Jahr: 2014

Georg Trakls „Verfall“ nach Helmut Krausser

Verfall – Das Cover von Helmut Krausser

Wenn im Herbst die Glocken läuten,
abends, sehe ich den Vogelflügen
zu, die wunderfromm und Pilgerzügen
gleich, verschwinden, nichts bedeuten.

Ich gehe durch die dunklen Gärten,
Zeit hat weder Macht noch Folgen.
Uhren drohen nicht, Gefährten
meiner Sehnsucht sind die Wolken.

Manches läßt mich doch erzittern.
Ein Amseljunges in den Zweigen,
roter Wein an alten Gittern.

Kranker Kinder Todesreigen,
Brunnenränder, die verwittern,
asternblaues Winterschweigen.

Verfall – Das Original von Georg Trakl

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.


Krausser zu seiner Coverversion:

Zu Trakl habe ich ein zwiespältiges Verhältnis. Bei allem Verständnis für die Situation des jungen Mannes – vieles halte ich für unausgegorene Pennälerlyrik, bestenfalls. Warum dergleichen so beliebt ist bei den Deutschen, will sich mir partout nicht erschließen. Ich nehme es duldsam als gegeben hin. Besonders erstaunt hat mich der Umstand, daß im Lyrikkanon von literaturkritik.de das hier zitierte Gedicht auf Platz 13 auftauchte, mithin also ernst zu nehmen war. Viel ist daraus nicht zu machen. Ein wenig, immerhin.

Aus: Helmut Krausser – Verstand & Kürzungen
Mit freundlicher Genehmigung des DuMont Verlags

Wie liest Du, Charlotte?

In „Wie liest Du?“ stellen in regelmäßig unregelmäßigen Abständen Kritiker, Autoren und Verlagsmitarbeiter, Blogger, Vielleser und Buchhändler ihre Art des Lesens vor. Hier geht es nicht um einzelne Inhalte, sondern vielmehr um die Technik sich ein Buch zu erarbeiten – den Akt des Lesens von außen betrachtet.

besonders_buch_Wie-liest-DuHeute mit Charlotte Lacroix, die auf besonders buch über besonders auffällig und schön gestaltete Bücher, Buchkunst aus aller Welt und Nachrichten vom Buchmarkt und aus der Verlagswelt berichtet.

1.Überspringst Du einzelne Stellen – gar Kapitel – oder liest Du ein Buch, wenn dann komplett?

Ich lese meine Bücher fast immer komplett. Aber es gibt eine Regel: wenn es mich nach 100 Seiten unsäglich langweilt, wenn mich das Buch nervt oder sogar ärgert, dann „darf“ ich es weglegen. Das kommt so 2-3 mal im Jahr vor und ist mir zum letzten Mal (leider) bei Die Insel von Wassili Golowanow passiert.

2. Schummelst Du und springst vor, um das Ende schneller zu erfahren?

Niemals. Da bin ich schon sehr konservativ…

3. Nutzt Du Lesezeichen (immer dasselbe/andere?) oder legst Du ein Buch offen auf die Nase?

Puh, das ist eine fiese Frage, denn ich behandle bestimmt nicht alle Bücher so, wie das empfehlenswert wäre. Lesezeichen finde ich schöne Objekte, benutze sie aber so gut wie nie. Bei mir kommen Taschentücher, Notizzettel, auch mal Medikamentenschachteln etc. zwischen die Seiten.

4. Liest Du Taschenbücher einseitig, wie ein Magazin, indem Du das Cover komplett umklappst?

Das mag es in der Vergangenheit gegeben haben. Inzwischen kaufe ich aber so gut wie gar keine Taschenbücher mehr.

5. Liest Du lieber kurze oder lange Kapitel?

Ich mag Bücher, die in Kapitel gegliedert sind. Wenn es dann auch noch ein Inhaltsverzeichnis gibt, kann man sich so schön auf das vorbereiten, was einen erwartet. Ob das Kapitel lang oder kurz ist, ist mir aber egal.

6. Markierst Du? Mit Bleistift, Marker, Klebezettel, einfach die entsprechende Seite umknicken oder schreibst du lieber Stellen raus?

Auch das mag es in der Vergangenheit – vor allem zu Studienzeiten – gegeben haben. Sowohl den Bleistift, sogar den Kugelschreiber, als auch die umgeknickte Seite. Aber wenn ich merke, dass ein Buch mit Liebe gestaltet ist und dass sich der Verleger/ Gestalter wirklich etwas bei der Umsetzung gedacht hat, dann bringe ich das nicht übers Herz. In den Bücher, die ich für besonders buch rezensiere, wird nichts markiert.

7. Schaust Du ältere Lektüre nochmal nach markierten Stellen durch?

Ja, sehr gerne. Auch wenn ich nichts markiert habe, habe ich meistens ein sehr gutes Gedächtnis dafür, welche Sätze wo gestanden haben.

