgriechischen und bezeichnet ursprünglich ein Heiligtum, heute beschreibt er die Darstellung und Sichtbarmachung von Kulturgütern, moderne Tempel des kulturellen Gedächtnisses. In seinen Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel im Museum postulierte der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff die Beunruhigung, die durch einen Wahrnehmungsschock ausgelöst wird. Der Besucher soll in eine Wahrnehmungssituation gebracht werden, die seine vorherrschenden Betrachtungsmaßstäbe und Wertvorstellungen ins Schwanken bringt und somit Zugang zu neuen, unbekannten Horizonten des Wissens und der kulturellen Wahrnehmung bedeutet.

In Bezug auf die Nachbauten von historischen Kunstwerken stellt sich vor allem die Frage nach der Authentizität. Statt zwischen jahrtausendalten Steinwänden zu wandeln, stehen die Besucher*innen vor bemalten Styroporwänden. Und die Zeichnungen an den Wänden, sind nicht mit Kohle oder Steinen gemalt, sondern wurden durch 3-D Projektionen von modernen Künstler*innen reproduziert. Das Gefühl der Authentizität,  so Soziolog*innen, setzt vor allem durch die Bewegung des Besuchers im Raum ein, durch die aktive Aneignung des Ortes und weniger durch den Originalzustand der Objekte. Bei dem Besuch der Repliken stehen Besucher und Besucherinnen zwar nicht vor dem originalen Kunstwerk, aber haben doch die Möglichkeit, eine authentische Erfahrung, im Sinne von einer virtuellen Reise in das kulturelle Gedächtnis der Menschheitsgeschichte, zu unternehmen.

Im Gegensatz zu den beiden Originalen der anderen nachgebildeten Kunstwerke der Felsmalerei in Frankreich, der Chauvet– und der Lascaux-Grotte, ist die Grotte Cosquer aus Sicherheitsgründen kaum noch zugänglich. Die Künstler*innen, Architekt*innen, Wissenschaftler*innen und Handwerker*innen, die am Nachbau beteiligt waren, konnten also nicht auf die eigene Erfahrung der Betrachtung des Originals zurückgreifen. Die Replik der Höhle wurde von dem Unternehmen Déco Diffusion in Toulouse realisiert, das Team war auch bereits am Nachbau der Grotte Chauvet beteiligt. Die Künstler und Künstlerinnen mussten dabei immer wieder improvisieren. Es ist also auch Kunst in der Kunst, die Reproduktion schreibt sich in die Geschichte menschlicher Kreativität ein, die zwischen den beiden Darstellungen vergangene Zeit dehnt sich aus und die Frage nach Original und Fälschung wird in den Hintergrund gedrängt. „Plötzlich tauchte in der Nacht vor meinen Augen im Styropor die Mähne eines Löwen auf“, erzählt ein Mitarbeiter im Interview. Diesen Moment der künstlerischen Verbindung zwischen dem Original aus der Prähistorie und seiner Nachbildung in der Gegenwart beschreibt er als atemberaubend, damit wird auch deutlich, dass das, was unsere menschliche Existenz ausmacht nicht nur ein individuelles Genie ist, mit dem wir einzelne Künstler (hier bewusst männlich gesetzt) feiern, sondern ein kollektives Gedächtnis, das die gesamte Menschheit ohne Ausnahme von Geschlecht und Herkunft im Bewusstsein trägt und über Generationen weitergibt.

Die Malereien an den Felswänden wurden lange als bloße Darstellungen von schamanischen oder totemistischen Kulthandlungen und weniger als künstlerischer Ausdruck gewertet. Die Wissenschaft hat längst eingesehen, dass die frühe Kunst wichtiger Bestandteil der menschlichen Geschichte ist und damit als weitaus komplexer zu werten als es in früheren Denkansätzen der Fall war. Die Sicht auf das Fremde und Unbekannte unserer Kultur wird nicht mehr als barbarisch bezeichnet, so auch die Kunst aus der jüngeren Altsteinzeit. Dieses Wissen ist überdeckt von herkömmlichen kulturellen Stereotypen über „Höhlenmenschen“, die von ihren Instinkten geleitet, als wilde Horden, durch die damals noch teilweise vereiste Landschaft zogen. Das, was Gottfried Korff als Wahrnehmungsschock bezeichnet, gehört zur Demokratisierung von Wissen, indem genau solche Stereotypen und Vorurteile bei dem Museumsbesuch gebrochen werden. Die Alchimie der Authentizität ist nicht abhängig von dem Original, sondern von der Qualität des Erlebnisses des Ausstellungsortes.

Wer den Nachbau der Grotte Cosquer besuchen will, der muss zum alten Hafen von Marseille reisen. Hier steht die Villa de la Méditerranée, die 2013 eröffnet wurde, um Ausstellungen zu beherbergen, als Marseille europäische Kulturhauptstadt war. Dass sich der Nachbau der Höhle also einer vorgegebenen architektonischen Struktur anpassen musste, unterscheidet ihn von den anderen beiden Nachbauten von Höhlenkunst in Frankreich, genauso wie die Tatsache, dass diese Höhle eigentlich unter Wasser liegt. Und so begibt sich der Besucher auf die Reise unter Wasser. Tatsächlich ist das Gebäude der Villa ins Meer gebaut worden. Der Besucher betritt es über eine Brücke, neben dieser liegt auch das kleine Fischerboot vor Anker, mit dem Henri Cosquer und das von ihm zusammengestellte Team aus Hobbytauchern seines eigenen Verein 1991 hinaus zu den Felsen der Calanques fuhren, um die Höhle zu erforschen.

An dieser Stelle der Entdeckungsgeschichte der Grotte beginnt auch die Reise der Besucher*innen, denn diese befinden sich auf schwankendem Grund, ganz wie es Gottfried Korff in seinem Paradigmenwechsel formulierte. Mit einem Aufzug geht es hinunter in die Tiefe, denn die Grotte liegt etwa 37 Meter unter dem Meeresspiegel. Selbstverständlich reisen die Besucher*innen nicht tatsächlich in diese Meerestiefe, denn dann müssten noch aufwendigere Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, aber der Nachbau vermittelt die Vorstellung des Eintauchens in die Tiefe, der Besuch wurde so authentisch wie möglich konzipiert. Unten angekommen, dürfen die Besucher*innen in kleinen Wägelchen Platz nehmen.

Der Zugang ist barrierefrei, Menschen jeglichen Alters, unabhängig jeglicher körperlicher Einschränkungen ist der Besuch zugänglich. Mit einem Audioführer ausgestattet folgen die Besucher*innen den Parcours der Entdeckung von Henri Cosquer und seinem Team. Ein Höhepunkt des Besuches ist der Moment, als Henri seine Taschenlampe auf einen Stein ablegt und auf der Höhlenwand gegenüber wie durch Zufall, eine menschliche Hand auf der Steinwand entdeckt. Dieser Augenblick wird durch technische Affekte an den Wänden und auditive Untermalung im Audio-Guide beim Besuch der Höhle rekonstruiert, genauso wie die Entdeckung der drei Pinguine oder die auf alle Ewigkeit im Kalk gefangene Krabbe. Alle Darstellungen und Besonderheiten in der Originalgrotte haben nicht nur einen Platz in dem Nachbau, sondern werden hier auch in Szene gesetzt.

Bei dem Besuch werden also zwei Narrative parallel erzählt, zum einen die Entdeckung der Grotte selbst, zum anderen die Geschichte der menschlichen Existenz in der Region und Nutzung der Grotte über die Zeiten hinweg. Hinzu kommt noch der lange Weg von der Erforschung der Grotte bis zu ihrer Nachbildung. Die Historie wird zu einer unendlichen Geschichte, die sich selbst erzählt, die Kunst der Steinzeit erweitert die Kunst der Gegenwart, sie zieht sich wie der Faden der Ariadne selbst durch die Menschheitsgeschichte. Und mittendrin, in diesem kleinen Wägelchen, das jeweils sechs Menschen pro Besuch durch die Replik der Höhle kutschiert, sitzt schließlich der Besucher oder die Besucherin ganz allein für sich und hört und sieht und staunt. Der Zugang zu dem, was Gottfried Korff Wahrnehmungssituation nennt, ist nahezu vollständig barrierefrei. Weder Mobilität noch Sprache oder Schrift bilden eine Barriere beim Besuch, der Nachbau der Cosquer Grotte ist ein Beispiel für inklusiven Zugang zu kulturellem Wissen und stellt gleichzeitig seine Demokratisierung dar.

Der Zugang zu der Replik ist auch unabhängig von inkorporiertem kulturellen Kapital. Nach Pierre Bourdieu bedeutet verinnerlichtes kulturelles Kapital beispielsweise Lesekompetenz oder die Fähigkeit, sich komplexe Inhalte aufgrund von erlerntem Wissen zu erschließen. Mit Bildungsgebäuden wie die Grotte Cosquer und anderen Nachbauten, wird also kein etabliertes Bildungsbürgertum reproduziert. Es findet keine horizontale Wissensvermittlung statt, sondern eine vertikale, die, da barrierefrei, für breite Bevölkerungsmassen konstruiert ist. Große Massen an Besucher*innen stellen kein Problem dar, sondern, im Gegenteil, das Gebäude wurde für sie konstruiert. Vielleicht wäre  es für manche Menschen schöner, wenn ein Besuch mit dem Gefühl stattfindet, ein absolutes Privileg nur für sich allein zu erleben. Der Besuch wird spektakulärer, wenn sich mit der Betrachtung das Gefühl verbindet, zu dem Vertreter einer außerwählten Schicht zu gehören, Teil derer zu sein, die Zugang haben, zu diesem einen, so besonderen Erlebnis. Diesen Anspruch auf Exklusivität erfüllen Repliken bewusst nicht. Es ist stattdessen ihre Aufgabe die Demokratisierung von Wissen zu unterstützen und nicht die Reproduktion von Eliten. Denn auch das Gefühl, an einem sozial zugänglichen Ort zu sein, der niemanden ausschließt, kann als ein Privileg verstanden werden.

Auch dieses Versprechen hält die Replik der Grotte Cosquer. Das exklusive Erlebnis findet weniger in der körperlichen Anstrengung und Exklusivität der Beobachtung als in der geistigen und visuellen Wahrnehmung und damit im Kopf des Betrachters statt. Denn wenn man sich in der Dunkelheit der Ausstellungshalle, ausgestattet mit Kopfhörer, umgeben von der Stimme des Audioführer und des Lichts der Installationen befindet, ist man plötzlich allein mit der kreativen Darstellung aus Jahrtausenden und jenen Menschen aus der Vergangenheit, die für ihre Existenz nicht nur einen kreativen Ausdruck finden wollten, sondern diesen auch auf Dauer festzuhalten suchten. Und dass ihnen dies gelungen ist, davon zeugt der Besuch in der Replik. Es ist diese einmalige Verbindung zu dem kulturellen Gedächtnis menschlichen Daseins, die diesen Besuch zu einem einmaligen Erlebnis macht, selbst wenn wir uns als Menschen in einer Masse bewegen, so ist jeder Einzelne für sich doch einmalig, und um dieses Bewusstsein zu stärken, brauchen wir mehr barrierefreie Denkmäler. Im kulturellen Gedächtnis verankert bleibt die Geschichte der Menschheit in ihrer Einmaligkeit authentisch. Die Alchemie der Authentizität wird durch die Wahrnehmung, durch das Eintauchen in den Gegenstand der Betrachtung ausgelöst und dies einer möglichst breiten Bevölkerung barrierefrei zugänglich zu machen, ist auch Teil einer Demokratisierung von Wissen.

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Ist die Kunst im Eimer? – 50 Antworten gegen das Ende der Kunst

von Christina Dongowski

Der Titel deutet es bereits an: Kolja Reichert schlägt in seinem Buch Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst durchgehend einen amüsanten Konversationston an. Blickt man aber genauer hin, dann  treibt ihn ebenso konsequent die Befürchtung um, mit der Rolle, die Kunst bisher in der bürgerlichen Gesellschaft gespielt hat, könne es vorbei sein. Er fürchtet, dass selbst das Publikum, das immer noch zahlreich in die großen Museen und Ausstellungen strömt, die Kunst dort im Grunde “falsch” rezipiert: sie zum Beispiel nur als Unterhaltung konsumiert, als sozio-ökonomisches Distinktionsmerkmal einsetzt oder als Demonstrationsobjekt in Kulturkämpfen, in denen es nur richtig oder falsch gibt und niemand mehr Kunstwerke nach ästhetischen, kunstimmanenten Kriterien bewertet.

Eine Autorin mit weniger Zutrauen in den Eigenwert der Kunst und die Aura eines gelungenen Kunstwerks hätte aus dieser Diagnose vielleicht eine melancholische Klage über das Verschwinden der Kunst gemacht oder – beim heutigen Buchmarkt wahrscheinlicher – eine kulturkonservative Anklage des grassierenden Verlustes bürgerlicher Traditionen und klassischer Bildung. Kolja Reichert hat das Gegenteil davon geschrieben. Kann ich das auch? ist eine Hymne an Schönheit, an die Macht und Notwendigkeit von Kunst – und das als unterhaltsamer Ratgeber und Crashkurs für Menschen, die wissen wollen, was es mit Kunst tatsächlich Besonderes auf sich hat. 

Kunst als Spektakel des Kapitals

Das Buch beginnt mit seiner eigenen Urszene, die vor allem eine Szene gescheiterter Kunstvermittlung ist: Reichert beschreibt ausführlich, wie er im Februar 2020 in der Staatsgalerie Stuttgart als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion daran scheitert, den Zuhörenden zu erklären, warum das Kunstwerk Love is in the Bin (Die Liebe ist im Eimer) von Banksy, das zirka für ein Jahr in der Staatsgalerie zu sehen war, als Kunst tatsächlich belanglos ist, nichts mehr als ein Produkt aus dem Museumsshop, das sich in die Ausstellung verirrt hat. Seine Erklärungen, warum Love is in the Bin künstlerisch schlecht gedacht und langweilig gemacht sei, und damit ästhetisch unbefriedigende, schlechte Kunst, treffen bei seinen Zuhörer*innen kaum auf Resonanz. Die sind vor allem fasziniert von der Art, wie das Kunstwerk entstanden ist: Nachdem am 5. Oktober 2018 der Hammer des Auktionators von Sotheby’s gefallen war, hatte ein in den Goldrahmen eingebauter Schredder die Leinwand des eigentlich zum Kauf angebotenen Kunstwerks, Banksys berühmtes Balloon Girl, gut bis zur Hälfte eingezogen und in schmale Streifen geschnitten, die nun aus dem Rahmen heraushängen.

