Jahr: 2020

Sound of Christmas – Weihnachtslieder und ihre kulturelle Funktion

von Berit Glanz

 

Das säkularisierte Weihnachten der modernen Konsumgesellschaft ist ein Fest, das von Paradoxien durchzogen ist. Diese Widersprüchlichkeiten offenbaren sich auch in den Weihnachtsliedern, die im Dezember an vielen Orten rauf und runter gesungen und gespielt werden. Elemente des Festes, die uns als lange etablierte Traditionen erscheinen, sind tatsächlich sehr moderne Angelegenheiten. Besonders zum Weihnachtsfest, einem ritualisierten Jahreshöhepunkt, entwickeln diese imaginierten Traditionen eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Nostalgie ist essentieller Bestandteil der Feiertage. Die Weihnachtsabende einer verklärten Vergangenheit, in der Schnee lag, Glöckchen klingelten, die Menschen fröhlich miteinander tranken und tanzten, werden in vielen Liedern besungen. Weihnachtslieder haben eine kulturelle Funktion und verraten einiges über ihren Entstehungskontext und unsere darüber hinaus weisenden Wertvorstellungen. An ihnen lassen sich  exemplarisch drei Bereiche untersuchen, die das Weihnachtsfest entscheidend prägen und die der Anthropologe Daniel Miller in seiner Studie Weihnachten. Das globale Fest als Familie, Globalisierung und Materialismus definiert hat. Weiterlesen

Ein Komposthaufen nicht ganz für sich allein / Just a room of one’s own?

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein Komposthaufen nicht ganz für sich allein

von Verónica Gerber Bicecci (übersetzt von Monika Lübcke)

 

Ich stieg mit einem Eimer Biomüll auf meine Dachterrasse und öffnete den Komposter, um mir die Entwicklung der Rotte in seinem Innern anzuschauen. Es war das Ende des Sommers und hatte viel geregnet; die Mischung lief Gefahr zu feucht zu werden und zu verderben. Die sechs Regenmonate in Mexiko-Stadt bringen mich immer wieder auf die gleichen Gedanken: Diese Stadt war einmal ein See, ich bin in der Nähe eines Flusses groß geworden, der in ein Rohr geleitet wurde, und das einzige Süßwasser in meiner Nähe (abgesehen von den Brunnen in den Parks der Umgebung) ist in den künstlich angelegten Seen von Chapultepec. Weiterlesen

Sammeln und Erzählen – Videospiele, Trophäenjagd und Visual Novels

von Maximilian John

 

Die Videospielkultur hat eigenartige Nischen, die für Außenstehende schwer zu erklären sind. Hier gibt es Praktiken, die sich dem intuitiven Verständnis von Spielspaß widersetzen. Sie sind nicht klassische Unterhaltung und stehen auch nicht im Verdacht, das Medium zu transzendieren oder irgendwie in künstlerischer Art und Weise weiterzubringen. Es sind Nischen, in denen Menschen viel Zeit, Geld und Energie investieren, für eine Belohnung, die augenscheinlich keinen Wert haben kann. Eine dieser Nische ist das intensive Sammeln von Trophäen. So befremdlich dieses Hobby auch wirken mag – es kann uns ein paar Hinweise drauf geben, wie Gameplay und der Kontext, in dem man spielt, zusammenhängen. Weiterlesen

Offenes Selbstbild, verkrustete Strukturen [Queering Literaturbetrieb]

Queering Literaturbetrieb
In den letzten Jahren ist ein Trend queerer Literatur auszumachen, in Übersetzung feiern Autor*innen wie Ocean Vuong, Maggie Nelson oder Edouard Louis große Erfolge. Dennoch haben queere Autor*innen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber auch im Literaturbetrieb, immer noch zu wenig Präsenz und Mitspracherecht. Diskriminierung, Sexismus, LGBTIQ+-Feindlichkeiten und Ignoranz gehören leider weiterhin zum Alltag. Die neue Kolumne Queering Literaturbetrieb widmet sich in kurzen Essays den Dissonanzen zwischen Literaturproduktion und Verlagswesen. Sie fragt nach dringlichen Themen und Diskursen innerhalb der Gruppe der queeren Schreibenden. Eva Tepest, Katja Anton Cronauer, Kevin Junk und Alexander Graeff haben sich als Autor*innen zusammengeschlossen, um mit dieser neuen Kolumne den aktuellen Wasserstand der queeren, deutschsprachigen Literatur auszuloten. Sie wollen mit ihren Essays individuelle Erfahrungen aus den verschiedenen Berufs- und Lebensrealitäten zusammentragen und zugleich ein größeres Bild von aktuellen Chancen, Ambivalenzen und Missständen aufzeigen.

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Ein Zimmer für sich allein, seine Fenster / Writer’s Rooms

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein Zimmer für sich allein, seine Fenster

von Isabel Zapata (übersetzt von Angelica Ammar)

I.