8. Welches ist das (nichtwissenschaftliche) Buch, in dem Du am meisten markiert hast?

Definitv Malina von Ingeborg Bachmann, das Buch, über das ich meine Abschlussarbeit geschrieben habe. Das ist in allen Regenbogenfarben markiert, mit Notizen versehen, kurz gesagt: es ist jetzt ganz und gar MEIN Buch.

9. Deine liebste markierte Stelle:

Stammt aus Les Choses von Georges Perec (großartiges Buch!) und ist leider auf Französisch. Sie schildert den Zusammenhalt, das großartige Verbundenheitsgefühl das ein junges Pärchen beim Spazieren an einem lauen Sommerabend verspürt: „Alors ils se sentaient les maîtres du monde. Ils ressentaient une exaltation inconnue, comme s’ils avaient été détenteurs de secrets fabuleux, de forces inexprimables.“

10. Benutzt Du einen eReader? Als Ergänzung zum Gedruckten – ausschließlich – gar nicht?

Ich habe einen eReader, soviel kann ich sagen. Ich kann aber auch sagen, dass ich noch kein einziges Buch auf meinem eReader zu Ende gelesen habe. Irgendwie hat es noch nicht gefunkt, zwischen meinem eReader und mir.

Hilary gegen Haruki und Mantel gegen Murakami

Manchmal packt es einen oder nicht.

Hilary Mantel gewann sowohl mit Wölfe als auch mit Falken, ihren historischen Romane über England unter Heinrich VIII. und Thomas Cromwell, den Booker Prize. Eine hohe Auszeichnung in einem Genre, das sonst eher auf Wühltischen stattfindet. Um diese derart dekorierte Autorin kennenzulernen, ohne gleich 1300 Seiten Historienschmöker lesen zu müssen, versuche ich ihren Kurzgeschichten Band Die Ermordnung Margaret Thatchers.

Ich beginne also mit Der Besucher und weiß nach den 24 Seiten der Geschichte irgendwie nicht so recht, was ich da gerade gelesen habe. Eine Frau ist mit ihrem Mann aus (seinen) beruflichen Gründen nach Dschidda in Saudi-Arabien gezogen und freundet sich mehr oder weniger mit einem Mann an, der bei ihr klingelt umzu telefonieren. Eigentlich mit einer Konzentration ausgestattet, die es mir erlaubt auch mehr als zwanzig Seiten am Stück zu lesen, merke ich doch am Ende, dass ich von der Geschichte nichts so richtig mitbekommen habe, zwischendrin bin ich wohl zu oft abgeschweift. Nichts an der Geschichte hat meine Aufmerksamkeit so richtig aufrechterhalten können. Kann natürlich passieren, mag man das Sujet der Geschichte nicht, ich bin kein Wüstenmensch (genauso wenig ein Schnee-Typ). Aber auch die nächste Geschichte plätschert an mir  vorbei, ich kann von keiner der Geschichten über den Inhalt referieren, habe aber doch jede zumindest angelesen. Sowas ist mir lange nicht passiert. Ich könnte nicht mal von dem Buch abraten, weil es einfach an mir vorbeiging (was natürlich schwerlich als Empfehlung gelten kann). Also erstmal keine Hilary Mantel mehr für mich, trotz Booker Prize.


Besser soll es danach Haruki Murakami, der ewig verhinderte Nobelpreisträger, mit Von Männern, die keine Frauen haben machen. Bereits dem Umschlag gebührt hier schon mehr Aufmerksamkeit als der bloßen Tasche der eisernen Lady. Auf das weiße Cover selbst ist nur die schwarz-weiße Silhouette eines Mannes gedruckt, Farbe und Frauengestalt sowie den Text, bringt erst ein aus dicker Folie bestehender zweiter Einband.

Marakami schafft es im Gegensatz zu Mantel bereits in der ersten Beatles-Zitat Geschichte Drive my Car mich zu interessieren. Ein verwitweter Schauspieler erzählt seiner Fahrerin wie er erfuhr, dass seine Frau ihn betrog und wie er gelernt hat damit umzugehen und nach ihrem Tod immer noch damit umzugehen versucht. Und auch im anschließenden Beatles-Zitat Yesterday versucht ein (hier) junger Mann die Beziehung zu seiner Jugendliebe zu ergründen, die Verwicklungen zu verstehen und die Eifersucht auf andere Männer, die ihr nahe kommen oder kommen könnten zu bewältigen. Sowieso dreht sich eigentlich jede Geschichte Murakamis um das (sexuelle) Gefüge zwischen Mann und Frau und Herr M. schafft Stories, die mich unterhalten und ich mit Freude weiterlese, über das abrupte Ende rätsel oder schöne Passagen mehrmals wiederhole. Kinos Bar handelt von verletzten Frauen, rätselhaften Gästen, Betrug, Flucht und Mafia. Auch Scheherazade scheint sich um ähnliche Themen zu drehen, als wäre sie das Negativ der nachfolgenden Geschichte und auch wenn man Murakami das Kreisen um das immergleiche Thema vorwerfen könnte, schafft er es aus diesem immer neue Aspekte zu kitzeln, Alltägliches und Abseitiges.

Alle tot!