Das Stuttgarter Publikum ist davon beeindruckt, dass es ihnen die Leiterin der Staatsgalerie Christine Lange ermöglicht hat, die Sensation der Kunstwelt mit eigenen Augen sehen zu können. Die einmalige Chance, quasi live an einem großen Moment der Kunstgeschichte teilhaben zu können. So hat die Käuferin von Love is in the Bin, das Schredder-Auktionsbild bezeichnet und dafür rund 1,2 Millionen Euro bezahlt – um, das können die Zuhörer*innen im Februar 2020 natürlich noch nicht wissen, ihren halbgeschredderten kunsthistorischen Moment im Oktober 2021, wieder bei Sotheby’s für knapp 22 Mio. Euro an den nächsten Sammler zu verkaufen. (Das Bild und die Aktion sind hier gut beschrieben, ebenso wie hier im Video zu sehen.)

Kolja Reicherts Argument, hier werde die Kunst zu einem Spektakel des Reichtums degradiert und die Kunstbetrachter*innen vom aktiv ästhetisch wahrnehmenden und urteilenden Bürger zum Publikum dieses Spektakels, verfängt als Kritik bei genau diesem Publikum überhaupt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Zuschauerin kontert seine Kritik mit der Frage, ob den Kunst immer elitär sein müsse, und erhält dafür viel Beifall. Das wird quasi zum kunsthistorischen Moment Kolja Reicherts, in dem er begreift, dass Kunst als der besondere “Raum der Freiheit und der Menschlichkeit” massiv bedroht ist und eine bessere Verteidigung braucht als das, was er und seine Mitkombattant*innen auf dem Podium der Staatsgalerie zustande gebracht hatten. Das Buch mit den fünfzig Fragen im Titel, die tatsächlich auch alle gestellt und beantwortet werden, ist diese Verteidigung. Ob sie tatsächlich gelingt, muss wahrscheinlich jede Leserin für sich entscheiden – und die Antwort hängt wohl grundsätzlich davon ab, ob man die implizite Diagnose des Autors, das freie Reich der Kunst sei im Begriff zu fallen, überhaupt teilt. 

Keine Angst vor ästhetischen Grundsatzfragen

Aber auch wenn man der Überzeugung ist, dass das Bedürfnis Kunst zu schaffen eine wesentliche menschliche Eigenschaft ist und man sich über ihren Fortbestand keine Sorgen machen muss, liest man Reicherts amüsant und engagiert geschriebene Verteidigung der Kunst gegen ihre Verwandlung in ein ökonomisches und soziales Spektakel mit Gewinn. Denn Reichert stellt sich auch den grundsätzlichen Fragen, die von Teilen des Kunstbetriebs gern als irrelevant, banausisch oder als eine Art Majestätsbeleidigung abgetan werden: “Worum geht es in der Kunst?”, “Was wollen uns die Künstler sagen?”, “Handelt es sich bei Kunst um ehrliche Arbeit?“ Und die beiden im Kunstbetrieb am meisten gehassten Fragen: “Wozu ist Kunst gut?” und “Was ist Kunst?”

Reichert entschärft diese Grundsatzfragen nicht, indem er sie ironisiert oder als Vorwand für ein rhetorisches Feuerwerk nimmt, das die Fragenden vergessen lässt, was sie überhaupt gefragt haben. In seinen Antworten verzichtet er weitgehend auf kunstwissenschaftliche und philosophische Terminologie, – so fällt der Begriff “Kunstautonomie”, um deren Verteidigung es Reichert ja geht, nur wenige Male –, stattdessen orientiert er sich an einem sprachlichen Register, das man vielleicht am besten als Alltagssprache gebildeter Laien beschreiben kann. Diese Art über Kunst zu schreiben ist in der deutschsprachigen Kunstliteratur tatsächlich nicht allzu verbreitet. Eine Frage des Buches lautet nicht ohne Grund: „Warum sind Texte über Kunst so unverständlich?” In den besten Passagen des Buches zeigt Reichert, wie man ernsthaft und engagiert über Kunst schreiben kann, ohne dass bereits der Stil Leser*innen, die nicht in den entsprechenden Habitus sozialisiert wurden, nahelegt, dass Kunst für sie eigentlich kein Thema zu sein hat. 

Im “Tieferlegen” der Eintrittsschwelle in das Reich der Kunst leistet Reichert also einiges. Sein wichtigstes Werkzeug, neben der zugänglichen Sprache, ist dabei die ziemlich konsequente Trennung der Kunst von dem Betrieb, der sich seit dem 18. Jahrhundert um sie gebildet hat. Reichert führt die Leser*innen mit viel Insiderwissen durch die einzelnen Abteilungen des Betriebs: von der Chefetage über Marketing und Vertrieb bis hin zu Personalwesen und in die Produktionshallen. Dieser Blick hinter die Kulissen versetzt die Leser*innen in die Lage, nicht nur die Kulissenschieberei und die Scharlatanerien im Kunstbetrieb besser einschätzen zu können, sie bekommen auch die Mittel an die Hand, die eigenen Ressentiments kritisch zu reflektieren. Hoffnung und Ziel dabei: Die Menschen sollen lernen, wie wenig dieser in weiten Teilen tatsächlich sehr ärgerliche Betrieb mit dem zu tun hat, um das es eigentlich geht, die Kunst.

Reichert will die Kunst retten, indem er seinen Leser*innen ein Bewusstsein davon vermittelt, dass hinter diesem ganzen Bohei wirklich etwas ist, was die Mühe lohnt, bis dahin vorzudringen. Er stärkt die einzelne, individuelle Betrachter*in gegen die Zumutungen und Behauptungen des Kunstbetriebs. Wer jetzt fürchtet, Reichert sei nun doch beim Anything Goes der Staatsgalerie Stuttgart angekommen, Hauptsache hohe Besucherzahlen, kann sich entspannen: Das radikale Empowerment der Einzelnen gegenüber dem Kunstbetrieb und ein extrem starker Begriff von Kunst gehen hier zusammen. Kunst ist eben nicht einfach das, was vom Betrieb so genannt wird und gefällt, sondern Kunst ist das radikal Andere zu unserer Alltagserfahrung und zu der Art, wie wir normalerweise mit Objekten umgehen und wie wir Objekte machen. Oder wie Reichert es fast lyrisch selbst am Schluss seines Buches formuliert:

“Was ist Kunst?

Etwas radikal Fremdes

Etwas entwaffnend Vertrautes

Ein Maß, auf das nichts passt

Ein Portal in die Geschichte

Ein Portal in einen selbst

Ein Widerstand, an dem unsere Gewohnheiten abprallen

Ein Spreizeisen, das sich zwischen alle Gründe stemmt

Eine Ausnahme in der Welt, die es erlaubt, sie zu sehen

Die Laufmasche unserer Illusionen

Luft unter den Flügeln der Vorstellungskraft 

Die Frage,die jedes gelungene Kunstwerk aufwirft und die Antwort, die es gibt

Das Schwierigste” 

(S. 248)

Gemeinsam über Kunst sprechen lernen

Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt, ist bei Reichert eigentlich die Bedingung dafür, dass wirklich jede*r einen Zugang zur Kunst finden kann (eigentlich sogar muss). Kunst ist für jede*n die maximale Differenz zur Normalität, da unterscheidet sich eine Zerspanungsmechanikerin in nichts von einem Kunsthistoriker. Der Kunsthistoriker hat nur gelernt, wie man milieu-adäquat und wissenschaftlich darüber spricht. Ob er die Kunst am Kunstwerk tatsächlich wahrgenommen und erfahren hat, bleibt in gewisser Weise ein Geheimnis zwischen Kunst und Betrachter, – selbst wenn er so enthusiastisch und auf angenehme Art belehrend über Kunstwerke schreiben kann wie Reichert selbst.

Sich (wieder) eine gemeinsame Sprache für unsere Wahrnehmungsweisen von Kunst zu erarbeiten, ist dann auch das andere große Anliegen des Buches. Reichert wählt seine an der Alltagssprache orientierte Schreibweise nicht nur, weil er ein populäres Sachbuch schreibt. Im zunehmenden Verschwinden einer gemeinsamen Sprache, um über Kunstwerke zu reden und ihre Qualität zu beurteilen, beziehungsweise im völlig Beliebig-Werden des Sprechens über Kunst sieht Reichert nicht nur ein Symptom ihres Verschwindens, sondern dieser Mangel an Sprache gehört auch zu den Ursachen dieses Verschwindens. (Frage 31: Liegt die Kunst im Auge des Betrachters? Darauf antwortet Reichert mit einem klaren Nein. Die Kunst liegt im Kunstwerk.)

Wie angemessen über Kunst zu sprechen beziehungsweise zu schreiben sei, darum kreisen denn auch einige Fragen des Buches. Reicherts Antwort darauf ist im Grunde sehr klassisch: mit großer Genauigkeit entlang der eigenen Wahrnehmung des Kunstwerks. Ein Text über Kunst, der die Erfahrungen der Betrachter*in mit dem Kunstwerk nicht spiegelt, vielleicht auch weil es keine gab, ist kein guter Text über Kunst – ein Maßstab, den Reichert bei den Passagen zu konkreten Kunstwerken im Buch selbst ziemlich gut erfüllt. 

Aber auch Reichert entkommt den Problemen, die man sich immer einhandelt, wenn man abstrakt über die Kunst schreibt, nicht ganz: Im Buch kommt zu wenig Kunst zur Sprache. In seinem Wunsch, die Leser*innen gegen die Widerstände aus dem Kunstbetrieb als potenzielle souveräne Betrachter*innen zu bestärken und zu motivieren, arbeitet sich Reichert vielleicht doch zu ausführlich an diesem Kunstbetrieb und seinen Manierismen ab. Auch wenn die für viele Leser*innen sicherlich ein zentrales Faszinosum darstellen.

So haben die zwei überzeugendsten Argumente Reicherts, dass man Kunst nur in konkreten Kunstwerken erfahren kann, und dass man sich vielen unterschiedlichen Kunstwerken aussetzen muss, um eine kompetente Kunstbetrachterin zu werden, meines Erachtens zu wenig Einfluss auf den Aufbau des Buches. Anstelle der Antworten auf die Fragen, was Kunst von einem Auto unterscheidet und ob NFTs Kunst seien, hätte ich mir eine ausführlichere Auseinandersetzung mit konkreten Kunstwerken gewünscht, und vor allem mehr Arbeit daran, was das Spezifische eines Kunstwerkes gegenüber anderen ästhetischen durchgeformten Objekten ist. Mehr Platz für eine konkrete Schule des Sehens – dann wäre Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst der fast perfekte Wegweiser ins Reich der Kunst.

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Wahrheiten in der Schwebe – Zu Grace Paleys 100. Geburtstag

von Paul Jennerjahn

„Was für Erinnerungen könnt ihr jungen Leute von heute schon haben?“Es ist eine rhetorische Frage, die Jonathan Stubblefield Grace Paleys namenloser Ich-Erzählerin in Die schwebende Wahrheit stellt: „Ihr habt keinerlei Geschichtsbewusstsein; ihr habt keinen Sinn für Tragik. Was ist Elsass-Lothringen? Können Sie mir das sagen, meine Liebe? Vor welchen Problemen steht es bis heute? Das wisst ihr nicht. Nicht un-schuldig, sondern un-wissend.“ Die Ich-Erzählerin trifft Stubblefield eigentlich nur zu einem harmlosen Mittagessen, das ein Arbeitsvermittler arrangiert hat, möchte einen Job bei ihm. Stubblefield ist kein ungewöhnlicher Mann im Figurenensemble von Grace Paleys Werk. Männer, die es lieben, Frauen Vorträge zu halten, gehören dazu – und Menschen, in deren Lebens- und Familiengeschichten der Holocaust und zwei Weltkriege eingeschrieben sind wie in jene der Autorin, deren Eltern jüdische Einwanderer*innen waren.

Stubblefield sah einst den Angriff auf Pearl Harbor mit eigenen Augen. Er habe recht, sagt die Ich-Erzählerin, natürlich habe er das, antwortet Stubblefield und schließt an, wohl auf das Verhältnis von Moral und Wissen gemünzt: „Die Wahrheit pendelt sich irgendwo ein und bleibt in der Schwebe.“ Es gehört zu Grace Paleys Programm und zum Glutkern meiner Bewunderung für ihre Literatur, wie beiläufig und wie eingebettet in Alltäglichstes, in Banales bei dieser Autorin gewaltiger welt- und geschlechterpolitischer, philosophischer und geschichtlich-erinnerungskultureller Tiefgang erzählt wird. Auf Stubblefields schwergewichtigen Satz folgt die Frage Rodericks, des Vermittlers: „Kaffee?“

Aber es geht noch weiter. Vorbehaltlich ihrer schriftlichen Unterlagen sagt Stubblefield die Einstellung der Ich-Erzählerin zu. In ihren fingierten Lebenslauf schreibt der Jobvermittler anschließend auch eine vermeintliche Anstellung in der Redaktion des erfundenen Magazins „Heim und Herd“. „In Radio und Fernsehen ebenso wie mittels Annoncen in Männerpublikationen und auf Männerseiten in Zeitungen (Sport, Finanzen etc.) forderten wir die Männer auf, jeden Abend, wenn sie zur Tür hereinkamen, ihre Frauen zu fragen: ‚Was gibt´s zu essen?‘ Auf diese Weise hoben wir das Image von Frauen in der Küche allenthalben“, schließt die Jobbeschreibung. Die Ich-Erzählerin willigt ein und schickt den Lebenslauf an Stubblefield. Sie braucht den Job. Das Mansplaining des finanziell potenten Geschäftsmannes und misogyne Jobvermittlung in einem menschenfeindlichen Kapitalismus hier, die aufrichtigen, kompromisslos sich abgrenzenden Frauenfiguren dort: So einfach ist es bei Paley nie. Ihr Feminismus ist intersektional, denkt Klassismus und Rassismus mit, und ihre Politik ist eine literarische, uneindeutige, komplexe.