Im Oktober 1928 sprach Virginia Woolf an zwei Colleges der Universität Cambridge, dem Girton College und dem Newnham College, über Frauen und Literatur. Die Vorträge waren so erfolgreich, dass sie im Jahr darauf unter dem Titel Ein Zimmer für sich allein bei Hogarth Press veröffentlich wurden, dem Verlag, den die Schriftstellerin mit ihrem Mann Leonard gegründet hat. Weiterlesen

Die Zurichtung der Frau – Interview mit der dänischen Schriftstellerin Olga Ravn

(Interview von Bror Axel Dehn für die Zeitschrift Vagant, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich)

 

In Meine Arbeit (Mit arbejde, 2020) treibt Olga Ravn ihre Kritik an den sozialen Verhältnissen weiter als je zuvor. Auf 420 Seiten, die sich aus Prosastücken, Dramatik, Gedichten und Tagebucheinträgen zusammensetzen, kämpft die Erzählerin des Romans mit ihrer Rolle als Mutter. Szenen aus dem Geburtsvorbereitungskurs finden sich neben Katastrophengedanken aus dem Tagebuch. Anna, die Protagonistin, muss einsehen, dass sie sich – nach der Geburt ihres ersten Kindes – nicht in den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen wiedererkennen kann; infolgedessen nähert sie sich einem psychischen Zusammenbruch. Denn wie umgehen mit der Scham, die entsteht, wenn man sich in einem einengenden sozialen Normenverständnis nicht wiederfinden kann? Ein paar Tage lang schickten Olga Ravn und ich Mails hin und her. Wir sprechen darüber, was passiert, wenn eine Frau „auf eine spezielle Denkart, auf einen Wertemaßstab hin abgerichtet und krank wird“. Wenn wir einen besseren Gesellschaftsentwurf wollen, dann muss jemand Zeugnis ablegen. Weiterlesen

Der Pionier – ‚This American Life‘ macht das Persönliche politisch [Podcast-Kolumne]

von Svenja Reiner

Ich bin mit der medial geprägten Vorstellung aufgewachsen, dass es sich bei den Tagen vor Weihnachten vor allem um eine romantische und besinnliche Zeit handelt. Glühwein, Weihnachtsmärkte und halb geöffnete Wintermäntel gehören zu den wichtigsten Accessoires einer guten Romcom, in der Schnee nur leise und vor allem so wohldosiert rieselt, dass keine Frisur zerstört und keine Mascara verwischt wird. Bis heute verfolge ich diese Filme mit großer Faszination, obwohl oder weil sie so fürchterlich wenig wie meine eigenen Feiertage aussehen. Der ästhetische Versuchsaufbau von Podcasts hingegen zielt ja eher auf das zynisch rationale Ohr denn auf das verliebte Auge, und folglich ist eine meiner Lieblingsfolgen von This American Life (TAL) die Nummer 47.: Christmas and Commerce. Weiterlesen

Fetisch Kreativarbeit – Künstlerbiographien als Lebensratgeber

von Felix Lindner

 

Und wieder eine falsche Kuh. Also setzen sich die beiden Frauen, Gertrude Stein und Alice Toklas, noch einmal in den Ford und fahren weiter, bis zur nächsten Kuh. Steins Aufgabe ist es, zu schreiben, und sie schreibt am liebsten draußen, auf einem Campingstuhl, und zwischendurch, da braucht sie diese Aussicht. Und auch Alice Toklas hat eine Aufgabe: die Kuh zu finden, die zur Stimmung ihrer Freundin passt und sie in ihr Blickfeld bringen. Es ist oft die falsche. Ist eine gute Kuh gefunden, schreibt Stein manchmal, aber meistens, heißt es, meistens schaut sie einfach nur auf Kühe. Weiterlesen

Ein geheimer Garten / Ein vergrößertes Zimmer

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein geheimer Garten

von Fernanda Melchor (übersetzt von Angelica Ammar)

 

Ich zog in diese Wohnung wegen des Gartens gegenüber. Die Nähe zum Stadtzentrum von Puebla, die drei großen hellen Zimmer, die günstige Miete, all das vergaß ich, als ich zum ersten Mal aus dem Wohnzimmerfenster sah und vier Stockwerke weiter unten, auf der anderen Seite einer engen Gasse, einen von Mauern umgebenen, einsamen wilden Garten entdeckte, dessen Avocadobäume, Mispelbäume, Pfirsichbäume und rosa Engelstrompeten sich im kupferfarbenen Licht der Dämmerung wiegten. Ich nehme sie, sagte ich zum Vermieter, noch ehe er mir den Rest der Wohnung gezeigt hatte. Die Rohre waren in einem schlechten Zustand, die Schlafzimmerwände hätten dringend etwas Farbe gebrauchen können, doch all das war mir egal. Gebannt schaute ich auf den Garten gegenüber. Ich hatte das Gefühl, es sei das Zeichen, auf das ich gewartet hatte, das Zeichen, dass es richtig war, aus dem Haus auszuziehen, in dem ich fast ein Jahrzehnt lang Mutter, Gattin, Hausfrau, Chauffeur, Sklavin und manchmal, gelegentlich, frühmorgens am Esstisch, wenn alle noch schliefen, Schriftstellerin gewesen war. Weiterlesen

Just a room of one’s own? – Schreiben hinter verschlossenen Türen

von Isabelle Lehn
(Ein Essay aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

 

Warum siehst du so ernst aus, auf deinen Autorenfotos? Hat der Verlag dich so inszeniert? Die Frage eines Studenten beschäftigt mich. In Wirklichkeit wirkst du viel lässiger! Ich muss lachen, weil er mich für lässig hält. Nein, sage ich. Der Verlag hat damit nichts zu tun. Ich allein bin für meine Bilder verantwortlich. Weiterlesen