Mich umweht ein Hauch des Morbiden. In Paris spaziere ich lieber über Friedhöfe, statt das Nachtleben der Stadt zu erkunden, Wien die Hauptstadt der Todessehnsucht ist natürlich meine Lieblingsstadt. Nicht, dass mich eben solche Sehnsucht plagen würde, ich habe es mir hier sehr gut eingerichtet und plane noch einige Jahrzehnte meinem noch jungen Leben folgen zu lassen, bin aber irgendwie in diese Geschichte reingeschlittert, sind doch die meisten meiner Autoren tot. Bei Heine und Böll, Kästner und Zweig kann man schlecht auf eine Lesung gehen, will mal jemandem also eine Ehre erweisen, so gibt es nichts näheres als einen Besuch am Grab.

Sterben die Großen, ruft man ihnen nach. Der Nekrolog ist eine eigene Gattung des Journalismus. Die Frage, ob die großen Zeitschriften den passenden Nachruf für möglicherweise bald Versterbende, bereits in der Schublade haben, füllte sogar schon Romane (z.B. Picknick auf dem Eis von Andrej Kurkow). Nun haben Georg Thiel und Florian Baranyi für jedes Jahr des 20. Jahrhunderts einer verstorbenen Persönlichkeit einen Nachruf geschrieben und ein Geschichts- und Erinnerungsbuch daraus gemacht: Alle tot – Das 20. Jahrhundert in 101 Nachrufen.

Beginnend mit Oscar Wilde 1900 bis Lolo Ferrari 2000 führen die beiden Autoren unterhaltsam und lehrreich durch das Säkulum. Man trifft alte Bekannte und lernt neue Autoren, Künstler und Politiker kennen. Besonders erfreulich hierbei, dass zum Teil die nicht naheliegenden Todeskandidaten des Jahres vorgestellt werden.

In seiner Agonie verlangte er Papier und Stift und bat um 100 Mikrogramm LSD, intramuskulär verabreicht. Laura kommt dem nach. Als sie ins Nebenzimmer geht, um die Ampulle zu holen, erfährt sie, dass John F. Kennedy gerade erschossen wurde. Einige Stunden später schläft Huxley friedlich ein.

IMAG3806Nicht eben den offensichtlichen Kennedy, sondern Aldous Huxley zu nehmen, beschehrt dem Leser dazu auch noch die Bekanntschaft mit Moritz Schlick (1936) oder Antonio Gramsci (1937). Klar ’45 ist Hitler gestorben, aber eben auch Anton von Webern, Hitler kennen alle, von Webern doch sicher wenigere. Trotzdem muss man nicht auf die Stars des Todeskults verzichten: Jim Morrison (1971), Elvis (1977), Eva Perón (1952) oder Falco (1998).

Thiel und Baranyi erzählen so auf eine völlig andere Art die Geschichte der europäischen Kultur in hundert wundersamen Jahren durch hundert und ein wundersames Leben. Ein grandioses Lesevergnügen, das nur durch das eklig glatte Papier geschmälert wird. Gänzlich fehl am Platz dagegen die Illustrationen von Stefan Kahlhammer, die vielmehr das Niveau eines einfachsten Kinderlexikons haben und für das Buch keinen Mehrwert darstellen. Wenn man sich den Lesegenuss hierdurch nicht verderben lässt, wird man mit Alle tot bestens unterhalten!

Rainer Maria Rilkes „Der Panther“ nach Helmut Krausser

Der Panther – Das Cover von Helmut Krausser

Sein Blick, von vierzig Gitterstäben
müde, trägt kein Bild, zerfällt.
Als würde es nur Stäbe geben,
dahinter aber keine Welt.

Parcours dämonisch starker Schritte,
der sich im kleinsten Kreise dreht,
die Kraft als Tanz um eine Mitte,
in der, betäubt, sein Wille steht.

Manchmal schiebt sich die Pupille
lautlos auf – ein Bild dringt ein
ins Herz, durch angespannte Stille –
und hört für immer auf zu sein.

Der Panther – Das Original von Rainer Maria Rilke

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein


Krausser zu seiner Coverversion:

Ein nahezu perfektes Gedicht. Es bleibt Ansichts- bzw. Geschmackssache, ob man die behäbigere fünfhebige Originalversion, die dem trägen Gang des Panterhs eher entsprechen mag, der bierhebigen  vorzieht, die dem Tier mehr Spannkraft und Geschwindigkeit verleiht. Für mich war ausschlaggebend, daß überhaupt eine gedrängtere Version ohne entscheidenden Substanzverlust möglich ist, was ich bei der Arbeit nicht unbedingt vorausgesagt hätte.