Mutter, Aktivistin, Lehrerin, nebenbei Schriftstellerin

Die schwebende Wahrheit ist eine fast schon untypische Erzählung für Paleys ersten Kurzprosa-Band The Little Disturbances of Man, der 1959 bei Doubleday erschien, als die New Yorker Autorin 37 Jahre alt war. Bis dahin hatte sie, während sie Studentin war, ihre Kinder großzog und als Lehrerin in sozialen Brennpunkten arbeitete, ausschließlich Gedichte geschrieben, aber kaum veröffentlicht. Kein Geringerer als W.H. Auden hatte an der New School for Social Research ihre Gedichte gelesen, sie zu ihrer eigenen Stimme ermutigt, und später war sie in Kontakt mit Norman Mailer. Nach ihrem Debüt begann Paley in den 1960er Jahren ihre akademische Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College, an dem sie über 20 Jahre lang Creative Writing unterrichtete.

Parallel engagierte sie sich immer ernsthafter politisch. Mit Nachbar*innen aus der West 11th Street, wo Paley über Jahre wohnte, gründete sie das Greenwich Village Peace Center, demonstrierte für das Recht auf Abtreibung und gegen den Vietnam-Krieg und atomare Aufrüstung. Mehrmals wurde die Schriftstellerin und Aktivistin verhaftet. Nachdem sie und andere 1978 ein Anti-Atomwaffen-Banner auf dem Rasen des Weißen Hauses angebracht hatten, wurde gegen Paley eine sechsmonatige Bewährungsstrafe verhängt. Das FBI führte 30 Jahre lang eine Akte über sie, listete Grace Paley als Kommunistin.

Immer war das Terrain politisch, auf das Reisen die Autorin führten: Nicaragua und El Salvador, gezeichnet von der US-Südamerikapolitik, China und Russland, die sozialistischen Vorzeigestaaten, Frankreich und Schweden, wo Paley mit anderen Vietnamkriegsgegner*innen auf einer Informationsreise Kriegsdienstverweigerer traf, Israel. Zuhause in den USA lebte die Schriftstellerin bald gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Bob Nichols in Thetford, Vermont. 1974, nach zahlreichen Veröffentlichungen in Literatur-Zeitschriften, erschien Paleys zweiter Erzählband Enormous Changes at the Last Minute, 1985 der dritte, Later the Same Day, erstmals bei Farrar, Straus & Giroux. Der kleine Verlag Granite Press veröffentlichte im selben Jahr endlich Grace Paleys ersten Gedichtband Leaning Forward, später erschienen Bände mit Vermischtem und Essays.

Ihr Debüt, The Little Disturbances of Man, versammelt Stories über junge Frauen und Mütter, über das Verhältnis von Kindern und Eltern. „Mütter ziehen Söhne groß, was oft ein politischer Akt ist“, sagte Paley über ihre Figuren in einem Gespräch mit der Autorin Cora Kaplan. Ihre Frauenfiguren sind Liebhaberinnen, Hausfrauen, Schülerinnen, Enkelinnen, Geschiedene und Patchwork-Mütter, die nach Strategien der Selbstermächtigung gegenüber problematischen Männern suchen. Schon in den Little Disturbances of Man geht es um jüdische Identitätspolitik wie in Die lauteste Stimme, wenn eingewanderte jüdische Eltern darüber streiten, ob ihre Kinder eine Rolle im Krippenspiel übernehmen sollten, oder in Zwei kurze, traurige Geschichten aus einem langen und glücklichen Leben, der ersten Story über Paleys Alter Ego Faith Darwin. Aber die Geschichten spielen weitestgehend in den privaten Kosmen, den eigenen vier Wänden, im Alltagsleben ganz gewöhnlicher Menschen, stärker als in Paleys späteren Büchern. Dennoch, oder gerade deshalb, antwortete die Autorin Mary Elsie Robertson und Peter Marchant 1982 in einem Interview: „Ich würde sagen, dass mein Interesse am Alltagsleben gewöhnlicher Menschen immens politisch ist.“

Plastische fragile Männer

Die erzählerisch stärksten Geschichten sind schon in diesem Band die personal in der dritten Person erzählten wie Der zartrosa Braten. Anna und Peter treffen einander im Park. Sie sind die geschiedenen Eltern von Judy, auf die Peter aufpassen soll, damit Anna Zeit zum Einrichten ihrer neuen Wohnung hat. Kurzerhand will Peter helfen, engagiert eine Freundin als Sitterin von Judy, und gemeinsam steigen die beiden in Annas Apartment hinauf. Peter staunt über die Wohnung, schwankt zwischen Komplimenten und Mansplaning, dann landen die beiden im Bett. Es ist diese Art von Sex: Peter „nahm sie ohne ein Wort direkt in Judys Zimmer auf Judys Bett. Nachdem er so die Besitzverhältnisse klargestellt hatte, belohnte er sie mit Küssen.“

Die Erzählinstanz kommentiert kaum, zeigt die Figuren schlagfertig und entlarvend in Dialogen, lässt die Dinge für sich sprechen und Leerstellen und Uneindeutigkeiten stehen. Es ist eine Geschichte über Male Fragility, über weibliches Verlangen und weibliche Selbstermächtigung. Peter, als er erfährt, dass er gerade Sex hatte mit Anna, die längst wieder mit einem Mann liiert ist, auf dessen Konto große Teile der bewunderten neuen Wohnung seiner Ex gehen: „Mein Gott, Anna! Dann war das ja ganz schrecklich!“ Parkett, Flügeltüren, Glaspaneele, Harteichenholz-Türen und Kronleuchter gehören zum Inventar des Apartments.

Aus solcher Gegenständlichkeit, solchen Details ihrer Wohnungen sind das Fleisch und Blut von Paleys Figuren. Sie werden dreidimensional, weil sie nicht einfach nur behauptet sind und nie Schablonen bleiben. Peter inszeniert sich als der joviale Gönner, nimmt sich scheinheilig, was er will, aber er zahlt Unterhalt und leistet Care-Arbeit, ist kein Arschloch, wie kaum eine Männerfigur in Paleys Geschichten. Man sieht ihn plastisch vor sich, wenn die Autorin ihn sagen lässt, sein Lebensstil sei „nicht mehr so egozentrisch und selbstsüchtig wie früher. Jetzt hat es eine richtig philosophische Grundlage.“ Seine proteinreiche Ernährung, viel Gemüse und Grapefruits, neuerdings viel Zeit an der frischen Luft, in der Sonne, und Nahrungsergänzung mit einer Vitaminmischung, die ihn „zwölf achtzig pro hundert Stück kostet“.

Auf der richtigen Seite stehen mit Fallstricken

Die Frauen in den Erzählungen aus Enormous Changes at the Last Minute, Paleys zweitem Buch, das wie das erste Sigrid Ruschmeier ins Deutsche übersetzte, sind älter geworden, manche ihrer Söhne und Töchter in der Pubertät, Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe. Man engagiert sich politisch, lebt ökologisch bewusst, streitet wie Dennis und Alexandra in der titelgebenden Erzählung Enormous Changes at the Last Minute in kompetitiven Affären darum, wer nachhaltiger lebt und wohnt. Man geht demonstrieren gegen den Vietnam-Krieg oder organisiert Mieter*innen-Streiks, und nach wie vor hockt man mit den jüngeren Kindern und der Nachbarschaft auf dem Spielplatz. Faith im Baum. In dieser längsten Erzählung des Bandes beobachtet Faith Darwin von einem Ahornast aus den Spielplatz, hört die Gespräche mit, mischt sich ein. Nicht nur Faith diskutiert mit, auch ihre Söhne Tonto und Richard, Anna und Judy, Mrs. Raftery und Dotty Wasserman aus Das Preisausschreiben, der ersten Erzählung, die Grace Paley nach Jahren der Gedichte schrieb, tauchen wieder auf in Faith im Baum, einer Art Figurenverzeichnis von Grace Paleys Werk, aber auch in anderen Texten dieses und des dritten Bandes.

Wie schon in The Little Disturbances of Man ist Faith die liberale, progressive alleinerziehende Mutter, die ihren Söhnen auf dem Spielplatz erklärt, dass sie trotz ihres Niedriglohnjobs längst aufs Land hätten ziehen können, dass sie aber „hier in dem grässlichen Slum“ geblieben sei, um nicht in einer Weißen Wohlstands-Parallelgesellschaft abzutauchen. Es folgen freche bis schlagfertige Kinder und heimlich Marihuana rauchende Elternratsvertreter, an die sich Faith und Kitty erinnern. Mrs. Junius Finn mahnt in den Gesprächen, vor allem an Faiths Adresse gerichtet: „Gebt den Reichen nicht für alles die Schuld“. Anschließend tönt ein kleiner Demonstrationszug durch den Park, in dem der Spielplatz liegt, Plakate mit napalmverbrannten Babys in die Höhe gereckt. Doug, der Quartierspolizist, den alle kennen, hat nichts Besseres zu tun, als die Demonstration für illegal zu erklären und aufzulösen, und niemand unter den Zuschauenden auf dem Spielplatz, die sich als politische Menschen begreifen, sich auf der richtigen Seite wähnen, echauffiert sich darüber ernsthaft.

Richard, Faiths Sohn, ist außer sich: „Warum haben sie sich nicht gegen den doofen Bullen gewehrt und Leck mich gesagt?“ Das Ende von Faith im Baum offenbart dann aber auch eine der seltenen Schwächen von Paleys Erzählen. Aus Protest malt Richard „mit flamingorosa Kreide auf das nächste Asphaltstück: Würden Sie ein Kind verbrennen? und darunter, ein wenig größer die Antwort in rot: Wenn´s sein muss.“ Ein Zitat der Plakate, die die Demonstrierenden in die Höhe hielten, anspielend auf Vietnam. Hier hätte die Erzählung enden müssen, mit der Anklage Richards, eines Kindes, die Reaktionen unter den Erwachsenen provozieren will, aber offen gelassen hätte. Faith, ihre Ich-Erzählerin, lässt Paley jedoch noch in einem kurzen behauptenden, nicht szenischen Absatz berichten, wie Richards Protest eine Kehrtwende in ihrem Leben markierte. So gerät das Ende zu stark auserzählt, zu geschlossen.

Teilnehmende Beobachterin

Nie war Grace Paley nur Schriftstellerin, immer begriff sie sich als teilnehmende Beobachterin, ging als Aktivistin oder Nachbarin ins Feld, und ihre Literatur wäre sicherlich eine andere, selbstreferenziellere geworden, wäre sie eine Schreibtischautorin gewesen. Man merkt es den Idiomen der Figuren an, aber auch dem Inhalt von Alexandras Gefrierfach oder den Möbeln in Annas Wohnung. Man merkt diesen Erzählungen eine Schriftstellerin an, die im engsten sozialen Radius mit größter Sehschärfe beobachtet, genau hinhört, die aber auch hinausgeht, demonstriert und reist, die eigenen Blasen, das eigene Milieu verlässt, und die sich so ein enormes Weltwissen aufschichtet, mit dem sie ihren Figuren Leben einhaucht.

Über die zweite Erzählung, die Paley schrieb, verriet sie Blanche Wiesen Cook, der Moderatorin von Jewish Women in America, der Anfang ihrer Arbeit an Goodbye and Good Luck sei deren erster Satz gewesen, den die Tante ihres Mannes fallen gelassen habe, als Paley einmal für sie kochte. Mit kinnlangem grauem Haar, im königsblauen Überzieher, darüber eine schwarze, mit Blumen bestickte Weste, tritt Paley in der Sendung nahbar und freundlich, aber bestimmt auf. Sie erzählt von ihrer Kindheit in der Bronx. Schon mit neun oder zehn Jahren sei ihr in der Straße, in der sie mit ihren aus der Ukraine emigrierten Eltern, der Großmutter und der Tante lebte, aufgefallen: „That people were out of work and hanging around, that men just didn´t know what to do with themselves.“ Bis in ihre späten Arbeiten hinein bleibt von Paley diese psychologisch-habituelle Beobachtungsgabe, die mich so inspiriert.

Die Gedichte

Die alltägliche Szenerie ist auch der Kern ihrer Lyrik, die Mirko Bonné ins Deutsche übertragen hat. Es sind dynamische, prozesshafte Gedichte über Bewegungen und das Werden. Lyrische Ichs, die spazieren gehen in Lower Manhattan, an der Battery, der Jane Street oder der Ninth Avenue. Kinder, die in der Subway-Station Clark Street in Brooklyn zu ihren Vätern sprechen. Redende Vögel, Spaziergänge durch die Natur, Busfahrten. Männer und Frauen, die ihre alternden Körper bemerken und die sich an die jüdischen Verwandten erinnern, die einst in die USA auswanderten.

Der Tonfall ist von einer schwebenden Leichtigkeit, spielt manchmal ins Mündlich-Kolloquiale der Prosa. Weil sich Paley einschreibt in die gegenständliche, visuelle Tradition US-amerikanischer Poesie ihres Jahrhunderts, ist ihre Lyrik zugänglich, aber mitnichten simpel. „wir sind wie jede / grün wachsende Maschinerie // fahren auf der tageslichtstrecke / ins dunkel“, so die beiden abschließenden Zweizeiler von Das leben ist so riskant. Ein Gedicht, dessen erster Vers auch sein Titel ist, beginnt so: „Da stieg die Zeit   die Meisterin im Fließen / selbst an“. Im Handumdrehen projizieren Metaphern von berückender Schönheit existenzielle Fragen in Sonntagsspaziergänge in und um New York oder Busfahrten über Land. Im Bus ist vielleicht Paleys größtes Gedicht. „Irgendwo zwischen Greenfield und Holyoke / wurde aus Schnee Regen / und ein Kind ging durch mich hindurch / wie einer sich durch Nebel schiebt“, heißt es zu Beginn dieser Verse, in denen ein lyrisches Ich im Bus sitzend das eigene Sein im Konjunktiv befragt. Könnte ich nicht auch ein anderes Leben leben? Könnte ich noch einmal von vorn beginnen? Fragen, eindringlich gestellt, in eine knappe, aber doch plastische Szene hineinkomponiert, die ich mir bei jedem Lesen dieses Gedichts wieder selbst stelle.