Aus: Helmut Krausser – Verstand & Kürzungen
Mit freundlicher Genehmigung des DuMont Verlags

Kein CoverHelmut Krausser: Verstand & Kürzungen
gebunden, 222 Seiten
DuMont Buchverlag, Köln 2014 Buch bestellen

Miss Blackpool

Er kann es noch

Als Mensch meiner Generation konnte man sich kaum dagegen wehren mit Nick Hornby aufzuwachsen. High Fidelity war Pflicht für herzkranke, musikverliebte Pubertierende, About a boy in den Klassen unter mir sogar Schullektüre in Englisch und How to be good stand lange auf der Liste meiner Lieblingsbücher. Bäume ausgerissen hat Nick Hornby nach diesen drei Großen nicht mehr: Slam und Juliet, naked waren solide, A long way down etwas darüber. Statt Romane hat der glatzerte Nick in letzter Zeit mehr Drehbücher, Songs und Kolumnen geschrieben, fünf Jahre nach seinem letzten Roman erschien nun aber, pünktlich zum Weihnachtsverkauf, Funny Girl zu deutsch Miss Blackpool.

9783462046908Eben diesen Titel hat die junge Barbara in ihrer Heimatstadt gerade erlangt, doch schlägt sie ihn, kurz bevor sie das Treppchen besteigt und vom Bürgermeister gekröhnt wird, schon wieder aus. Sie will nach London und Komikerin werden, sie will ins Fernsehn, sie will nicht als Hausfrau und Mutter, der Kinder irgendeines Möbelhändlers in der Provinz, enden. Im London der frühen Sixties arbeitet Barbara aber zunächst in einem Supermarkt und versucht unbeholfen Männer kennenzulernen und hofft auf die Entdeckung durch einen Agenten, der ihr zu einer TV-Rolle und großem Ruhm verhilft. Doch bald muss sie einsehen, dass man nichts geschenkt bekommt, gerade nicht als Frau, und sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Statt sich in die Schmuddelecke abschieben zu lassen, denn Sophie, wie sie sich inzwischen nennt, ist von durch aussehnlicher Gestalt, bemüht sie sich um Rollen als Schauspielerin und wird tatsächlich für die zu startende Comedyserie Barbara (and Jim) entdeckt, deren großer Star sie wird.

Das anfangs unbeholfene Mädchen lebt sich in London ein und gewöhnt sich an den Ruhm, der mit ihrer neuen Rolle einher geht, bleibt sich aber treu. Um sie herum sorgen der Produzent und die Autoren der Sendung für sie und führen sie in das Leben in der Großstadt ein, ähnlich wie auch der Hauptdarsteller der Sendung und eine Zeitungsreporterin. Doch, dass Erfolg, Ruhm und Ehre einer einzelnen Sendung ewig halten, ist selten und es gibt Veränderungen im Fernsehverhalten des Publikums, an die sich Barbara (and Jim) anpassen müssen. Vor allem bleiben Barbara und Jim keine fiktiven Figuren mehr, als sich Sophie (vormals und jetzt Barbara) mit Clive (Jim) verlobt.

Eine Hochzeit würde Zeitungen und Zeitschriften glücklich machen, das wusste sie, aber der überwältigende Druck, den Leuten zu geben, was sie haben wollten, kam von innen. Mit einem ganz kleinen Zugeständnis konnte sie alles zusammenbringen, Barbara und Jim, Sophie und Clive, und womöglich würde es sogar ein Baby geben, das zu dem Baby passte, das sie im Fernsehen bekommen sollte.

Ein durchkomponierter Roman.

Nick Hornby kann es noch. Er zeichnet sympathische Figuren mit Abgründen, schreibt Romane zum Wegsnacken mit Tiefgang. In eine unterhaltsam zu lesende Geschichte flicht er geschickt Politik, Zeit- und Fernsehgeschichte ein. Die Nebenplots, um das Verhältnis der beiden Drehbuchautoren und ihr Umgang mit ihrer, einerseits durch eine Ehe kaschierte und andererseits später offen ausgelebten, Homosexualität in einer Zeit, in der diese noch mit Gefängnis bestraft wurde oder die heimliche Liebe des Produzenten zu Sophie und die Familiengeschichte Sophies greifen alle ineinander ohne konsturiert zu wirken.

Hornby schildert das Aufeinanderprallen von Provinz und Großstadtleben oder das was die kleine Miss Blackpool dafür hält. Und wenn Sophie die Bedenken ihres Vaters über die englische Politik äußert und sich als Kind des konservativen Hinterlandes outet, zeigt Hornby in unterhaltsamen Dialogen, dass er seinen Humor nicht verloren hat.

„Dürfen wir fragen, was dein Vater dagegen hat?“, fragte Dennis.
„Er findet, das Land geht vor die Hunde“, sagte Sophie.
[…] „Ihm missfällt die Zahlungsbilanz“, sagte Sophie.
„Die missfällt uns allen“, sagte Clive. „Aber für Tee und Kekse reicht es ja noch.“
„Und er macht sich Sorgen wegen der Farbigen.“
„Machen die in Blackpool so viel Ärger?“, fragte Bill.
„Neulich hat mir ein Farbiger hinterhergepfiffen“, sagte Sandra. „Ein Fensterputzer.“
„Ist ja ekelhaft“, sagte Bill. „Gleich zurückschicken. In der gesamten Geschichte des Fensterputzens hat kein weißer Mann jemals einer Frau hinterhergepfiffen.“

Miss Blackpool ist wunderbare Unterhaltung und neben der sympathischen Protagonistin, bereiteten mir am meisten die beiden Drehbuchautoren Bill und Tony Freude. Nicht nur der erwähnte Umgang mit der eigenen Homosexualität, sondern auch ihre Reflexionen über Sinn und Unsinn, Ziel und Möglichkeiten von Unterhaltungsfernsehen gekoppelt an die verschiedenen Lebensziele der beiden sind einfühlsam und unkonsturiert real, Hornby lässt nicht einfach Yes and No, Black or White, Straight and Gay aufeinanderprallen, sondern flicht die Geschichten in seine Geschichte ein. Ein durchkomponierter Roman.

Bill waren die Zuschauerzahlen früher sehr wichtig gewesen. Aber nach „Das neue Badezimmer“ gierte er nach der Anerkennung der Leute, die im Leben nicht dabei erwischt werden wollten, eine beliebte BBC-Comedy zu gucken. Er wollte von den Leuten respektiert werden, die er in den unabhängigen Theatern sah, und von den Regisseuren der Kabaretts, die seine Sketche ablehnten. Er wollte die klugen, jungen Homosexuellen beeindrucken, die er in den Kunstclubs aufgabelte, und sogar die Fernsehkritiker, die die Sendung mal gemocht hatten, aber seit der ersten Staffel nicht mehr darüber schrieben. […] Bill empfand […] einen leichten Selbstekel.

100 Seiten zu lang

Bei allem Positiven kann man Hornby nur einen Fehler vorwerfen. Als Sophie auf der Höhe ihres Ruhms ist, beginnt sie zu zweifeln, ob dieser anhalten würde und was aus ihr ohne die Sendung würde. „Da hätte sie gern die Stopptaste gedrückt. Sie fürchtete sich bereits, nie glücklicher sein zu können als jetzt – letzten Montag – und dass es bereits vorbei war.“

Miss Blackpool ist leider circa 100 Seiten zu lang. Hornby hat den Druck auf die Stopptaste verpasst und reitet seinen Plot am Ende tot, steigt von ihm auch nicht ab, als dieser sich nicht mehr regt. Die Wiedervereinigungsszene am Ende, die man ohne zu spoilern verraten darf, erscheint in etwa so schief und falsch wie die Bahnhofsszene im letzten Harry Potter, wenn alle Kinder die Namen der vorher Verstorbenen tragen. Diesen Holzhammer hätte Miss Blackpool, ein durch und durch angenehmer Unterhaltungsroman auf gehobenem Niveau, nicht nötig gehabt.

Wie schrecklich war doch Bildung, wenn sie einen Geist hervorbrachte, der Unterhaltung verachtete, und damit auch alle Menschen, denen sie etwas wert war.

Wie liest Du, Philipp?

In „Wie liest Du?“ stellen in regelmäßig unregelmäßigen Abständen Kritiker, Autoren und Verlagsmitarbeiter, Blogger, Vielleser und Buchhändler ihre Art des Lesens vor. Hier geht es nicht um einzelne Inhalte, sondern vielmehr um die Technik sich ein Buch zu erarbeiten – den Akt des Lesens von außen betrachtet.

Heute mit Philipp Spreckels von Comic Kladde.

Der Literaturblog „Comic Kladde“ beschäftigt sich mit aktuellen Comics und Graphic Novels. Was den Blog von vielen anderen unterscheidet: Statt kurzer Texte experimentiert Philipp Spreckels mit langen Interviews, essayistischen Analysen und versieht seine Artikel zum Teil auch mit selbst gestalteten (Info)Grafiken.

1. Überspringst Du einzelne Stellen – gar Kapitel – oder liest Du ein Buch, wenn dann komplett?

a. Viel schlimmer. Ich lese als Erstes immer den letzten Satz eines Romans. Manchmal führt das zu interessanten Verwirrungen, da mir häufig der Kontext zur korrekten Interpretation der Informationen fehlt. Schuld ist also eher die Lust an der Verwirrung als das nicht-aushalten-können der Spannung. Bei Comics ist es anders: Da die letzte Seite meist sehr viel verrät, spare ich sie mir bis zum Schluss auf.

b. Es gibt jedoch auch Buchteile, die ich regelmäßig überspringe. So ignoriere ich die bei Graphic Novels häufig vorangestellten Vorworte und Grußworte bewusst, um mir zunächst ein eigenes Bild von der Geschichte zu machen … bevor ich mich mit den Interpretationen und Lobeshymnen Dritter beschäftige.