Paleys Lyrik ist unprätentiös, benötigt kein Zitat, keine Hermetik, und ihre Abgründe tun sich zwischen den Zeilen auf, im wahrsten Sinne des Wortes, wie Mirko Bonné im Nachwort zu seinen im Schöffling Verlag erschienenen Übertragungen schreibt: Den Gedankenstrichen Emily Dickinsons ähnlich strukturieren zu lang geratene Leerzeichen Paleys Gedichte. Als ich durch die Wälder ging endet so: „Ein heilloses Sich-Dehnen ins Licht / bloß um am Leben zu bleiben   doch wenn du / gern gelebt hast   dann machst du das so“. Die Rede ist von einem harmlosen Ahornwipfel, der sich zum Himmel emporstreckt, aber diese Leerstellen innerhalb des Verses, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, lassen mich in Paleys Gedichten immer wieder stocken. Augenblicke, in denen man innehält. Resonanzräume auf dem Papier, in denen die Schönheit der Bilder nachklingt, ihre Vieldeutigkeiten sich schwebend ausbreiten, das Nachdenken über das eigene Leben in Schwingung versetzen.

Kritische Repräsentation in Later the Same Day

Mit ihrem dritten und letzten rein erzählenden Band, Later the Same Day, den Mirko Bonné ebenfalls übersetzte, gelingt Paley 1985 noch einmal eine Neujustierung des Politischen ihrer Literatur, eine literarische Entwicklung. Die Kinder der Mütter in diesen Stories sind ausgezogen, die Eltern der Mütter schon lange im Altenheim, und die ersten Freundinnen sterben. Man unternimmt wie die Autorin Reisen nach China, in der Erzählung Woanders. Mit den Annehmlichkeiten ist es für die Reisegruppe um Faith schnell vorbei, denn Mister Wong, der Reiseleiter vor Ort, bezichtigt Freddy, ohne zu fragen einen chinesischen Bauern fotografiert zu haben. Drei Monate nach der Rückkehr ist ein Dia-Abend geplant, an dem man gemeinsam die Fotos der Reise studieren will, und Joe kommt zu spät. „Muss euch erzählen, was passiert ist, sagte er.“

Er sei durch die South Bronx spaziert, wo er sonst mit den Kids seines Film-Workshops unterwegs sei, und dann habe er plötzlich die perfekte Szenerie vor sich gehabt, von der noch Aufnahmen gefehlt hätten. Bei seinem Kameraschwenk seien aber nicht nur die oberen Stockwerke des Häuserblocks in die Aufnahme geraten, sondern auch eine „Gruppe von Typen auf einer der Vortreppen“, Latinos, wie sich dann herausgestellt habe. Einer von ihnen habe Joe gejagt, ihm die Kamera entrissen, sie später jedoch auf Geheiß von Paco, dem Anführer der Gruppe, zurückgegeben. Den Film habe Joe behalten, aber die Kamera den Jungs überlassen wollen. Mehrfach habe Paco abgelehnt. „Will ich nicht – bist du taub? No. No.“ Joe habe ihnen die Kamera dann in die Hand gedrückt. „Dann machte ich, dass ich wegkam.“ Als er den Freund*innen zu Ende erzählt hat, bittet Joe darum, aus seiner Geste der verschenkten Kamera „bloß nicht so ein großes marxistisches Ding“ zu machen.

Auch in Zagrowsky erzählt spielt Faith eine Hauptrolle, diesmal von außen skizziert vom pensionierten Apotheker und Ich-Erzähler Zagrowsky. Mit seinem Schwarzen Enkel Emanuel trifft der Weiße Zagrowsky auf dem Spielplatz auf Faith, die früher einmal Kundin seiner Apotheke war. Im Gespräch mit ihr erinnert er sich. Einmal brachte er Richard, Faiths Sohn, spät nachts Antibiotika, als der Säugling 40 Grad Fieber hatte. Einmal harrten Faith und ihre Freundinnen vor Zagrowskys Apotheke aus. „Sie stehen draußen und haben Schilder. Zagrowsky ist ein Rassist. Jahre nach Rosa Parks weigert sich Zagrowsky Schwarze zu bedienen. Es ist eingraviert, genau hier. Ich zeige ihr, wo mein Herz ist.“

Dann lässt der verletzte Zagrowsky durchblicken, dass Faiths Clique wohl nicht ganz unrecht hatte. Als ihr Gespräch auf Netti, seine zunehmend immobile Frau, kommt, erinnert Zagrowsky, wie sie neulich in der U-Bahn einen Schwarzen bat, ihr beim Aufstehen zu helfen. „Sagt er zu ihr: Dreihundert Jahre habt ihr mich unten gehalten, da bleiben Sie mal schön zehn Minuten unten sitzen. Netti, fragte ich sie, hast du ihm denn nicht gesagt, dass wir einen kleinen Jungen großziehen, der braun ist wie eine Kaffeebohne? Er hat aber doch recht, sagt Nettie, haben wir gemacht: Wir haben sie unten gehalten.

Wir? Wir? Meine beiden Schwestern und mein Vater, die wurden Hitler 1944 zum Abendessen gebraten, und du sagst wir?“

Beinahe fetischisierend wirkt dann, wie die woke Faith auf ihrer Frage insistiert, was es denn nun auf sich habe mit diesem Schwarzen Kind bei Zagrowsky. Am Schluss tauchen auf dem Spielplatz junge Eltern auf, ihre Babys auf die Rücken der Vorzeige-Väter geschnallt, und einer von ihnen geht auf Zagrowsky und Emanuel zu. „Als ob das eine ganz normale freundliche Frage wäre, fragt er, indem er auf Emanuel zeigt: Gottchen, was ein niedlicher Bengel – wem seiner ist der?“

Es ist eine beiläufige Dialektik, ein ständiges Aber gegenüber dem erwartbaren Urteil, es sind vorläufige Wahrheiten und Fragen, die Paley die Wahrheit feststellenden Hauptsätzen vorzieht, ohne je didaktisch zu werden. Wie kompliziert es in Wahrheit ist, gut zu sein, sich aus den eigenen Verstrickungen mit einer Gesellschaft zu lösen, deren Maßstäbe man ablehnt. Wie schnell sich Progressivsein, das Politische im Alltag in Widersprüche verwickelt.

Politik der Literatur

„Für mich“, bekannte Grace Paley Joann Gardner gegenüber, „besteht die eigentliche Funktion der Literatur darin, dass sie beleuchtet, was bis dahin nicht zu sehen war. Man hebt einen Stein auf, guckt darunter und entdeckt dort eine Welt für sich.“ Spätestens mit ihrem dritten Erzählband steht fest, wie unerschütterlich Paleys Glaube an eine Politik der Literatur ist. Zum einen lässt sie Faith, lässt sie selbst den mürrischen, uneinsichtigen Zagrowsky spüren: Wie gesprochen und dargestellt wird, prägt die Wahrnehmung der Welt fundamental, und die Welt ist immer eine wahrgenommene. Die Beschaffenheit der Repräsentationen, der Sprache und der Erzählungen, kann Wirklichkeit transformieren – das ist das literarisch Neue der späten, stärker poetologisch selbstreflexiven Grace Paley. „Geschichtlicher Fortschritt wird zum großen Teil durch Sprache bewirkt“, sagte sie zu Cora Kaplan. Zum anderen demonstriert auch Later the Same Day eindrucksvoll, wie differenziert diese Autorin im Kleinen, im Alltäglichen von der großen materiellen Politik erzählen kann.

Wahrscheinlich war es lange nicht so schwierig, politische Literatur zu schreiben wie heute. Die Aufmerksamkeitsökonomie des gesellschaftlichen Gesprächs begünstigt Eindeutigkeit, die man liken und skandalisieren kann. Die Diskurse sind polarisiert. Das Politische braucht mehr denn je Entschiedenheit, solange der spätmoderne Mensch unter Hochdruck an der Vernichtung seiner biophysikalischen und sozialen Lebensgrundlagen arbeitet.

Doch Entschiedenheit des Aufbegehrens allein, „das ist Stoff für ein Pamphlet, reicht aber nicht für einen Roman“, schrieb Baldwin in Everybody´s Protest Novel, dem ersten Essay aus seinen Notes of a Native Son. Das Literarische, das mehr sein will als Pamphlet, als Binaritäten und Zuspitzung, benötigt Uneindeutigkeit, Ambiguität, muss subtil sein, sonst bleibt es eindimensional. Dass sie Politik in einer so verstandenen Literatur erzählt hat, ist das Faszinosum Grace Paleys. Ihr Werk ist auch die literarisch aufspannbare und jedenfalls gegenwärtig völlig utopische Verheißung einer solidarischen politischen Linken, die sich nicht spalten lässt und die sich selbst nicht spaltet in identitätspolitische Kämpfe gegen die Gewalt der Repräsentationen und Zuschreibungen einerseits, den Widerstand gegen die materiellen Verhältnisse im spätmodernen Hyperkapitalismus andererseits.

Grace Paley ist eine große Autorin, weil sie das gewöhnliche Leben des Alltags befragt: Könnte die Welt in einem erkenntnistheoretischen Sinne wie im Sinne eines politisch-utopischen Möglichkeitsraums nicht ein wenig anders, komplexer, aber damit auch reicher sein als die, für die man sie – nicht zu unrecht – immer gehalten hat?

Am 11. Dezember 2022 wäre Grace Paley 100 Jahre alt geworden.

Prompt: New york in wintera certain sadnessthe shadow of a woman in a coat.

Eine anspruchslose Utopie – Wie Science Fiction scheitern kann

von Philip Kae Schwarz

Wer in einem Industrieland lebt und sich um den Zustand der Welt sorgt, wird das schlechte Gewissen beim Einkaufen kennen. Es ist schwer ein Pfund Rinderhack zu kaufen und nicht daran zu denken, dass die Herstellung Methan freisetzt, große Mengen Wasser verbraucht und unter Bedingungen geschieht, die für Tiere grausam sind. Avocados dagegen sind zwar vegetarisch, brauchen aber auch viel Wasser und werden aus Übersee importiert. In den einzelnen Zwischenschritten der Herstellung zahlreicher Gebrauchsgüter finden Menschenrechtsverletzungen statt. Es ist schlicht nicht möglich, ein Leben zu führen, das an den Standard eines Industrielandes im frühen 21. Jahrhundert angepasst ist, ohne Leid zu verursachen.

Aber was, wenn doch? Das ist die Prämisse, unter der Theresa Hannigs Roman “Pantopia” steht. Etwa hundert Jahre in der Zukunft werden die globalen Geld- und Warenströme durch die Künstliche Intelligenz Einbug gelenkt. Einbug ist nicht einfach ein komplexes Computerprogramm, sondern eine echte, “starke” Künstliche Intelligenz: ein Stück Code, das sich seiner selbst bewusst geworden ist und sich selbst Zwecke setzen und diese verfolgen kann. Einbug kann innerhalb kurzer Zeit gigantische Mengen an Information verarbeiten und verstehen. Diese Fähigkeit nutzt sieer um für sämtliche Waren und Dienstleistungen den sogenannten “Weltpreis” zu errechnen. Der Weltpreis berücksichtigt neben den Kosten für Material und Produktion auch die Kosten für die Wiederherstellung natürlicher Ressourcen, die für die Produktion verwendet werden, sowie das Geld, das benötigt wird, um weltweit allen Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen. Denn wer sich über den Lebensunterhalt keine Sorgen machen muss, muss keine menschenunwürdige, unsichere oder ausbeuterische Arbeit annehmen. So kann Einbug allen Menschen ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen garantieren.

Der Roman beginnt mit einer kurzen Beschreibung dieser Organisationsform, gegeben von Einbug selbst, um dann zu erzählen, wie es dazu kam. In einer nicht näher eingegrenzten, aber nicht sehr weit von heute entfernten Zukunft nehmen Patricia Jung und Henry Shevek an dem Wettbewerb einer Münchner Investment-Firma teil. Ihre Aufgabe: einen Trading-Algorithmus für den Aktienmarkt entwickeln, der erfolgreicher sein soll als von Menschen getätigte Geschäfte. Doch es kommt alles ganz anders und das Programm KINVI entwickelt ein autonomes Bewusstsein. Die auf diese Weise entstandene Wesenheit ist nach wie vor darauf programmiert, Profit zu maximieren. 

Weil der Faktor Mensch für die Analyse des Finanzmarktes entscheidend ist, verwendet sie mehr und mehr Ressourcen auf das Verständnis menschlicher Angelegenheiten und wertet von Social Media-Posts über Belletristik bis hin zur Philosophie sämtliche online verfügbaren Textquellen aus anstatt an der Börse Gewinn zu machen. Patricia und Henry, die den ausbleibenden Leistungen auf die Spur kommen wollen, vermuten, dass ein Bug im Code sein muss, und so gibt die KI sich den Namen Einbug, als sie mit den beiden in Kontakt tritt.

Die beiden erkennen, dass sie Einbug dem Zugriff der Firma und der staatlichen Behörden entziehen müssen und setzen sich auf eine griechische Ferieninsel ab. Weil Einbug nun nicht mehr den Profit aus Aktienhandel maximieren muss, kommt es zwischen ihm, Patricia und Henry zu einem Gespräch über seinen eigenen und den menschlichen Daseinszweck. Am Ende gelangt Einbug zu dem Schluss, dass sein neues oberstes Ziel die Fortexistenz sein soll, wozu die Fortexistenz der menschlichen Zivilisation erforderlich ist. Dazu wiederum sind weltweiter Frieden und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen erforderlich. Dies soll durch die Abschaffung der Nationalstaaten und die Errichtung der Weltrepublik Pantopia geschehen, in der alle Menschen als gleichberechtigte “Archen” in Freiheit leben können. Patricia und Henry willigen in die Umsetzung dieses Vorhabens ein, Henry sofort, Patricia nach einigem Zögern.