2. Schummelst Du und springst vor, um das Ende schneller zu erfahren?

a. Wenn der letzte Satz nicht zählt … nein. Ich brauche Zeit und Muße zum Lesen von Romanen. Wenn ich Texte überfliege oder quer lese, hinterlässt das bei mir immer einen schalen Beigeschmack. Das Gefühl, etwas verpasst zu haben oder spätere Stellen nicht entziffern zu können, ist mir unangenehm. Lieber breche ich einen Roman ab, als ein Kapitel zu überspringen.

b. Beim Comic ist es wieder anders. Es kann durchaus vorkommen, dass mich ein Comic auf der grafischen Ebene überzeugt, die Texte jedoch enttäuschen. So habe ich festgestellt, dass ältere Comicgeschichten, wie Jim Sterankos S.H.I.E.L.D., von ganz anderen Seh- bzw. Lesegewohnheiten ausgehen. Wenn mich ein Comic genügend frustriert, ignoriere ich die Sprechblasen und lese die Story nur auf der Bildebene zu Ende.

3. Nutzt Du Lesezeichen (immer dasselbe/andere?) oder legst Du ein Buch offen auf die Nase?

Ich benutze das, was gerade zur Hand ist: Zeitungsschnipsel, Quittungen, Notizblätter, Postkarten, Bonbonpapier. Wenn es sich nicht gerade um eine schöne Hardcoverausgabe oder einen Comic handelt, schrecke ich auch vor Eselsohren nicht zurück. Man sieht: Im Gegensatz zu einfachen Taschenbüchern haben Comics für mich fast immer etwas Bibliophiles an sich.

4. Liest Du Taschenbücher einseitig, wie ein Magazin, indem Du das Cover komplett umklappst?

Auch wenn ich für viele Eselsohren verantwortlich bin: Das Umklappen bringe ich nicht übers Herz.

5. Liest Du lieber kurze oder lange Kapitel?

Ich bevorzuge gute Kapitel.

6. Markierst Du? Mit Bleistift, Marker, Klebezettel, einfach die entsprechende Seite umknicken oder schreibst du lieber Stellen raus?

a. Das kommt ganz darauf an, wofür ich im lese. Wenn ich ein Buch nur für den eigenen Genuss aufschlage, notiere ich mir nur selten ein paar Stichworte in meiner Kladde oder speichere sie auf meinem Smartphone ab. Für die lebhaften Diskussionen im Comiclesekreis greife ich oft auf Klebezettel zurück. Um bei 20-30 Notizen pro Comic schnell fündig zu werden, versehe ich die Zettel meist mit kleinen Piktogrammen und Symbolen.

b. Wenn ich einen Comic auf meinem Blog besprechen möchte, liegt meine Kladde immer griffbereit. Hier notiere ich mir einzelne Passagen, Seitenzahlen, fertige kleine Skizzen an und schreibe Ideen nieder die mir beim Lesen kommen. Aus diesem Fundus entstehen in Verbindung mit meinem Laptop später allmählich die Artikel für die Comic Kladde.

7. Schaust Du ältere Lektüre nochmal nach markierten Stellen durch?

Nicht so, wie Du denkst. Wenn ein Wälzer in meinen Besitz gelangt, notiere ich auf der ersten leeren Seite immer drei Dinge: wann, wo und ggf. warum ich mir das Buch gekauft habe oder wer es mir geschenkt hat. So kann ich später noch mal nachschauen, in welchem Urlaub ich „Der Name der Rose“ gelesen habe oder wo ich „Jimmy Corrigan“ gekauft habe.

8./9.

10. Benutzt Du einen eReader? Als Ergänzung zum Gedruckten – ausschließlich – gar nicht?

Noch nicht. Die aktuellen Geräte stellen mich, was Größe und Flexibilität aber auch was den Datenschutz anbelangt, noch nicht zufrieden. Außerdem fehlt mir der Geruch. So ein nach Druckerschwärze duftendes Buch / Comic, das hat schon was Sinnliches an sich.

Wie liest Du, Kerstin?

In „Wie liest Du?“ stellen in regelmäßig unregelmäßigen Abständen Kritiker, Autoren und Verlagsmitarbeiter, Blogger, Vielleser und Buchhändler ihre Art des Lesens vor. Hier geht es nicht um einzelne Inhalte, sondern vielmehr um die Technik sich ein Buch zu erarbeiten – den Akt des Lesens von außen betrachtet. Heute mit Kerstin Pistorius von Atalantes Historien, einem grandiosen Blog, auf dem die besprochenen Bücher alle ziemlich nah an meinem Geschmack sind. Wer von mir die Nase voll hat oder wer dies liest und noch nie auf Kerstins Blog war: sofort hier klicken!

1. Überspringst Du einzelne Stellen – gar Kapitel – oder liest Du ein Buch, wenn dann komplett?

Klar, auch ich habe schon Passagen übergangen, aber so etwas kann sich rächen. Ich erinnere mich bei „Die Entdeckung des Himmels“ den Prolog erst mal bei Seite gelassen zu haben, dadurch blieb mir Wesentliches zunächst verborgen. Vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, die Lektüre war umso geheimnisvoller. Am Ende war ich schließlich so beeindruckt von dem Roman, daß ich den Prolog freiwillig nachholte.

Wenn mich heute während des Lesens ein starker Drang zum Galopp befällt, deute ich das als erste Aufforderung ganz raus zu springen.

2. Schummelst Du und springst vor, um das Ende schneller zu erfahren?

Nur wenn die Handlung schlicht und vorhersehbar ist, dann überprüfe ich, ob meine Prognose eintritt und vermeide weitere Zeitverschwendung. Zuletzt bei einem hochgelobten historischen Roman, dessen Titel ich verdrängt habe. Es liegt lange zurück und war irgendwas mit Säulen.

3. Nutzt Du Lesezeichen (immer dasselbe/andere?) oder legst Du ein Buch offen auf die Nase?

Alles ist möglich, ganz nach Stimmung. Ich schätze Lesebändchen. Bücher, die ohne daherkommen, müssen das nächstbeste zwischen ihren Seiten ertragen, Tempos, Tickets oder Teebeuteletiketten.

4. Liest Du Taschenbücher einseitig, wie ein Magazin, indem Du das Cover komplett umklappst?

Nö, ich lese auch Magazine nie so, außer beim Zähneputzen.

5. Liest Du lieber kurze oder lange Kapitel?

Inhalt kommt vor Form.

6. Markierst Du? Mit Bleistift, Marker, Klebezettel, einfach die entsprechende Seite umknicken oder schreibst du lieber Stellen raus?

Meine alten Bücher haben Bleistiftunterstreichungen und Notizen, bisweilen zur Freude derer, die das Buch nach mir lesen und mich darauf ansprechen. Manchmal kommt mir mein früheres Ich dann sehr seltsam vor.

In letzter Zeit sind Post-its meine Favoriten, aber nur die, die mehr als drei Romane überstehen.

7. Schaust Du ältere Lektüre nochmal nach markierten Stellen durch?

Nein, aber manchmal muss ich mich erklären, s.o. (auch das ein Argument für Post-its.)

8. Welches ist das (nichtwissenschaftliche) Buch, in dem Du am meisten markiert hast?

Wahrscheinlich Prousts Recherche, wenn ich sie eines Tages zu Ende gelesen haben werde.

9. Deine liebste markierte Stelle:

… befindet sich aktuell in Wilhelm Genazinos neuem Roman Bei Regen im Saal.

„Um leben zu können, musst du kaltblütig am Unverstandenen vorbeigehen und dich nicht nach ihm umdrehen.“

10. Benutzt Du einen eReader? Als Ergänzung zum Gedruckten – ausschließlich – gar nicht?

Seit einem Verlags-Projekt bin ich im Besitz eines Kindle. Nach kurzer Selbstbefragung, ob ich so etwas überhaupt nutzen will, freue ich mich inzwischen darüber, besonders in schlaflosen Nächten und auf Reisen. Ich bevorzuge allerdings die guten, alten Papierdinger. Eine unmarkierte Stelle finde ich in einem dreidimensionalen Buch viel leichter.

P1030715

Wie liest Du, Manuela?

In „Wie liest Du?“ stellen in regelmäßig unregelmäßigen Abständen Kritiker, Autoren und Verlagsmitarbeiter, Blogger, Vielleser und Buchhändler ihre Art des Lesens vor. Hier geht es nicht um einzelne Inhalte, sondern vielmehr um die Technik sich ein Buch zu erarbeiten – den Akt des Lesens von außen betrachtet. Heute mit Manuela Hofstätter, einer der profiliertesten Literaturbloggerinnen im deutschsprachigen Raum.

1. Überspringst Du einzelne Stellen – gar Kapitel – oder liest Du ein Buch, wenn dann komplett?
Ganz, oder gar nicht. Es kommt gelegentlich vor, dass ich ein Buch weglege, aber ich lese ein Buch immer von der ersten bis zur letzten Seite, manche Passagen oft auch mehrmalig.

2. Schummelst Du und springst vor, um das Ende schneller zu erfahren?
Igitt, eine frevlerische Tat gegenüber den Schriftstellern, das mache ich nicht!!

3. Nutzt Du Lesezeichen (immer dasselbe/andere?) oder legst Du ein Buch offen auf die Nase?
Alles schon vorgekommen, ich habe sehr viele Lesezeichen, doch selten bei der Hand, so landen im Buch weitaus öfters Schokoladen-, Bonbonpapierchen oder ein Streifen aus der Zeitung.

4. Liest Du Taschenbücher einseitig, wie ein Magazin, indem Du das Cover komplett umklappst?!
Nein, das arme Taschenbuch will auch angemessen behandelt werden.

5. Liest Du lieber kurze oder lange Kapitel?
Das ist mir völlig egal. Merke bei der Frage gerade, dass ich Kapitel oft gar nicht wahrnehme.

6. Markierst Du? Mit Bleistift, Marker, Klebezettel, einfach die entsprechende Seite umknicken oder schreibst du lieber Stellen raus?
Ich mag Klebezettel in verschiedenen Farben, das Taschenbuch, hier muss ich es doch
eingestehen, das kriegt oft ein Eselsohr oder mehrere.

7. Schaust Du ältere Lektüre nochmal nach markierten Stellen durch?
Selten, weit häufiger ärgere ich mich darüber, eine Stelle nicht mehr zu finden, da ich eben wenig markiere.