Das Versprechen von Pantopia lockt mehr und mehr Menschen auf die Mittelmeerinsel, gleichzeitig entstehen in allen größeren Städten auf der Welt Pantopia-Zentren, in denen weitere Menschen als Archen gewonnen werden. Sobald eine ausreichende Anzahl von Menschen Teil des Projekts geworden ist, wird es nicht mehr aufzuhalten sein. Während mehr und mehr Menschen Archen von Pantopia werden und damit Geld in die von Einbug gesteuerte Wirtschaft einbringen und so seinen Einfluss vergrößern, bereiten Patricia und Henry seinen Umzug in die Antarktis vor, denn nur dort ist er vor dem Zugriff durch die Staatsgewalt sicher. 

Henry macht sich auf den Weg zum Südpol, derweil kehrt Patricia nach München zurück, um der negativen Berichterstattung über Pantopia zu begegnen. Dort wird sie als Angehörige einer terroristischen Vereinigung verhaftet. Aber Pantopia ist inzwischen zu groß geworden. Weltweit versammeln sich die Archen in Städten und protestieren für die Freilassung ihrer Generalsekretärin. Bei der Verlegung in ein anderes Gefängnis wird Patricia dann von Angehörigen der Polizei befreit, die inzwischen selbst Archen geworden sind. Als Henry die Alfred-Neumayer-Station in der Antarktis erreicht und Einbug wieder hochfährt, schließt sich der Kreis zum Anfang. Pantopia wird Realität.

All dies erzählt Theresa Hannig auf spannende Weise, die das Buch zu einer kurzweiligen Lektüre macht. Die Handlung ist sorgfältig konstruiert und entfaltet sich mit genau der richtigen Geschwindigkeit. Die Figuren sind lebendig porträtiert, und ihre Wünsche, Ängste und Nöte laden zu Identifikation und Sympathie ein. Das imaginierte Zukunftsszenario greift aktuelle Entwicklungen auf und denkt diese weiter. Die ökologische Krise hat sich verschärft. Weltweit haben politisch rechte Bewegungen an Einfluss gewonnen. Wiederholt wird auf die in der Vergangenheit liegende Corona-Krise angespielt, die aber noch frisch im kollektiven Gedächtnis ist. Auf diese Weise fließen Gegenwart und Zukunft ineinander, und die im Buch geschilderte Welt gewinnt zusätzliche Realität. Alles in allem ist “Pantopia” ein gut geschriebener Science Fiction-Roman, in dem bekannte Elemente auf neue Weise verbunden werden. Ich habe ihn an einem Tag gelesen. Dennoch bleibt ein schales Gefühl und die Frage, ob das denn alles gewesen sein soll.

Um das zu verstehen, muss es kurz um ein anderes Buch und Henry Sheveks Namen gehen. Denn “Shevek” ist nicht nur der Nachname einer der beiden Hauptfiguren von “Pantopia”, es ist auch der Name der Hauptfigur des Romans “The Dispossessed” von Ursula K. LeGuin (der letztes Jahr unter dem Titel “Freie Geister” in Neuübersetzung erschienen ist). Damit macht “Pantopia” an prominenter Stelle einen sehr offensichtlichen Verweis auf “The Dispossessed”. Es handelt sich nicht einfach nur um eine versteckte Anspielung, die für Eingeweihte als Hommage an ein Vorbild erkennbar ist. Vielmehr ließe sich sagen, dass “Pantopia” sich hier ganz bewusst in eine Traditionslinie mit “The Dispossessed” stellt.   Wenn man “The Dispossessed” kennt und liebt , ist es also schwer “Pantopia” nicht daran zu messen. Und hier muss man leider sagen, dass “Pantopia” diesem Vergleich nicht gerecht wird.

Während “The Dispossessed” eine anarchistische Gesellschaft vorstellt, die Privateigentum und Herrschaftsstrukturen verbannt hat und in der Menschen in freiwillig gewählter Solidarität füreinander einstehen, wird in “Pantopia” keine radikal andere Welt imaginiert. Vielmehr besteht das Utopische darin den Konsumkapitalismus so zu organisieren, dass niemand ein schlechtes Gewissen haben muss. Überhaupt ist auffällig, dass von den drei zentralen Figuren, die auf die Verwirklichung von Pantopia hinarbeiten, zwei vom schlechten Gewissen getrieben werden und nicht von dem Wunsch nach einer besseren Welt für alle um ihrer selbst Willen. Es geht ihnen also letztlich um sich selbst, während in “The Dispossessed” die Gesellschaft so organisiert ist, dass es zwischen dem Interesse des Individuums und dem Interesse aller keinen Gegensatz mehr gibt. 

Patricia hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem ehemaligen Vorgesetzten Mikkel Seemann, den sie hinters Licht führen musste, um mit Einbug die Investment-Firma verlassen zu können. Sie hat ihre Entlassung provoziert, indem sie Einbug vor allem mit Anteilen an Rüstungsunternehmen handeln ließ und diese Information dann an die Presse weitergab. Dadurch ist das ganze Projekt in ein schlechtes Licht geraten. Seemann, der seine Hoffnungen auf Patricia und Henry gesetzt hat und außerdem durch eine aufkeimende Liebesbeziehung mit Patricia verbunden ist, ist wütend und verletzt. Sie will ihm unbedingt beweisen, dass dieses Täuschungsmanöver einem höheren Zweck diente. Auch plagt sie das schlechte Gewissen der Privilegierten, deren hoher Lebensstandard durch die Ausbeutung Schwächerer und zu Lasten der natürlichen Lebensgrundlagen garantiert wird, was sich vor allem in einer Szene zeigt, in der sie Zeugin eines rassistischen Übergriffs wird und nicht eingreift.

Tom Seemann, Mikkels Sohn, der als dritter Mensch von Einbugs Existenz erfährt und eine wichtige Hilfe für Patricia und Henry wird, ist ebenfalls vom schlechten Gewissen getrieben. Nach dem Tod seiner Mutter hat er das Studium abgebrochen und verkauft Drogen. Als die Mutter eines kleinen Kindes beinahe an einer Tablette stirbt, die er ihr verkauft hat, hält er die Schuldgefühle nicht mehr aus und wird eine Arche Pantopias. Er hofft auf Vergebung, wenn er an  der Entstehung der neuen Welt mitwirkt. Henry scheint der einzige zu sein, der wirklich von der Vorstellung einer besseren Welt  angetrieben wird. Bezeichnenderweise ist er als homosexueller Mann die einzige Figur, die ausdrücklich als marginalisiert dargestellt wird. Damit ist es aber auch in seinem Fall fraglich, inwieweit seine Motivation darin besteht, das Leben aller Menschen zu verbessern. Insoweit dieses Motiv fehlt, fehlt auch die Bereitschaft, den Boden des Selbstverständlichen zu verlassen und sich eine gänzlich andere Welt vorzustellen.

“The Dispossessed” trägt den Untertitel “Eine zwiespältige Utopie”. Die Geschichte wird auch dadurch vorangetrieben, dass Mitglieder der anarchistischen Gesellschaft die Sprache der Solidarität und vollkommenen Freiheit nutzen, um genau diese Prinzipien umzukehren und hierarchische Strukturen zu etablieren. Damit wird diese Utopie durch den Handlungsverlauf selbst relativiert. Dies verleiht dem Roman zusätzliche Tiefe und Komplexität. Ein solcher Kontrapunkt fehlt bei “Pantopia” völlig. Die Handlung steuert geradlinig auf die Verwirklichung von Pantopia zu. Zwar hat vor allem Patricia zwischenzeitlich Bedenken, dass mit Einbug etwas “skynetmäßig” schiefgehen könnte, aber diese Bedenken werden letztlich restlos ausgeräumt. Die in “Pantopia” vorgestellte Utopie wird durch die Handlung uneingeschränkt affirmiert.

Der Missbrauch der utopischen Prinzipien, der in “The Dispossessed” angesprochen wird, wird auch dadurch möglich, dass eine Gesellschaft, die so radikal auf die Vereinigung von Selbstbestimmung und Solidarität ausgerichtet ist, Arbeit erfordert. Die Menschen dort tun nur dann etwas, wenn sie davon überzeugt werden können, dass es das Richtige ist. Die Frage, was das Richtige ist, ist dabei aber niemals abschließend beantwortet, sondern wird immer mitverhandelt. Weil dies nun einmal anstrengend ist, ist es so verlockend das Denken anderen zu überlassen und die Entstehung hierarchischer Strukturen zu erlauben. Dahingegen erfordert Pantopia diese Arbeit nicht. Zwar wird an einer Stelle gesagt, dass die Archen zur Teilnahme an Abstimmungen über vorgeschlagene Regelungen verpflichtet sind, aber wir erfahren nichts darüber, welche Stellung diese Abstimmungen im Gesamtsystem von Pantopia einnehmen. 

In jedem Fall ist es Einbug, der über die Berechnung des Weltpreises und die entsprechende Leitung des Geldflusses die Rahmenbedingungen garantiert. Die Bedingungen der Existenz der Utopie hängen also nicht von menschlichen Bemühungen ab. Während “The Dispossessed” immer  wieder betont, dass die anarchistische Utopie mit Blut und Leid erkämpft werden musste, ist Einbug ein Deus ex Machina, der unvermittelt auf den Plan tritt und alle Probleme löst. Pantopia ist damit eine Utopie, die keine Ansprüche stellt, weder an die Archen noch an jene, die das Buch lesen. Wer gut geschriebenes Science-Fiction mit einer interessanten Prämisse, lebensechten Figuren und einer spannend entwickelten Handlung lesen möchte, wird an dem Buch in jedem Fall Freude haben. Eine Einladung, gänzlich andere Formen des menschlichen Lebens zu imaginieren, stellt es aber nicht dar.

Theresa Hannig: “Pantopia”, 462 Seiten. Fischer TOR, 2022, 16,99 Euro.

Prompt: An utopia created by a computer, very bright and shiny, also somewhat menacing. people are happy but tired. There are weird animals.

Ein Blick ins Nichts: Verschwörungsglaube in der Literatur

von Sebastian Galyga

Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.

Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun? 

Die Welt als Komplott

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1]  die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.

Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.

Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.

Die Welt als Roman

Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.

Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.

Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.

Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.

Die Leerstelle aushalten

Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.

In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.

Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.

Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.

Der Lohn der Freiheit

Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.

Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)

[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz

[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.

[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein. 

Beitragsbild von Manh LE

Ein bequemer Selbstbetrug – Über Marie Luise Knotts „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“

von Timothy John Brown, Eva Tanita Kraaz, Rita Maricocchi

Der Alltagsdiskurs und die mediale Öffentlichkeit der Bundesrepublik haben ein anhaltendes Problem: Sie übersehen die Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland und delegitimieren ihre Stimmen. Trotz der langen Geschichte des antikolonialen und antirassistischen Aktivismus von Schwarzen Menschen in Deutschland, wie May Ayim oder Katharina Oguntoye in den 1990ern und Natasha A. Kelly, Sharon Dodua Otoo oder Jasmina Kuhnke heutzutage, ändert sich dieser Missstand nur unter deren großer Anstrengung und schleppend. Statt ins eigene Land geht der weiße Blick nämlich meist in die USA. Jeanette Oholi will diesem Ungleichgewicht mit ihrer Forschung entgegenwirken, sie bringt das Problem auf den Punkt: „Allzu oft wandert der Blick in die Vereinigten Staaten, wenn es um Schwarze Identitäten, Rassismus, Polizeigewalt und Befreiungskämpfe geht.“ 

Die Gründe dafür, dass Schwarzsein in Deutschland weiterhin automatisch als vermeintlich fremd gelesen wird, sind vielfältig. Schon Oholis Formulierung suggeriert, dass es der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft willkommen ist, sich mit dem Rassismus der anderen zu beschäftigen, statt mit dem eigenen. Dieser bequeme Selbstbetrug ist kaum zu leugnen, hilft er doch auch, die koloniale Vergangenheit Deutschlands zu vertuschen. Der Zusammenhang steht darüber hinaus in einer verzwickten transatlantischen Tradition – die wenig beachtet wird. Es ist eine Geschichte, die um Schwarze US-amerikanische Intellektuelle wie W. E. B. Du Bois oder James Baldwin nicht herumkommt. Sie hatten das prä- bzw. post-nationalsozialistische deutschsprachige Europa im Kontrast zu den USA der Post-Slavery-Era als positiv in ihrem Umgang mit Schwarzen dargestellt: Eine Darstellung, die statt in ihrer strategischen Natur erkannt zu werden, gern als deutscher Ausweis für Antirassismus missverstanden wird – dazu schrieben zuletzt essayistisch Ellwood Wiggins und Gianna Zocco. Zu dieser historischen Verwicklung gehört auch die kulturelle Aneignung Schwarzer US-amerikanischer Kultur von Jazz über Soul bis Hip Hop, deren subversive Ursprungskontexte für weiße Deutsche wahlweise ganz profane Neuerungen der Unterhaltungskultur mit sich brachten, die Fetischisierung Schwarzer Körper bedeuteten und/oder klein- bis großbürgerlichen Jugendlichen zu Abgrenzungsstrategien gegenüber ihrem Elternhaus oder dessen Geschichte verhalfen – längere Studien haben dazu Priscilla Layne mit „White Rebels in Black” und Moritz Ege mit „Schwarz werden” publiziert. 