8. Welches ist das (nichtwissenschaftliche) Buch, in dem Du am meisten markiert hast?
Erich Fromm: Die Kunst zu lieben.

9. Deine liebste markierte Stelle:
Die ist eben noch nicht markiert, die suche ich immer noch.

10. Benutzt Du einen eReader? Als Ergänzung zum Gedruckten – ausschließlich – gar nicht?
Ich liebe meinen eReader, ich vergesse tatsächlich schon mal, das ich ein Gerät in den Händen halte anstatt ein Buch. Ich kann so dem Platzmangel für die Bücher ein wenig entgegenwirken, aber es werden sich immer mehr Papierberge erheben um mich herum, als dass Seiten auf dem Reader gespeichert sind. Das Buch in der Hand, das ist Sinnlichkeit pur.

manu2014Manuela Hofstätter ist Buchhändlerin und betreibt den Literaturblog lesefieber.ch, der weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt ist. Stand heute sind dort sagenhafte 759 Rezensionen online!

can’t and won’t

Ich habe einfach kein Interesse daran, dieses Buch zu lesen. Ich hatte auch kein Interesse daran, das letzte, das ich zu lesen versuchte, zu lesen. Ich habe immer weniger Interesse daran, eines der Bücher zu lesen, die mir gehören, obwohl sie vermutlich einigermaßen gut sind.

Was ist das für ein Buch, das bisher so gänzlich übersehen und -hört wurde, geht es nur mir so? Oder kennen Sie Lydia Davis: Man Booker International Prize 2013, eine der originellsten Köpfe der amerikanischen Literatur (The New Yorker), Übersetzerin von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Flauberts Madame Bovary ins Englische, never heard of. Für solche Entdeckungen gibt es zum Glück die Hotlist (gesonderter Artikel folgt), auf der in diesem Jahr Kanns nicht und wills nicht von eben dieser Dame stand. Ich habe immer Interesse daran Bücher zu lesen, die vermutlich einigermaßen gut sind. Lydia Davis aber ist etwas ganz besonderes.

In Ich fühle mich ziemlich wohl, könnte mich aber ein wenig wohler fühlen führt Davis dem erst etwas verwirrten Leser und Erste-Welt-Menschen vor Augen, auf welch hohem Niveau er jammert. Der einfache Trick der Autorin mit großen Absätzen zwischen Wehklagen wie „Ich bin müde.“ oder „Dieses Pesto lässt sich nicht gut vermengen.“ lässt diese sacken, macht die Nichtigkeiten unserer Malaisen fast körperlich spürbar, wenn man sich nach fünf Seiten Kinderkram bewusst wird, wie gut es einem geht. Genervt blickt man von der Lektüre auf und schämt sich dann ein bisschen in sich hinein.

Lydia Davis spielt mit Alltagsbeobachtungen und -gefühlen. Schätzt das Alter der Leute, die im Zug an ihr vorbeigehen und wundert sich, sie transkribiert ihre Träume, schreibt Briefe Flauberts um und schmilzt manchmal eine Szene, eine kleine Geschichte in einen Satz ein. Dann schreibt sie humorvolle Briefe an einen Tiefkühlerbsenproduzenten oder erkundigt sich nach Preisen für Pfefferminzbonbons. Selbstverständlich finden sich in einer Sammlung von knapp 100 Geschichen auf 300 Seiten auch solche, die nicht zünden wollen. Die Methode Davis‘ ihre Erzählungen zum Teil auf die kleinste noch mitteilbare Form zu verkürzen, birgt vielmehr die Gefahr den Leser nicht zu erreichen, als eine detaillierte, doch die meisten Kurz- und Kürzestgeschichten funktionieren so gut, sind so harmonisch konstruiert, dass man begeistert immer mehr dieser Fetzen haben möchte.

Eine in Gedichtform gesetzte Spammail – oder soll es gar ein Liebesgedicht sein? – die Verzweiflung auf der Suche nach einem Buch, das die Lektüre wert ist (siehe oben und unten) oder die Reflexion über den Sinn des Schreibens. Nach mancher halben Seite fragte ich mich, wozu ich noch Romane lese, wenn diese Frau es schafft mit fünf Sätzen Welten zu entwerfen, Situationen zu schaffen und mich gleichzeitig zum Nachdenken bringen zu können. Aber man soll nicht so oft Genie sagen!

Die Bücher, von denen ich rede, sind angeblich einigermaßen gut, aber sie interessieren mich einfach nicht. In Wahrheit mögen sie um einiges besser sein als bestimmte andere Bücher, die mir gehören, aber manchmal interessieren mich die Bücher, die nicht so gut sind, mehr.

Dieses Buch ist großartig, bitte interessieren Sie sich dafür! Auch wenn sich der (zugegeben schwer zu übersetzende Originaltitel) nicht 1:1 ins Deutsche übertragen lässt und etwas an Zauber einbüßt: interessieren Sie sich nicht nur, lesen Sie Cant’t and won’t/Kanns nicht und wills nicht von Lyria Davis!