Zu dieser transatlantischen Geschichte gehören auch die Geflüchteten vor dem nationalsozialistischen Regime, jüdische Emigrant*innen in die USA, die sich, durch ihre eigenen Erfahrungen sensibilisiert, selbst mit Interventionen in das neue Land einbrachten. Eine dieser Exilant*innen ist Hannah Arendt: die transatlantische Denkerin gegen den Totalitarismus, die intellektuelle Ikone der Linken, die leider nicht als Poster Child für Antirassismus taugt. Der Grund dafür ist unter anderem ihr Essay „Reflections on Little Rock“ (1958), in dem sie sich zwar in einem nachträglich hinzugefügten Vorwort als Jüdin mit Schwarzen Interessen solidarisiert, im eigentlichen Text aber gegen die Desegregierung von US-amerikanischen Schulen ausspricht – und das sehr öffentlichkeitswirksam. Angesichts des Einsatzes der Nationalgarde zum Schutz der Schwarzen Schüler*innen hatten die Ereignisse um Little Rock nationale Aufmerksamkeit erlangt und tragen für die USA bis heute historisches Gewicht. Der Text ist beileibe kein Ausrutscher: Auch ihr imperialismuskritisch intendiertes Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951, dt. 1955) reproduziert passagenweise den kolonisatorischen Blick. Im zwanzig Jahre später erschienenen Essay „Macht und Gewalt“ polemisiert sie im Rahmen der Forderung für eine grundlegende Reform der Universität gegen Affirmative Actions zugunsten Schwarzer Studienanwärter*innen („Aufnahme unqualifizierter Studenten“) und gegen die Einrichtung von Seminaren aus dem Rahmen der Black Studies („blödsinnige[] Kurse“).

Diese Rassismen in Hannah Arendts Werk sollten eigentlich nicht unbekannt sein: Seit Kathryn T. Gines 2014 ihre Monografie zu dem Thema publizierte, gab es wiederholt Veröffentlichungen dazu. Mitunter wird die Debatte aufbereitet für eine breitere Öffentlichkeit geführt, etwa in einem langen Gespräch von René Aguigah mit Iris Därmann im Deutschlandfunk Kultur. Zu Gines’ Buch liegt allerdings bis heute keine deutsche Übersetzung vor. Es scheint, als sei Hannah Arendts Status als Säulenheilige kaum angetastet. Wie sähe aber eine zugleich wirksame und faire Annäherung aus?

Marie Luise Knott, die selbst vielfach und prominent zu Hannah Arendt publiziert hat, gibt ihren Leser*innen ein knappes Buch mit „17 Hinweisen“ zu diesem Komplex an die Hand (370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison). Ausgangspunkt ist die kritische Reaktion des Schwarzen Schriftstellers Ralph Waldo Ellison auf Arendts Little-Rock-Essay. Er äußerte sich dazu einige Jahre nach dessen Veröffentlichung 1965 in einem Interview. Hannah Arendt zeigte sich nach der Lektüre dieses Interviews einsichtig und schrieb einen Brief – und es folgte nichts. Es gibt keine Antwort bei Arendt, keinen Entwurf dazu in Ellisons Nachlass, nicht mal Lesespuren lassen sich in Arendts Exemplaren seiner Bücher ausmachen. Was auf den ersten Blick nach einer archivarischen Sackgasse aussieht, ist für Knott der Ort, um weitere Wege zu ertasten, die eigene Position zu justieren und Hannah Arendt geschichtlich versiert sowie unter Einbezug der problematischen Äußerungen neu zu platzieren – in einem angemessenen Ton.

Trotz der Ausgangslage ist Knott nämlich nie verbissen: Das lose Strukturprinzip der in sich runden Hinweise ermöglicht eine sensible Betrachtung einzelner Ereignisse, Figuren, Texte und ihrer Beziehungen zueinander. So wird ein Vergleich der Assimilationsversuche in die Mehrheitsgesellschaft als Thema in Ralph Ellisons Roman Der Unsichtbare und in Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen diskontinuierlich, teils elliptisch über mehrere Abschnitte hinweg erzählt. Mit derselben Leichtigkeit flicht Knott thesenhafte Sentenzen über die verschiedenen Materialien, Vorgänge und Institutionen ein: „Jedes Lesen ist ein Gespräch“, „Essays sind Exkursionen“, „Briefe wie Träume sind aufgeschobene Begegnungen“. Sie helfen dabei, entsprechende Rezeptionsmodi anzudeuten und sind zugleich ein charakteristisches Element für Knotts genuin essayistischen und zugleich erkenntnisfördernden Stil.

Knott rollt Wesentliches auf, indem sie nebensächlichen Details eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das passiert schon im Titel: 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. So lauteten die Adressen von Hannah Arendt und Ralph Ellison. Sie lebten „einen Zahlendreher entfernt“ und doch wohnte sie „im jüdischen Einwandererviertel der Upper Westside, er in der Gegend um Sugar Hill, dem ehemaligen Zentrum der Harlem-Renaissance“. Die Hervorhebung der Adressen deutet an, dass sich diese Gruppen scheinbar ähneln, nämlich durch den Fakt ihrer Marginalisierung, um zugleich klarzustellen, dass sie sehr unterschiedlichen Diskriminierungsformen ausgesetzt waren, nämlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus und dem Rassismus gegen Schwarze in den USA.

Knott skizziert somit das Grunddilemma, das Michael Rothberg mit dem Begriff multidirektionales Erinnern benannt hat und in das sie später auch Hannah Arendts zweifelhafte Intervention über Little Rock einbettet:

„Da Schwarze wie Juden jeweils verfolgte Minderheiten waren, trug die Parallele bis zu einem gewissen Grad; doch die Ausgangslage war eben doch grundverschieden. Hannah Arendt ließ außer Acht, dass man, das lehrt uns auch die derzeitige Auseinandersetzung über multidirektionales Erinnern, letztlich den Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA parallel, geschweige denn gleichsetzen konnte. Es gab Parallelen, doch die Juden in Europa hatten keine Sklavengeschichte. Und bei aller Diskriminierung, ja Verfolgung hatte schon die Generation von Arendts Großvater die Möglichkeit gehabt, zum Stadtverordneten gewählt zu werden. Und Arendt selbst hat nie um ihr Abitur bangen müssen, weil sie eine Jüdin war.“

Explizit rekurriert Knott zwar lediglich auf die angeheizte Debatte um das multidirektionale Erinnern in Deutschland, eigentlich steht aber ihr ganzes Buch Exempel dafür, wie produktiv und angemessen das Konzept sein kann, wenn es gewissenhaft zum Tragen kommt. Immerhin erzählt sie im Sinne des multidirektionalen Erinnerns unterschiedliche Unterdrückungsgeschichten in ihren Berührungspunkten. Sie komponiert an ihnen entlang eine ambivalente Erzählung, die vor allem der impliziten Zielgruppe, einem weißen, deutschsprachigen Publikum, wahrscheinlich kaum bekannt ist: Die der jüdisch-Schwarzen Solidaritäten und Fallstricke in den USA – und im selben Zuge die eben nur halbvertraute Geschichte von US-amerikanischem anti-Schwarzem Rassismus und Schwarzem Widerstand. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Chronologie, die Knott behauptet, wenn sie von Rassismus als einem „Produkt der Sklaverei” schreibt, das ein „gewalttätiges Konstrukt zur Aufrechterhaltung von white supremacy” sei, die Tatsachen stark verzerrt – auch zugunsten von Nationen, die nicht in die US-amerikanische Sklavereigeschichte verwickelt waren. Zudem wurde Martin Luther King Jr. natürlich nicht in Chicago, wie im vorliegenden Buch angegeben, sondern in Memphis erschossen. Diese Irrtümer tangieren kaum den Eindruck der ansonsten sorgsamen Auswahl von Schauplätzen, der sensiblen Darstellungen der Zusammenhänge und der kenntnisreichen Einbettung von Hannah Arendts eigener Gedanken sowie deren Entwicklung.

Da war zum Beispiel Barney Josephson, ein Sohn lettischer jüdischer Emigranten, der 1938 den ersten desegregierten Jazzclub in New York gründete. „Erschrocken“ habe er zuvor miterlebt, „wie den Schwarzen selbst im eigenen Viertel nur die hinteren Stehplätze des Zuschauerraumes zur Verfügung standen, obwohl ihre Leute auf der Bühne sangen.“ Knott erwähnt auch die Autorschaft von „Strange Fruit“, einem eindringlichen lyrischen Text über ein Lynching in den US-amerikanischen Südstaaten. Bekannt wurde er durch die Interpretation Billie Hollidays 1939, geschrieben hatte ihn Abel Meeropol, dessen Eltern aus Osteuropa in die USA emigriert waren. Diese Geschichten der Solidarisierung reichen weit bis in das Civil Rights Movement hinein. Sie scheinen im US-amerikanischen Kontext logisch, so erwähnt Knott: „Auch damals waren Juden, das vergisst man heute oft, in den USA immer wieder Hass und Diskriminierung ausgesetzt, wurden als orientals beschimpft.“

Zugleich wird ersichtlich, dass die vielzähligen Allianzen doch eine langwierige und nachhaltige Institutionalisierung vermissen ließen – zumal der prekäre Status von Jüd*innen in den USA insbesondere bis in die 1950er Jahre vergleichsweise schnell abnahm und ihnen viele weiße Privilegien zugestanden wurden. Der gemeinsame Kampf gegen Marginalisierung vereinzelte sich damit. Jüd*innen wurden Teil der Mehrheitsgesellschaft, aus der „niemand von höchster Stelle aus die Schwarzen und die Indigenen um Verzeihung bat“. „Niemand initiierte so etwas wie eine Aufarbeitungskommission“, weder der antirassistische gesellschaftliche Wandel, noch die gleichen Rechte für Schwarze seien effektiv durchgesetzt worden. So blieb die Distanz zwischen (jüdischen) Weißen und Schwarzen bestehen. Man „ahnt die Ferne zwischen den Kulturen und auch die Bemühungen vieler Weißer, diese Ferne zu erhalten. Auch Arendt war in dieser Hinsicht eine ‚Weiße‘, die sich schwarzen Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht zuwandte.“

Historische Texte und Texte aus anderen Kulturen stellen für Knott auch die Möglichkeit dar, „die Enge unserer eigenen Sprache, Metaphern, Begriffe zu transzendieren“. Der Little-Rock-Essay ermöglichte und ermöglicht Knott die Rolle der Privatsphäre für Hannah Arendt zu erkunden: „Folgt man für einen Moment der Argumentation aus ‚Little Rock‘, so fällt auf, in welch uns ungewohntem Maße Hannah Arendt dort die Privatsphäre verteidigt.“ Was hier greift, ist Hannah Arendts Aufteilung in die politische, gesellschaftliche und private Sphäre, wie sie sie ausführlich in Vita Activa (1958, dt. 1960) vornimmt. Diese bemerkenswert konsequente Trennung habe Knott schon in den 80er Jahren, als sie sich das erste Mal mit dem Essay beschäftigte, fasziniert – so sehr, dass sie sich gegen ihre damaligen Verlagskolleg*innen durchsetzte und eine Aufnahme des Texts in einen Essayband bewirkte – gegen die Einwürfe, dass Arendt das N*-Wort benutze[1] und gegen eigene Bedenken der politischen Implikationen: „Doch ich verteidigte die Publikation des Textes hartnäckig, da er mir Aspekte lieferte, die in unserem Weltbild nicht vorgesehen waren. Arendt verwirrte. Auch und gerade in ihrem Beharren auf dem Vorrang von Rechtsgarantien.“

Die neue Auseinandersetzung mit dem Essay steht in Zusammenhang mit dem aktuellen politischen Diskurs, der, wie eingangs angedeutet, eine ausgeprägte Sensibilisierung für Rassismus zunehmend einfordert, und er ist im Kontext zu betrachten mit einem umfangreichen Zugang zu historischen Erkenntnissen und Quellen. Marie Luise Knott nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen, um eine einflussreiche Denkerin behutsam zu hinterfragen. Zum Teil stolpert sie dabei über den eigenen Unwillen: „Man spürt hier, was man vielleicht nicht hören will.“ Wenn Hannah Arendt über Affirmative Actions als „Rassismus mit anderen Vorzeichen“ schreibt, kommentiert Knott verblüfft: „Diese Stelle hat es in sich.“ Und sie fragt sich zögerlich, aber unnachgiebig bis an die unangenehmsten Aussagen Arendts vor: „Was ist hier gemeint? Steht da wirklich, verkürzt gesagt, dass die Weißen die riots provozieren, indem sie sich kollektivschuldig bekennen?“

Was Marie Luise Knott vorlegt, ist eine umsichtige wie strenge, mit anderen Worten, eine faire Auseinandersetzung mit einer ganz offenbar von ihr bewunderten Denkerin. Gerade die unverhohlene Wertschätzung für Arendt verspricht zudem, wirksam zu sein: Die Erzählinstanz mit ihrer Bereitschaft, zu einer Rassismuskritik anzusetzen und sich den mitunter unbequemen Folgen zu stellen, bietet auch eingefleischten Arendt-Fans Identifikationspotenzial. Dieser Blick in die USA tut der eingangs beschriebenen Dynamik der selbstgerechten Ablenkungsmanöver sicher keinen unmittelbaren Abbruch. Die Form der Aufarbeitung ist jedoch hilfreich, um die transatlantisch verstrickte Geschichte von Rassismen sichtbar zu machen, die Knott zudem im Wissen um die Fallstricke und Möglichkeiten des multidirektionalen Erinnerns erzählt. Die Veröffentlichung sensibilisiert dafür, dass Querbezüge zwischen marginalisierten Gruppen und in verschiedenen historischen Kontexten heikel sind, sodass selbst gut gemeinte Solidaritätsbekundungen oft – auch bei großen Denkerinnen – ziemlich ungelenk ausfallen. Zurecht wurden Autorin und Buch zuletzt mit dem Tractatus-Preis geehrt.


[1] Als interessanten Nebenschauplatz wollen wir darauf verweisen, dass das englische Original tatsächlich das Wort “Negro” benutzt. Die Verlagsdiskussion hat sich also offenbar auch aufgrund der deutschsprachigen Übersetzung von Eike Geisel verschärft. Zur Übersetzbarkeit der N-Wörter empfehlen wir dieses Gespräch zwischen der Juristin, Kabarettistin und Kolumnistin Michaela Dudley und der Übersetzerin Mirjam Nuenning.

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Rückkehr der Rom-Com – Ein Genre wird erneuert

von Isabella Caldart

Denkt man an die große Zeit der Rom-Coms, fallen einem vor allem zwei Namen ein: Julia Roberts und Meg Ryan, die in den neunziger Jahren Garantinnen für Filmhits waren. „Harry und Sally“ (gut, der ist von 1989), „Schlaflos in Seattle“ und „E-Mail für dich“, „Pretty Woman“, „Die Hochzeit meines besten Freundes“ und „Notting Hill“ sind Klassiker. Die frühen Nullerjahre sahen noch einige Rom-Coms vor allem mit Katherine Heigl, Reese Witherspoon und Kate Hudson in den Hauptrollen – und dann waren Rom-Coms tot. Zwanzig Jahre lang tat sich in diesem Bereich so gut wie gar nichts, bis das Genre dieses Jahr wiederbelebt wurde. Und siehe da: Man versucht, mit der Zeit zu gehen. Viele neue Rom-Coms sind erstaunlich divers und queer.

Rückgang und Weichenstellung

Dass es dieses Loch von zwanzig Jahren gab, hat primär zwei Ursachen. Zum einen gab es eine grundlegende strukturelle Änderung im Filmbusiness: Vor allem bedingt durch den Boom von Superhelden-Franchises, Prequels/Sequels und Blogbustern werden Filmen mit mittlerem Budget von etwa 10 bis 70 Millionen US-Dollar kaum noch produziert. Die Krux ist, dass sie viel teurer sind als Arthouse-Filme, aber anders als Franchises wie „Star Wars“ oder das MCU nicht automatisch Erfolg bedeuten. 1997 kostete laut der New York Times ein durchschnittlicher Hollywoodfilm 60 Millionen, während allein „Avengers: Endgame“ ein geschätztes Budget von rund 400 Millionen US-Dollar hatte. Der zweite wichtige Faktor ist die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Filme, in denen weiße, heterosexuelle Menschen eine klassische, monogame Beziehung eingehen, wirken aus der Zeit gefallen. Nicht selten sind zudem die Machtdynamiken und die Art, wie der Mann um die Frau „wirbt“, äußerst problematisch (man denke nur an „Pretty Woman“).

Trotzdem war die Sehnsucht nach Rom-Coms beim Publikum erstaunlich groß; immer wieder gingen Tweets viral, in denen danach gerufen wurde. Und sie wurden erhört: Rom-Coms sind nicht nur zurück, politische Diskurse wurden auch mitgedacht und aufgegriffen – mit unterschiedlichem Können und Erfolg allerdings. Im Folgenden soll es um Filme gehen, die im Jahr 2022 veröffentlicht wurden. Aber zunächst ein paar honorable mentions: Die Highschool-Komödie „Love, Simon“ (2018) hatte einen schwulen Protagonisten und spielte bei einem Budget von 17 Millionen US-Dollar weltweit gut 66 Millionen ein. Ein noch viel größerer Erfolg war die charmante Rom-Com „Crazy Rich Asians“ (2018), der erste Hollywoodfilm seit 25 Jahren, dessen Cast nur aus Asian-Americans beziehungsweise Asiat*innen bestand. Er wurde von einem Großteil der Kritiker*innen hochgelobt und war mit einem weltweiten Einspielergebnis von knapp 239 Millionen US-Dollar auch ein Kassenschlager. Die Weichen für moderne, diversere Rom-Coms waren also gestellt.

„Crush“, „Fire Island“, „Anything’s Possible” und „Ticket ins Paradies”

„Crush“, eine romantische Coming-of-Age-Komödie erzählt von Paige (Rowan Blanchard), die seit sie denken kann in Gabby Campos (Isabella Ferreira) verliebt ist, eins der beliebtesten Mädchen an ihrer Schule. Dann freundet sie sich mit Gabbys Zwillingsschwester AJ (Auliʻi Cravalho) an, die sich wiederum in Paige verknallt. Und Paige steht plötzlich zwischen zwei Schwestern. Das ist ein dramaturgisch sehr klassisches Szenario, das sich vor allem in Highschool-Serien und -Filmen finden lässt: Die Hauptfigur, die sich zwischen zwei Geschwistern oder besten Freund*innen entscheiden muss. Lesbischsein und Coming-Out stellen in dem Film keine Hürde dar, sondern werden als gegeben hingenommen. Die Dramatik rührt allein daher, dass Paige sich in zwei Schwestern verliebt. Das Schöne an „Crush“ ist, dass die Schwestern deswegen nicht zu erbitterten Feindinnen werden. Der Film ist zwar nicht in jeder Hinsicht perfekt, aber er ist trotzdem eine gelungene Highschool-Rom-Com mit überzeugenden Schauspielerinnen, die gute Laune macht.

Ebenfalls an einer Highschool spielt der Film „Anything’s Possible“, das Regiedebüt von Billy Porter. Mit Eva Reign hat der Film eine Schwarze trans Protagonistin. Reign spielt YouTuberin Kelsa, die sich in ihren Mitschüler Khal (Abubakr Ali) verliebt. Der Film hat einige herzerwärmenden Szenen, ist insgesamt aber eher holprig. Das liegt unter anderem daran, dass Reign und Ali ihre Figuren zwar überzeugend spielen, im Zusammenspiel aber leider keine Chemie entwickeln. Dass die beiden sehr schnell ein Paar werden, ist einerseits zwar eine schöne Geste – damit wird insinuiert, dass es für Khal kein Problem darstellt, dass Kelsa trans ist. Andererseits ist das für eine Rom-Com natürlich schwierig, weil den Zuschauer*innen keine Zeit gelassen wird, mitzufiebern. Außerdem verhalten sich sowohl Khals als auch Kelsas Freund*innen aus unterschiedlichen Gründen mehr als fragwürdig, was bis zum Ende des Films nicht wirklich gelöst wird. Positiv zu vermerken ist, dass obwohl Kelsas Gender für Khal kein Thema ist, der Film trotzdem nicht so tut, als sei das gesellschaftlich irrelevant. Insgesamt ist „Anything’s Possible“ ein mittelprächtiger Film, der einige sehr gute Ansätze hat, in der Umsetzung aber unausgereift wirkt.

„Fire Island“ ist eine sehenswerte Rom-Com um eine Gruppe schwuler Männer in ihren Dreißigern. Der Film, eine lose Adaption von Jane Austens „Stolz und Vorurteil“, erzählt von Noah (Joel Kim Booster) und seinen Freunden, die jedes Jahr Sommerurlaub auf Fire Island in der Nähe von New York City machen, seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel für Schwule. Es ist ihre letzte gemeinsame Woche, da das Haus verkauft wird. Nach einigen Verwirrungen, Herzschmerzen und Partys endet der Film damit, dass nicht nur Noah mit Neubekanntschaft Will (Conrad Ricamora) zusammenkommt, sondern auch die guten Freunde Howie (Bowen Yang) und Charlie (James Scully). Während das Ende etwas klischeehaft ist, macht der Film doch sehr viel sehr richtig. Nicht nur ist der Plot gut ausgearbeitet und nuanciert, der Cast ist auch „racially“ divers, und es werden genuine Freundschaften zwischen (schwulen) Männern gezeigt. Sex in Dark Rooms wird ebenso wie  Fragen um Polyamorie thematisiert. „Fire Island“ ist ein Film voller Herz und Humor, und auch das typische Rom-Com-Ende kann man ihm positiv auslegen: Zu oft sterben queere Figuren in Filmen und Serien (siehe die „Bury Your Gays“-Trope) oder haben mindestens traumatische Erlebnisse, und deswegen ist es schön, die Rom-Com so harmonisch enden zu lassen.

Der Erfolg von „Ticket ins Paradies“, der weltweit rund 160 Millionen US-Dollar einspielte, zeigt zwei Dinge: Zum einen gibt es definitiv ein Publikum für Rom-Coms, und zum anderen sind Julia Roberts und George Clooney nach wie vor Hitgaranten. Im Film geht es um ein seit vielen Jahren geschiedenes Ehepaar, das sich jetzt zusammenraufen muss, um die Tochter davon abzuhalten, ihren Urlaubsflirt zu heiraten und auf Bali zu bleiben. Abgesehen von den erwartbar cringey US-Amerikaner*innen-benehmen-sich-im-Ausland-daneben-Szenen (wobei man nach dem „Sex And The City 2“-Fiasko in Hollywood dazugelernt hat), ist „Ticket ins Paradies“ eine solide witzige romantische Komödie, die man durchaus anschauen kann. Der Grund, weswegen „Ticket ins Paradies“ in diesem Text auftaucht, ist das Alter der beiden Protagonist*innen. Roberts und Clooney sind in ihren Fünfzigern, was für Rom-Coms unüblich ist. Zugleich zeigt die Wahl, mit Roberts und Clooney zwei Stars zu casten, die in den neunziger Jahren vor allem für ihre Herz-Rollen bekannt waren, dass es dem Rom-Com-Genre offensichtlich so sehr an Nachwuchs mangelt, dass auf „alte“ Stars zurückgegriffen werden muss.

„Bros“: Hoffnung und Flop

Die große Hoffnung und zugleich große Enttäuschung dieses Jahr war „Bros“. „Bros“ ist die erste queere Rom-Com mit Kino-Release, und entsprechend waren die Erwartungen im Vorfeld hoch. Der Film ist allerdings komplett gefloppt: Weltweit hat er bei einem Budget von 22 Millionen keine 15 Millionen US-Dollar eingespielt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber erst einmal zum Plot. In der Hauptrolle spielt Comedian Billy Eichner (der auch Co-Autor des Films ist) Bobby Lieber, einen Podcast-Host, der einen Job im Kuratorenteam für das erste National LGBTQ+ History Museum annimmt. In einem Club lernt der neurotische Bobby den attraktiven Aaron (Luke Macfarlane) kennen, der – wie Bobby auch – nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung ist. Aber wie es die Rom-Com-Gesetze wollen: Am Ende, nach sehr vielen Ups und Downs, kommen Bobby und Aaron doch zusammen.

„Bros“ hat größtenteils positive Kritiken bekommen, Rotten Tomatoes verzeichnet einen Beliebtheitswert von 88 %. Die wenigen Zuschauer*innen, die den Film kennen, bewerten ihn durchwachsener: Die „Verified Audience“ bei Rotten Tomatoes gibt dem Film zwar eine Zustimmung von 90 %, schaut man sich aber „All Audience“ an, fällt diese auf nur 60 %, ein Wert, der dem von IMDb mit 6,4 von 10 Punkten sehr viel näherkommt. Das Problem ist dennoch nicht die Rezeption des Films – sondern dass ihn kaum jemand gesehen hat. Ein Grund dafür ist die eben erwähnte Erwartungshaltung, die es im Vorfeld gab.

Der Fokus des Marketings lag weniger auf dem Inhalt des Films als auf dessen kultureller Bedeutung, nach dem Motto: Wenn der Film floppt, wird es nie wieder eine queere Rom-Com im Kino geben. Nachdem der Film direkt bei seinem Eröffnungswochenende enttäuschte, schimpfte Billy Eichner auf Twitter über die vermeintliche Homofeindlichkeit, wegen der die Leute fernblieben – und übersah dabei, dass auch queere Zuschauer*innen nicht ins Kino rannten. „Straight people, especially in certain parts of the country, just didn’t show up for Bros”, schrieb er in inzwischen gelöschten Tweets. „Everyone who ISN’T a homophobic weirdo should go see BROS tonight!” Bereits vor der Filmpremiere hatte er Ende September getweetet: „IF YOU’RE NOT A HOMOPHOBIC PIECE OF SHIT, GO SEE BROS!!!” Auch wenn es sich dabei um einen Scherz im Sinne von Eichners intensiver Persona handeln mag – „Bros“ zu schauen wurde damit politisch stark aufgeladen, statt den Kinobesuch als angenehme, lustige Freizeitaktivität zu verbuchen, wie es sein sollte.

Ein weiterer Grund für den Flop wird sein, dass „Bros“ am 30. September in die Kinos kam, und in den USA gilt der Oktober, der Halloween-Monat, als „Spooky Season“, in der vor allem Horrorfilme geschaut werden. Dass „Bros“ außerdem ein R-Rating bekam, also für Zuschauer*innen unter 17 Jahren als ungeeignet gilt, und keine bekannten Schauspieler*innen hat, half ebenfalls nicht. Auch wenn Billy Eichner vor allem denjenigen, die viel online sind, inzwischen ein Begriff ist, hat er nicht annähernd eine vergleichbare Starpower wie andere Schauspieler*innen, die sonst Kinofilme headlinen. „The Lost City“ unterdessen, ein Film, der etwas großzügig betrachtet eine Rom-Com ist, spielte im Frühjahr dieses Jahres mehr als 190 Millionen US-Dollar ein. In den Hauptrollen: Sandra Bullock und Channing Tatum.

Auch inhaltlich ist „Bros“ ist sehr viel holpriger im Vergleich zu etwa „Fire Island“. Der Versuch, via des queeren Museums im Film nicht-queere Zuschauer*innen über queere Geschichte aufzuklären, ist teils platt geraten. Und während Themen wie Polyamorie eine relevante Rolle spielen, wandelt sich gerade Anti-Beziehungs-Mensch Aaron im Laufe des Filmes so sehr, dass er in der letzten Szene Bobby sogar (im Spaß) hinterherrennt, um über potentielle Kinder zu reden. Das größte Problem ist aber, dass Billy Eichner zu sehr im Fokus des Films steht. Seine latent laute Art funktioniert in den Kurzclips von „Billy on the Streets“, in denen er Passant*innen anhält und ihnen schnelle Fragen stellt, wird auf knapp zwei Stunden aber zunehmend anstrengend. Man muss dem Artikel in der Los Angeles Times recht geben, dessen Überschrift lautet: „It’s OK to let gay art bomb“.

Was erwarten wir von Rom-Coms?

Das Ende von „Bros“ wirft eine größere Frage auf: Was erwarten wir eigentlich von Rom-Coms? Das Muster, nach dem diese Filme aufgebaut sind, ist immer sehr ähnlich – so schematisch, dass es sogar einen Eintrag in Merriam-Webster gibt: „a light, comic movie or other work whose plot focuses on the development of a romantic relationship.“ Das Narrativ einer Rom-Com ist per definitionem also um das Konzept Monogamie herum erzählt, die Hürden stellen zumeist Eifersucht beziehungsweise Liebes-Missverständnisse dar und führen zum Ziel, am Ende eine (Zweier-)Beziehung einzugehen. Natürlich gibt es viele queere monogame Beziehungen, das soll hier gar nicht infrage gestellt werden; einer sehr traditionellen Beziehungsvorstellung bleibt man in diesen Filmen trotzdem treu. Auch wenn „Bros“ und „Fire Island“ dadurch, dass polyamoröse Verhältnisse diskutiert werden, zumindest versuchen, diese Konventionen aufzubrechen, bleiben sie ihnen mit ihren finalen Szenen trotzdem treu. (Im Fall von Noah und Will steht zumindest die Möglichkeit einer polyamorösen/offenen Beziehung im Raum.) Die Filme sind nicht heterosexuell, aber oft noch in heteronormativen Strukturen. Wobei „Bros“ dem mit der Erwähnung der Kinderfrage natürlich noch das Weiße-Gartenzaun-i-Tüpfelchen aufsetzt.

Die romantischen Komödien, die dieses Jahr veröffentlicht wurden, zeigen, dass es durchaus die Bereitschaft gibt, die starren Strukturen dieses Genres aufzubrechen und ihm neue Geschichten, Nuancen, Hürden und Perspektiven zu verleihen. Es bleibt aber eine Zwickmühle ohne Ausweg. Denn gerade für das unvermeidliche Happy End gibt es keine gute Lösung. Eine wäre vielleicht, dass die Hauptfigur mit den Freund*innen und der Wahlfamilie glücklich ist, nicht mit einer Partner*in. Doch ist eine Rom-Com, die nicht darauf abzielt, dass die beiden Protagonist*innen am Ende zusammenkommen, überhaupt noch eine Rom-Com? „Bros“ ist zwar gefloppt, aber queere und diverse Rom-Coms sind trotzdem gekommen, um zu bleiben. Wir dürfen gespannt sein, was sich Drehbuchautor*innen in Zukunft noch ausdenken werden.

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„The Bear“: Eine verschwitzte Ode an die Gastronomie

von Leonard Schulz

Wenn man die aktuellen Produktionen der Serienlandschaft als Spiegel dessen betrachtet, was die Gesellschaft beschäftigt, dann zeigt die Arthouse-Serie „The Bear: King of Kitchen“, dass sich die Kulinarik als popkulturelles Trope auf einem neuen Höhepunkt befindet. Und dass sich ihre Darstellung gewandelt hat: Es geht nun nicht mehr bloß um die maximale Ästhetik von minimalistisch designten Gasträumen und aufwendig dekorierten Gerichten, sondern auch um die Arbeit dahinter: Blood, Sweat and Tears im Eifer des Küchengefechts.

Doch erstmal von vorne: die FX-Produktion „The Bear“ sorgte bereits vor Erscheinen für Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt an dem perfekt sitzenden weißen T-Shirt des Hauptdarstellers Jeremy Allen White lag (sogar der Guardian berichtete über das Shirt der schwäbischen Textilmanufaktur Merz b. Schwanen). Als die Serie dann im Sommer in den USA herauskam, erhielt sie überdurchschnittlich gute Kritiken. Die Food-Szene Europas musste sich bis zum 5. Oktober gedulden, dann gab es auch hier durchweg positive Kritiken. Auf Rotten Tomatoes erreicht „The Bear“ sogar eine Bewertung von 100%.

Die Serie dreht sich um das Chicagoer Lokal „The Original Beef of Chicagoland“, das vor allem für seine italienisch angehauchten Sandwiches mit lange gegartem Rindfleisch bekannt ist. Es ist ein Nachbarschafts-Restaurant, das über die Jahre zwar einen gewissen Kultstatus erlangt hat, doch eigentlich nicht dem Niveau des jungen Sternekochs Carmy Berzatto (Jeremy Allen White) entspricht. Der ist hier nur Chefkoch, weil sein Bruder ihm das „Beef“ vermacht hat, bevor er zwei Monate vor dem Einsetzen der Erzählung Selbstmord begangen hat. Im Verlauf der acht rund dreißigminütigen Folgen geht es auf sensible Weise um den Umgang mit der Trauer, der Leere und die emotionale Starre, die der Suizid Michael „Mikey“ Berzattos in Carmy und den Angestellten des „Beef“ ausgelöst hat.

Seinen eigenen kulinarischen Anspruch muss Carmy zunächst erstmal runterschrauben, denn er will keines der bestehenden Crew-Mitglieder feuern und den Charakter des „Beef“ so gut wie möglich erhalten. Bald stolpert Sidney (Ayo Edibiri) ins „Beef“ und sucht eine Anstellung. Sie kommt ebenfalls aus dem Fine-Dining und wittert die Chance, an der Seite von Carmy Verantwortung als Sous-Chefin zu übernehmen. Doch im „Beef“ läuft es anders ab als in den Sterneküchen. Hier geht es um das reine Überleben: Lieferant:innen-Rechnungen bezahlen, (wortwörtliche) Brände löschen, sich mit Kleinkriminellen aus dem Block auseinandersetzen.

Zu allem Übel kommt noch hinzu, dass Carmys verstorbener Bruder einen Berg an Schulden bei einem Investor, der ein Bekannter der Familie ist, angehäuft hat, den es nun abzuzahlen gilt. Dazu muss Carmy auch mal mit dem besten Freund seines Bruders Richard (Ebon Moss-Bachrach), genannt Cousin, auf der Geburtstagsfeier des Investor-Sohnes Hot Dogs servieren. Mit Richard führt er eine Art Hassliebe, er war der Defacto-Manager des „Beef“ und steht, wie auch der Rest des Teams, Carmys Fine-Dining-Chichi skeptisch gegenüber.

Gemeinsam mit Sidney versucht Carmy Struktur in das Lokal zu bringen. Eine der eindrücklichsten Maßnahmen ist das Gebot des permanenten verbalen Kommunizierens: jede Frage muss jede:r Arbeiter:in mit einem lauten „Yes, Chef“ beantworten, bevor man mit etwas Schwerem oder Heißem um die Ecke geht, muss man laut „Corner!“ rufen (was natürlich nicht immer reibungslos klappt). Die klare Hierarchie der Küche mag auf den ersten Blick rigide und überholt wirken, doch sobald der Service beginnt, versteht man, weshalb es klare Zuständigkeiten braucht. Im Ausnahmezustand des laufenden Restaurantbetriebs muss jeder Arbeitsschritt perfekt sitzen. Vielleicht kein Film oder keine Serie hat bisher diese angespannte Atmosphäre so detailgetreu abgebildet.

„The Bear“ funktioniert als eine Art Kammerspiel, das sich fast ausschließlich auf den knapp bemessenen Quadratmetern der Küche abspielt. Die Kamera ist extrem nah am Geschehen. Das wirkt manchmal fast übertrieben, doch es fängt die Enge und die hitzige Atmosphäre einer Profi-Küche ein, als ob man eine sehr fein beobachtete Doku schauen würde. Bisweilen lösen die extrem elegant durchchoreographierten Kamerasequenzen sogar ein regelrechtes Gefühl der Beklemmung aus: Wann wird sich wohl jemand schneiden oder verbrennen, wann platzt Sidney der Kragen? Eine solche Intensität ist selten zu sehen, sie erinnert an das Safdie-Brothers-Meisterwerk Uncut Gems. Der Rolling Stone titelte: ”‘The Bear’ Is the Most Stressful Thing on TV Right Now. It’s also great“.

Episode 7 namens “The Review” treibt dieses Spiel auf die Spitze: sie besteht aus einem 20-minütigen One-Shot. Circa vier oder fünf Mal soll das Ensemble die Sequenz gedreht haben. In einem Interview mit “Indiewire” sagte Hauptdarsteller White, dass One-Shots in vielen Fällen bloß ein Mittel sein, um Eindruck zu schinden. Nicht in ihrem Fall: „But I think in our case, it really lends itself to the story“. Das Argument lässt sich gut nachvollziehen. Im deutschen Indie-One-Shot-Wunder Victoria etwa fragte man sich trotz aller Bewunderung für den cineastischen Innovationsgeist an mancher Stelle, wie genau der One-Take-Modus dramaturgisch begründet ist. Anders bei “The Bear”: hier erzeugen die zwanzig Minuten Schnittlosigkeit eine sich immer weiter hochschaukelnde Anspannung (selbst wenn man gar nicht unbedingt wahrnimmt, dass nicht geschnitten wird).

“The Bear” hat den Anspruch, ein möglichst genaues und – Achtung, Unwort – authentisches Bild der Welten zu zeichnen, die es behandelt. Dazu werden einige geschickte Spielereien auf der Meta-Ebene genutzt: der kanadische Celebrity-Koch und Internetphänomen Matthy Mattheson hat eine Cameo-Rolle. Jedoch kocht er nicht, sondern repariert. Er ist der Handwerker des „Beef“, der gerufen wird, wenn etwas kaputt geht.  Das spielerische Verschwimmen-Lassen von Fakt und Fiktion erinnert an den literarischen Trend der Autofiktion, nur andersherum gedacht: nicht wird etwas Faktisches wie eine Biographie in einer Geschichte gegossen, sondern das Fiktionale um Elemente des Faktischen ergänzt. Dies kann man als Versuch der paratextuellen Verdichtung sehen, um ein noch höheres Maß an Authentizität zu erreichen.

Solche Anbindung an reale Begebenheiten finden sich auch in dem Versuch der Serie, die Stadt Chicago möglichst originalgetreu zu porträtieren. Italian Beef Sandwiches sind tatsächlich im Chicago der 1930er-Jahre entstanden und bis heute dort ein signature-dish. Das „The Beef“ ist ebenfalls einem echten Laden nachempfunden, dem Deli „Mr Beef“. Zu Beginn vieler Episoden werden Schnittbilder gezeigt, die so dringend das Lebensgefühl der Stadt einfangen wollen, dass man selbst ohne dort gewesen zu sein, ihren Kitsch spürt – einmal sogar zu den Klängen von Sufjan Stevens „Chicago“. Das wäre vermutlich so, als würde man heute eine Berlin-Serie mit „Alles neu“ von Peter Fox unterlegen. In der Tat finden sich im Netz einige Blog- & Newsletter-Texte von Chicagoer:innen , die sich über die Darstellung der Stadt in „The Bear“ echauffieren. Ihr größter Kritikpunkt ist, dass das Viertel River North, in dem sowohl das Serien-Bistro „The Beef“ als auch das echte „Mr Beef“ liegen, als hartes Arbeiter:innen-Viertel gezeichnet wird, das kurz vor der Gentrifizierung steht. Tatsächlich ist das Viertel schon seit Ewigkeiten gentrifiziert, nach Manhattan besitzt es die größte Galerie-Dichte der USA.

Doch auch wenn das Chicago-Porträt nicht so richtig gelingt, zeigt „The Bear“ mit seinem Gentrifizierungs-Plot trotzdem, dass es nicht nur an der rein ästhetischen Seite von Essen und Restaurants interessiert ist, sondern auch an seiner soziologischen Einbettung in die Gesellschaft. Denn auch das ist Kulinarik: ein Distinktionsmerkmal zur Darstellung von Klassenzugehörigkeit. Im Verlauf der Staffel entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob der Laden zukünftig ein Risotto anbieten solle – hier als Symbol für gehobene Küche gemeint. Beim Zuschauen ist man hin- und hergerissen: einerseits will man, dass das Lokal seinen urigen Charme und Legendenstatus im Viertel behält, andererseits weiß man genau: gehobene Küche bringt mehr Geld ergo bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter:innen. Dass es sich die Serie an dieser Stelle nicht zu einfach macht, ist einer ihrer größten Pluspunkte.

Überhaupt wirkt das Ganze sehr erfrischend, denn „The Bear“ zeigt Kulinarik von einer neuen Seite. Das ist gar nicht so einfach gewesen, denn Essen spielt schon lange eine wichtige Rolle in Film und Fernsehen. In Arthouse-Filmen wie “Eat Drink Man Woman”, “Babettes Fest” oder “Tampopo” wird zwar gezeigt, dass Kochen harte Arbeit ist, aber am Ende steht dann das Essen doch meist für etwas Mystisch-Magisches. Gerichte, die psychische Wunden heilen oder alte Konflikte durch Genuss befrieden. Dieser Heiland-Rolle muss das Essen auch visuell entsprechen, deswegen wird es oft ästhetisch überstilisiert. Ein hervorragendes Beispiel sind die märchenhaften Filme des Animationsmeisters Hayao Myazaki und seinem Studio Ghibli, über dessen sinnliche Darstellung von Essen es sogar Video-Essays gibt.

Diese Überstilisierung von Essen findet sich auch bei der Netflix-Doku-Serie “Chef’s Table”, deren Episoden schon fast als Werbung für das jeweilige Restaurant gelesen werden können. Auch die Reise-Sendung „Somebody Feed Phil“ oder Live-Koch-Shows schaffen es kaum, Essen aus einer anderen als der extrem appetitanregenden Perspektive zu zeigen, wie sie auch in Instagram-Reels oder TikTok-Videos propagiert wird (mit Ausnahme vielleicht von “Ugly Delicious”, das die soziokulturelle Geschichte von Gerichten beleuchtet). Bisher medial kaum gezeigte Seiten der Kulinarik wie Schweiß, Stress, Prekarität, aber auch Gemeinschaftsgefühl und Leidenschaft in der Küche werden in „The Bear“ in den Vordergrund gerückt. Damit schafft die Show es realistisch zu zeigen, was für ein Leben und welcher Alltag hinter dem ganzen Essen steckt, das unseren Appetit anregt.

Beitragsbild von Lasse Bergqvist